Kitabı oku: «Wie Satan starb », sayfa 15
»Wo ich mich nützlich machen und helfen kann.«
»Das kannst du von hier aus auch. Es gibt unzählige Vereine, in denen du dich tagsüber nützlich machen kannst, wenn du es durchaus willst; für arme Kinder und Waise; für Kranke, Krüppel und Blinde; Altersheime und Armenhäuser, wenn du glaubst, daß du dich in dem Milieu wohler fühlst als in unseren Louis XV. Salons unter sauber gewaschenen und gebildeten Menschen. – Du weißt, Papa ist nicht kleinlich und es kommt uns gottlob auch nicht auf ein paar tausend Mark mehr oder weniger im Jahre an.«
»Es kommt auf den Geist an,« erwiderte Margot, »nicht auf das Geben. Und es ist nicht jedermanns Sache, mit Rheinsalm und Poularden im Magen in der Volksküche zu stehen und Schleimsuppen an abgemagerte Kinder und Greise auszuteilen.«
»Du findest eben bei allem etwas dabei. Und suchst nur immer das Schlechte heraus,« erwiderte Frau Fanni.
»Mit derartigen Wohltätern der Menschheit werden wir die Welt nicht erlösen.«
»Hast du dir in den Kopf gesetzt, die Welt zu erlösen?« fragte Frau Fanni. »Hast du Größenwahn? – Und vor allem: wovon willst du sie erlösen? – Damit haben sich schon andre den Kopf verdreht und haben im Irrenhaus geendet.«
»Dafür besteht bei mir keine Gefahr,« erwiderte Margot.
»So haben alle gedacht und geredet,« sagte Frau Fanni.
»Das ist Sache des lieben Gotts. Davon laß du die Hände. Nicht einmal Christus ist das gelungen. Und der war doch wer.«
»Hätte man seine Lehre, statt aus ihr eine Religion zu machen und einen Wunderglauben daran zu knüpfen, dazu benutzt, das Gewissen der Welt zu wecken und ewig wach zu halten, hätte man, mit andern Worten, seine Lehre, statt sie ideologisch zu entwerten, praktisch verwertet und zum Weltgesetz erhoben, die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft hätte einen andern Verlauf genommen.«
Frau Fanni, die längst nicht mehr folgen konnte, sagte:
»Das alles beweist mir, daß du mit deinen Nerven arg herunter bist, Margot. Ein junges Mädchen in deiner gesellschaftlichen Position beschäftigt sich mit Theater, Sport und mit ihren Toiletten; aber nicht mit der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft und mit Weltgesetzen. Setz Kinder in die Welt und du hast für die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft genug getan. Heirate diesen Dr. Priester, der wird deine Nerven wieder in Reih und Glied bringen und dich von deinen kranken Gedanken heilen.«
»Denkst du wirklich noch immer an diese Verbindung?« fragte Margot.
»Mehr denn je,« erwiderte Frau Fanni. »Und zwar grade diese Unterredung mit dir beweist mir, daß du einen ernsten und gebildeten Menschen und Arzt brauchst, der dir dein Gleichgewicht wiedergibt, das du verloren hast.«
Margot erkannte, daß es hier keine Verständigung gab.
»Und wenn ich diesen Dr. Priester ablehne?« fragte sie, »was dann?«
»Dann bleibt gar nichts anderes übrig,« erwiderte Frau Fanni, »als dich in ein Sanatorium zu schicken und dich so lange darin zu lassen, bis du von deinen krankhaften Ideen geheilt und wieder die Alte bist.«
Nach dieser Eröffnung hatte Margot keine Wahl mehr und wußte, was sie zu tun hatte.
XXI
Peter und Lux ließen sich beim Direktor des Zuchthauses melden und wurden sofort vorgelassen. Sie trugen ihren Wunsch vor, und der Direktor erklärte sich bereit, obschon heute kein Besuchstag war, sie persönlich in die Zelle des Pedell Linke zu geleiten.
An einer endlosen Reihe von Zellen ging es vorüber. Peter, den das bedrückte, fragte hin und wieder, sobald der Kopf eines Sträflings sichtbar wurde, nach dessen Straftat und ihren näheren Umständen. Spürte man so den Gründen nach, so blieb auf Seiten des Täters in den meisten Fällen nur eine sehr verminderte Verantwortung bestehen. Immer waren die sozialen Verhältnisse zum mindesten mittelbarer Anlaß.
»Die Pechvögel,« nannte sie der Direktor, »die sich einfangen ließen. Die gefährlichsten Raubvögel fliegen draußen frei herum.«
Dabei wies er seitwärts auf einen kleinen Raum, der durch ein Gitter in zwei gleiche Hälften geteilt war. Auf der einen Seite stand gefesselt ein junger Mensch, der völlig gebrochen und mit glanzlosen Augen zu einer Greisin aufsah, die sich mit ihren verarbeiteten, knochigen Fingern außen an das Gitter klammerte und mit schwacher weinerlicher Stimme jammerte:
»Laß dich noch einmal streicheln, mein Sohn. Es ist das letzte Mal – ich fühle es.«
Der junge Mann in Sträflingstracht schmiegte sich eng an das Gitter an und die knochigen Finger der Frau tasteten durch die Stäbe hindurch sein Gesicht ab, das voller Tränen stand.
»Eigentlich ist das nicht erlaubt,« sagte ein Wärter, der dabei stand und sah zu dem Direktor hinüber.
»Laßt sie nur!« gab der zur Antwort. Und Peter, der erschüttert das Bild sah, fragte leise:
»Was hat der verbrochen?«
»Seinen Arbeitgeber erschlagen.
Peter wich unwillkürlich ein paar Schritte zurück. Wie paßte die Mordtat zu der Szene, die sich da abspielte?
Der Direktor, der Peter die Gedanken vom Gesicht las, sagte:
»Das heißt: im Affekt. Es ist immer dasselbe! Der Mann war draußen im Felde und ließ seine Frau mit vier kleinen Kindern zurück. Sie hat gearbeitet – aber du lieber Gott, satt wurden sie nicht. Satt wurde keiner! Das erste Jahr hielt sie sich; obschon der Arbeitgeber des Mannes schon damals der hübschen Frau nachstellte. Mit dem Hunger wich der Widerstand. Und schließlich – sie war jung und unerfahren – und so erlag sie. Die alte Geschichte! Dabei tat sie weiter ihre Arbeit und sorgte genau wie ehedem für die Kinder. Der Mann kam zurück. Er hing – nach den Verhandlungsberichten zu urteilen – mit ungewöhnlicher Liebe an Frau und Kindern. Die Frau, der das Gewissen keine Ruhe ließ, gestand. Der Mann wollte den Arbeitgeber zur Rede stellen. Der fertigte ihn höhnisch ab und kündigte ihm die Arbeit. Da packte den Aermsten die Wut und er ließ sich zu der Tat hinreißen. – Und das Resultat? Fünf Jahre Zuchthaus. Die Frau ging aus Scham und Kummer ins Wasser. Die Kinder sitzen irgendwo in einem Armenhaus. Er hier. Und die da, seine fast achtzigjährige Mutter, sucht durch die Gitterstäbe das Herz ihres Sohnes! So sehen die meisten Fälle hier aus!« fügte der Direktor seiner Erzählung hinzu. »Ich werfe keinen Stein auf sie.«
»Aber auf die, die es dahin kommen ließen,« erwiderte Peter. »Für die, die es befehlen, dulden und gutheißen, daß man Frauen und Männer auseinander reißt; derenwegen das Volk verhungert und immer neue Millionen in den Tod getrieben werden, für die sollte man diese Zellen hier freimachen.«
»Nun hier herum,« sagte der Direktor und wies auf eine schmale Gittertür. Peter und Lux mußten sich bücken. »Es ist eine der ganz wenigen Zellen, die Sonne haben,« sagte er. Der Wärter geleitete sie einen Gang entlang und schloß eine Tür auf, durch die man in einen schmalen, viereckigen Raum trat. Bis auf eine kleine Stelle, die unterhalb eines winzig kleinen, in unmittelbarer Nähe der Decke angebrachten, vergitterten Fensters war, lag der Raum im Dunkeln. An der erleuchteten Stelle stand ein kleiner, runder Tisch, an dem, den Rücken zur Wand, im Sträflingskleide der Pedell Linke saß. Er stützte den Kopf in die Hände und sah zu dem Fenster empor. Sein Gesicht lag ganz in der Sonne. Dunkle, glänzende Augen, die tief zu träumen schienen, ein eingefallenes, aschfahles, gelbes Gesicht und ein schmaler, feiner Mund, der unaufhörlich in Bewegung war. Er murmelte etwas vor sich hin, plötzlich stand er auf, streckte die Arme nach dem Fenster aus, als wolle er die Strahlen der Sonne greifen, und stieß, ekstatisch wie ein Gläubiger sein Gebet, die Sätze hervor:
»Ihr führt ins Leben uns hinein,
Ihr laßt den Armen schuldig werden,
Dann überlaßt ihr ihn der Pein,
Denn alle Schuld rächt sich auf Erden.«
Und abermals fragte sich Peter:
»Sieht so ein Verbrecher aus?« während Lux dachte:
»Sonderbar! Ein Pedell, der Goethe zitiert.«
Linke war aufgestanden. Es schien, als wenn ihn eine unsichtbare Macht emporhob; und wenn man ihn so, ganz seiner inneren Regung hingegeben, stehen sah, hatte man das Gefühl, als fielen die Strahlen der Sonne in sein Herz. Strahlenden Auges fuhr er fort:
»Ihm färbt der Morgensonne Licht
Den reinen Horizont mit Flammen;
Und über seinem schuld’gen Haupte bricht
Das schöne Bild der ganzen Welt zusammen.«
Er sah noch ein paar Augenblicke zu dem kleinen Fenster auf, dann ließ er die Arme fallen und sank in den Stuhl zurück. Er beugte den Kopf nach vorn, vergrub ihn in den blassen Händen, in denen die Adern wie Kirschsaft auf weißem Linnen lagen, und schluchzte laut auf.
»Sehen Sie nun, daß sein Geist gestört ist!« fragte der Direktor leise.
Peter erwiderte bestimmt:
»Nein!«
Linke wandte sich um; das Gesicht stand voller Tränen. Er sah den Direktor und stand auf.
»Was tun Sie?« fragte der Direktor.
Linke fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, griff schnell nach einem Stück Stoff, das auf dem Tisch lag und sagte:
»Ich arbeite Mützen, Herr Direktor.«
»Ich wollte wissen, wie es Ihnen geht. Ob Sie sich mit Ihrem Schicksal abgefunden haben.«
Die Frage hatte zur Folge, daß die Tränen sich überstürzten. Er wies auf die Tafel, die an der Wand hing und auf der in lakonischer Kürze unter dem Namen Linke die Zahlen standen: 1916 bis 1920.
»Sie sollen doch nicht immer die Tafel anstarren,« sagte der Direktor nicht übermäßig freundlich. »Sie wissen doch, wie das auf Sie wirkt.«
»Wo soll ich denn hinschauen?« fragte Linke unter Tränen.
Und verzweifelt fügte er hinzu: »Ich hab’ ja sonst nichts. Sie haben mir ja alles genommen.«
»Wer?« fragte der Direktor.
»Sie!« rief Linke und sah den Direktor zornig an, daß der unwillkürlich einen Schritt zurückwich.
»Ich? – Ihnen?« fragte der. »Was habe ich Ihnen denn genommen?«
»Sie wissen’s,« erwiderte Linke, senkte den Kopf und sagte traurig: »Die Briefe.«
»Ah so! Ja, mein Lieber, in Ihrem Interesse. Ich will, daß, wenn Sie diesmal hier herauskommen, es wirklich auch das letzte Mal gewesen ist. Dazu aber ist nötig, daß Sie endlich mal anfangen, praktisch zu denken und sich um sich kümmern, statt um andre. Die Menschen sind schlecht und nützen Sie aus.«
»Die Menschen sind gut,« erwiderte Linke. »Aber Ihr, Ihr habt sie schlecht gemacht.«
»Wodurch?« fragte der Direktor.
»Mit Euerm Geld.«
»Gewiß, ich gebe zu, daß das Geld viel Unglück anrichtet; daß es die Welt regiert. Aber damit muß man sich abfinden.«
»Nein!« erwiderte Linke. »Man muß dagegen kämpfen.«
»Und was, meinen Sie, sollte an die Stelle des Geldes treten?«
Linke sah ihn groß an und sagte dann mit starker Betonung:
»Das Herz.«
Peter griff unwillkürlich nach Lux’ Hand und flüsterte: »Hörst du’s?«
Der Direktor schüttelte mitleidig den Kopf und sagte zu Linke:
»Also noch immer halten Sie an diesem Glauben fest?«
»Ich werde nie etwas anderes glauben.«
»Wo Sie doch so trübe Erfahrungen gemacht haben.«
Linke schüttelte den Kopf.
»Oder«, sagte der Direkter, »haben Sie vergessen, daß es unglückliche Liebe war, die Sie auf die abschüssige Bahn getrieben hat?«
»Ich tue nichts Böses,« erwiderte Linke.
»Das Gesetz bestraft es.«
»Leider tut es das.«
»Und es ist Pflicht jedes rechtschaffenen Menschen, sich den Gesetzen unterzuordnen.«
»Es gibt etwas Höheres als das Gesetz.«
Nämlich?«
»Gott! – Ich fühle mich nur ihm verantwortlich.«
»Der Aermste,« flüsterte Lux; aber Peter starrte Linke an und sagte leise:
»Schweig!«
»Linke!« sagte der Direktor, trat auf ihn zu und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Sie büßen Ihr Mitleid mit andern nun bereits zum vierten Male mit dem Verlust Ihrer persönlichen Freiheit, diesmal sogar mit Zuchthaus. Sehen Sie denn noch immer nicht ein, daß man sich, nur um einem andern zu helfen, nicht an fremdem Eigentum vergreifen darf?«
»Wofür hat er die vier Jahre Zuchthaus bekommen?« fragte Lux.
»Haben Sie denn vergessen, weshalb Sie jetzt hier sitzen und Mützen fabrizieren müssen, statt draußen Ihrem Berufe nachzugehen?«
Linke schüttelte den Kopf und sagte:
»Das weiß ich genau.«
»Bereuen Sie’s?«
»Nein!«
»Linke!« schalt ihn der Direktor. »So sind Sie also wirklich unverbesserlich?«
»Ich mußte es tun.«
»Wer zwang Sie dazu?«
»Ich weiß es nicht! Das Gewissen. Das Gefühl. Das Mitleid.«
»Sie wußten, daß Sie gegen das Gesetz verstoßen?«
»Ich habe nicht darüber nachgedacht. Das Gefühl war stärker. Ich ging über die Weidendammer Brücke. Es war Nacht und eiskalt. Ich besaß keinen Ueberzieher und fror. Es war der letzte Tag im Monat. Mein Geld reichte kaum noch für einen Grog. Da sah ich unter dem Zaun des Neubaus am Weidenhof frierend eine Frau in Tücher gehüllt. Es gibt ihrer viele Tausend in Berlin. Aber, wenn sie den Vorübergehenden mit toter Stimme ›Streichhölzer!‹ anbieten, dann denkt niemand daran, was für einen Jammer dies Wort birgt. In dem Lärm der Autos, die mit geputzten Menschen vorüberrasen, hört man es kaum. Aber, wer dies Wort einmal mit dem Herzen gehört hat, so wie ich, der wird die Melodie nicht mehr los. Wenn ich so eine Frau oder so ein Kind auf hundert Meter Entfernung im größten Straßenlärm stehen sehe, dann klingt es ganz laut in mir: ›Streichhölzer!‹ – Dann packt mich Mitleid und Wut. Wie können Millionen Menschen in einem Konzert oder in einem Theater auch nur eine Minute Genuß oder Ruhe haben, solange auch nur eine einzige Mutter des Nachts auf der Straße steht und für ihre Kinder bettelt? Was begehen diese Millionen Menschen für ein Verbrechen im Vergleich zu mir, dem sich beim Anblick einer solchen Mutter das Herz zusammenkrampft? Ich hab’ nichts, ich kann ihr nicht helfen. Also, was soll ich tun? Etwas muß geschehen. Ich sehe einen eleganten Herrn im Pelz, am Arm eine Kokotte, die in Seide rauscht. Sie biegen in eine Seitenstraße. Ich ihnen nach. ›Geben Sie mir ein paar Mark für eine arme Frau‹ bitte ich und weise auf die Ecke, an der fröstelnd die Alte steht. Der Geck hebt leicht den Stock und schnauzt: ›Scheren Sie sich zum Teufel‹; die Kokotte hat die goldene Tasche geöffnet, wühlt darin herum und reicht mir fünf Pfennige! – Fünf Pfennige! – Sie haben bis vor einer halben Stunde für Hunderte von Mark Champagner getrunken, geht es mir durch den Kopf. Und die arme Frau stand die ganze Zeit über an der Ecke und fror. Für ihre Kinder. Die hungern. Ich sehe, wie die Kokotte das Geld sorgsam wieder in die Tasche tut. Ich greife zu und reiße ihr das letzte Stück – es waren fünf Mark! – aus der Hand. Sie schreit auf, der Geck erhebt seinen Stock, trifft mich noch hier am Kopf und ich laufe, was ich kann – wohl eine Stunde lang. Aber kein Mensch war mir gefolgt. Ich kehre um und laufe – immer in dem Gedanken, ob sie wohl noch dastehen wird, die arme Mutter, zur Weidendammer Brücke zurück. – Wahrhaftig! Da stand sie noch. Ich stürze auf sie zu und werfe ihr das Fünfmarkstück in den Korb. Ihr Auge leuchtet auf und sie ruft mir nach: ›Gott vergelt’s Ihnen, Herr!‹ – Aber ich kam nicht weit. Kaum fünf Schritte war ich gegangen, da packt mich ein Polizist und hält mich fest: ›Sie sind einer Dame, die in Begleitung eines Herrn war, vorhin in die Nebenstraße gefolgt und haben sie beraubt. Die Beschreibung, die mir der Herr von dem Straßenräuber gegeben hat, paßt genau auf Sie. Sie stecken mit dem Frauenzimmer da‹ – und dabei wies er auf die arme Frau – ›unter einer Decke und arbeiten Hand in Hand. Sie haben es dem Herrn selbst gesagt.‹ – Ich kläre den Sachverhalt auf: weder der Polizist, noch später der Richter glaubt mir. Der Herr im Frack, der ein höherer Regierungsbeamter war, schwört, und das Ende? Für mich vier Jahre Zuchthaus. Was liegt daran? Aber die Frau, die arme Frau! – und darüber verliere ich den Verstand – man glaubt ihr so wenig wie mir, man läßt sich auch nicht erweichen, weil sie zu Haus drei kleine Kinder und den Mann im Kriege hat – der Regierungsbeamte schwört und verlangt sein Recht, und die arme Frau, die Mutter, die mich nicht kannte, von nichts wußte, mich nie gesehen hatte, steckt man als Mittäterin drei Monate ins Gefängnis. – Und da verlangen Sie, Herr Direktor, daß ich aus Achtung vor dem Gesetz, das das zustande bringt und duldet – nicht einmal, nein tausendmal, wenn auch in Variationen! – ein anderer Mensch werde! Was für einer? Bitte! Reden Sie! Ich weiß es nicht, Sie müssen es mir sagen. Ich lerne gern. Aber erst schaffen Sie Gesetze gegen die Verbrechen des Staates! Ein hungriges Kind, eine bettelnde Mutter, ein frierender Greis sind staatliche Verbrechen, die ich, habe ich erst meine Freiheit wieder, auch weiterhin bekämpfen werde.«
»Aber doch nicht auf die Art!« erwiderte der Direktor.
»Mir steht keine andre zu Gebote. Denn ich bin weder Minister noch Millionär. Jeder muß dem Unrecht auf seine Weise wehren und den Armen und Unterdrückten helfen, so gut er kann.«
»Aber er darf sich damit nicht außerhalb des Rechts stellen.«
»Ich sagte schon, es gibt ein höheres Recht. Und hier, in diesem Falle, ist, was Sie Recht nennen, schreiendes Unrecht.«
»Ich gebe zu, daß Ethik und Gesetz sich nicht immer decken.«
»Sie sollten’s aber, und sie könnten’s auch. Wenn mir, der ich ja doch selbst nichts habe und aus eigener Kraft nicht helfen kann, das Elend unterdrückter Menschen entgegenschreit, so habe ich nur den einen Gedanken: Hilf! ohne einem anderen zu schaden.«
»Sie schaden aber.«
»Nein! Das tat ich nie! – Ich stürze in ein elegantes Restaurant, in dem dekolletierte Damen und befrackte Herren beim Champagner sitzen und reiße die erste beste Schüssel vom Tisch, stürze damit davon und mache, ohne den verblüfften Reichen damit mehr als einen gelinden Schrecken einzujagen, eine Mutter und ein paar Kinder glücklich. Ich habe es meist schwer büßen müssen. Aber ich litt nicht; denn mir sagt mein Gewissen: ich handelte recht! Einmal, ein einziges Mal, begegnete ich unter den Reichen einem Gerechten! Der schrie nicht: Haltet den Dieb! Der nahm mich unter den Arm und ging mit mir! ›Wo sind Ihre Armen?‹ fragte er mich. Ich hatte ihm aus seinem Portemonnaie, das vor ihm auf dem Tisch lag, zwanzig Mark entwendet, um sie einer Mutter, deren einziges Kind auf den Tod lag, für Medikamente zu bringen. Der Reiche hätte nur an der Klingel zu rühren brauchen, und ich, die Mutter und das Kind waren verloren. Aber er sah mir in die Augen, schüttelte den Kopf und – tat es nicht. Ich führte ihn zu der Kranken. Er überzeugte sich, ließ einen Arzt kommen, sie gesund pflegen, besuchte sie alle Tage, und als sie dank seiner Güte wieder bei Kräften war, sorgte er dafür, daß sie etwas lernte. Und nun, nun« – fuhr Linke, Tränen der Rührung in den Augen, fort – »hat sie ein eigenes Geschäft, ernährt sich und die alte Mutter, ist glücklich und tauscht mit niemandem. – So leicht ist es,« endete Linke mit verändertem Tonfall seine Erzählung, »Unglück in Glück zu wandeln. – Wenn das die Reichen bedächten!«
Eine Zeitlang schwiegen alle. Dann fragte Peter, der im Dunkeln hinter dem Direktor stand:
»Und warum haben Sie sich von dann an nicht immer, wenn Sie auf Unrecht und Unglück stießen, an diesen guten Menschen gewandt?«
Linkes Augen leuchteten.
»Ich habe es getan!« erwiderte er. »Und vielen, unendlich vielen geholfen. Nicht nur mit Geld half er; was mehr war: auch mit dem Herzen. Der Mensch ist gut und leicht zu leiten. Mit Güte! Nicht mit dem Ton des Kasernenhofes.«
»Also!« sagte der Direktor. »Warum dann Ihre neuen Verstöße, derenwegen Sie nun hier sitzen müssen.«
Linke schloß die Augen und sagte:
»Er ist gestorben. Als ich ihn das erstemal sah, war er schon ein alter Mann und hatte viel, unendlich viel Gutes getan. Er hat, wie unzähligen andern, auch mir eine Summe hinterlassen. ›Arbeiten und anderen helfen, ist unsere Aufgabe auf Erden‹, hatte er auf einen Bogen geschrieben, der dem Gelde beilag. Ich habe keinen Pfennig für mich, ich habe alles für Arme verwandt.«
»Wer war der seltene Wohltäter?« fragte Peter; und mit einer Stimme, als wollte er, daß sich der Name unvergänglich in ihre Herzen präge, nannte Linke den Namen dessen, dem dies Buch gehört.
»Sie werden einen anderen finden.« sagte Peter und dachte dabei an sich.
Linke wandte sich, zum ersten Male, an Peter. Aber da er im Dunkeln stand und von dem Direktor halb bedeckt war, so erkannte er ihn nicht. Auch schien er mit seinen Gedanken wo anders. Er richtete sich auf und sagte:
»Ich habe einen anderen gefunden!«
»Aber Linke,« erwiderte der Direktor ungläubig. »Sie glauben doch nicht im Ernst . . .«
»Ich weiß es!« fiel ihm Linke ins Wort. »Ich fühle es!«
»Ihr Gefühl täuscht Sie. Reden Sie sich da nicht hinein, sonst erleben Sie von neuem eine Enttäuschung. Der Schreiber der Briefe, die ich in Ihrem Interesse für Sie bewahre, um Sie vor einer fixen Idee zu schützen, macht an Ihnen psychologische Studien oder gehört zu jener Klasse weit verbreiteter Amateure, die gewissermaßen aus Sport oder aus einer perversen Veranlagung heraus Beziehungen mit Verbre . . . . mit Leuten«, verbesserte er schnell, »herstellen, die im Zuchthause sitzen.«
»Diese nicht!« erwiderte Linke mit dem Ausdruck voller Ueberzeugung.
»Sie glauben doch nicht im Ernste, daß die Frau Sie liebt.«
Linke machte ein wehleidiges Gesicht und sagte:
»Mich? – Wer sollte mich wohl lieben? – So wie Sie denken, freilich nicht. Aber sie ist gut. Sie liebt die Menschen.«
»Sie spielt mit Ihnen.«
»Nein!« widersprach Linke heftig.
»Es ist ein Unglück für Sie, Linke, wenn Sie sich da in etwas hineinreden und nachher enttäuscht werden; das bringt Sie um Ihren letzten Halt.«
Ungläubig schüttelte Linke den Kopf.
»Denken Sie an das, was ich Ihnen jetzt sage. Am selben Tage, an dem Sie wieder ein freier Mann, und hoffentlich für immer, sind, wird diese Frau für Sie unerreichbar sein.«
»Wenn das wäre!« erwiderte Linke und brach ab.
»Was wäre dann?« fragte der Direktor.
Linke richtete sich auf und sagte mit starker Betonung: »Dann möchte ich bis an mein Lebensende hier in diesen vier Wänden sitzen.«
»Linke!« rief der Direktor entsetzt; und Peter, erschüttert, trat auf ihn zu, sah ihm in die Augen und sagte:
»So haben Sie die Aenne also vergessen?«
Linke erkannte Peter. Aber er war weder erstaunt, noch entsetzt; auch stürzte er sich nicht, wie Peter wohl erwartete, auf ihn, um sich und Aenne und seine Liebe zu rächen. Er sah Peter fest in die Augen und sagte ruhig:
»Sie sind zurück, Herr von Reinhart?« – Peter nickte. – »Wie anders sehen Sie aus.« – Dann reichte er ihm die Hand, die Peter gerührt ergriff.
»Sie hassen mich nicht?« fragte Peter.
Linke schüttelte den Kopf und sagte:
»Nein! – Nicht mehr! – Damals, als Ihre Leute die arme Aenne zu Tode hetzten, da stand ich an ihrem Grabe und leistete den Eid, ihren Tod zu rächen.«
»Und nun?« fragte Peter. »Bleibt das Verbrechen ungesühnt?«
Linke schüttelte den Kopf und sagte:
»Es wird gesühnt.«
»Durch wen?«
»Durch sie.«
»Wer ist sie?«
»Die Liebe, die Güte, das Weltgewissen.«
»Ist sie ein lebendes Wesen – oder nur so ein Gedanke, ein Wunsch, eine Hoffnung?«
»Sie ist die Liebe! – Also lebt sie.«
»Und die Liebe setzen Sie an die Stelle der Rache?«
»Die Rache fügt zu einer schlechten Tat eine neue. Aber die Liebe wandelt auch das Schlechte in Gutes.«
»Daran glauben auch Sie?«
»Daran sollten wir alle glauben.«
»Und so haben Sie immer gedacht? Wie glücklich wäre die Aenne mit Ihnen geworden.«
Linke schüttelte den Kopf.
»Alles das begreife ich jetzt erst. Anfangs, als Ihre Schwäger die Aenne erniedrigten und quälten und in den Tod trieben – Haß habe ich eigentlich nie empfunden, aber Mitleid mit uns Unterdrückten, die wir den Reichen und Großen so erbarmungslos ausgeliefert waren. Daraus hätte sich allmählich und je mehr ich an die arme Aenne dachte, wohl Haß entwickeln können. Aber die Liebe ist ja doch in uns allen. Und eines Menschen Liebe endet ja nicht mit dem Tode. Sie lebt und wirkt fort. So hat sie in uns allen Gutes gewirkt. Auch in Ihnen, ohne daß Sie es wissen. Und Sie wieder haben andre damit erfüllt, von denen jeder die Liebe weiter unter die Menschen trägt.«
Peter begriff jedes Wort, während Lux sich an den Direktor wandte und ihm zuflüsterte:
»Ein ziemlich hoffnungsloser Fall.«
»Durchaus verworren. Jedenfalls gehört er in eine Heilanstalt und nicht ins Zuchthaus.«
»Unter die Menschen muß er,« erwiderte Peter, der gut hören konnte, »und ihnen so lange die Liebe predigen, bis sie ihn verstehen.«
Der Direktor machte ein verdutztes Gesicht und sagte:
»Dann scheint es mir doch an der Zeit, daß wir weitergehn.«
Peter gab Linke die Hand.
»Wir wollen uns in Erinnerung an Aenne zusammenschließen und Freunde sein.«
Linke erwiderte den Händedruck, sah Peter an und sagte: »Sein Sie gut!«
»Ich will mein Lebtag nichts weiter tun.«
»Und bleiben Sie sich treu. Auch wenn Sie im Kampf für das Gute mit den Gesetzen in Konflikt geraten. Das gute Werk wirkt und dringt durch die stärksten Zuchthausmauern, die die Menschen dagegen errichten.«
»Sie werden frei sein, Linke,« versprach ihm Peter.
»Dann aber müssen Sie die ganze Kraft Ihrer Ueberzeugung darauf verwenden, die Menschen so weit zu bekehren, daß sie andere Gesetze schaffen, Gesetze, die nicht von der Angst der Besitzenden vor den Unterdrückten diktiert werden, sondern von der Liebe.«
Lux und der Direktor standen dabei und schüttelten den Kopf.
»Ist Herr von Reinhart immer so?« fragte der Direktor leise.
»Er hat so seine eigenen Gedanken,« erwiderte Lux. »Alles verstehe ich ja nicht. Aber vieles, was mir eingegangen ist und worüber ich nachgedacht habe, das hat doch wohl Sinn und Berechtigung.«
»Gewiß! Gewiß! Ich gebe das zu! Es gibt nichts Vollendetes. Aber man soll die Ordnung nicht stören. Das muß oberstes Gesetz bleiben.«
Peter hatte die letzten Worte gehört.
»Die Ordnung nicht, Herr Direktor. Aber die fette Bourgeoisie, die darf man wohl schon mal aus dem Schlaf rütteln. Bei der kehrt, wenn man ihr die Augen öffnet, am Ende doch das Bewußtsein wieder; während es gegen die stupide Gewalt und den Hochmut des Militarismus nur das Mittel der Gewalt gibt.«
Sie hatten die Zelle verlassen und gingen den schmalen Gang entlang, der an dem Besuchsraum vorbei in das eigentliche Zuchthaus führte.
»Dieser Linke steht auf einem geistigen Niveau,« sagte Lux, »das für einen Mann in seiner sozialen Stellung doch recht ungewöhnlich ist.«
»Er stammt aus einer guten Familie,« erwiderte der Direktor, »und wollte Lehrer werden. Der Vater, ein gutmütiger Mensch, geriet Gaunern in die Hände und verlor sein Geld. Starke Nerven scheinen sie alle nicht zu haben. Der Alte klappte jedenfalls zusammen und der Sohn mußte Eltern und Schwester ernähren. Eine unglückliche Liebe zu der Tochter eines Oberpedells brachte auch ihn aus dem Geleise. Da mag’s jetzt gut ausschauen bei den Leuten. – Jedenfalls ihn« – und dabei wies er zurück auf die Zelle, in der Linke saß – »halte ich für geistig anormal und glaube, daß er für die bürgerliche Gesellschaft verloren ist.«
»Ich halte ihn weder für anormal, noch glaube ich, daß er für die Gesellschaft verloren ist,« erwiderte Peter. »Im Gegenteil! Die Gesellschaft, soweit sie aus guten und verbesserungsfähigen Menschen besteht, braucht Menschen wie ihn, wenn sie nicht untergehen soll.«
»Sie wollen damit doch nicht etwa sagen, daß Sie mit diesem Menschen geistige Berührungspunkte haben.«
»Geistige vielleicht nicht. Aber, was mehr bedeutet, seelische.«
»Dann sind Sie ein Phantast.«
»So nennt man nur zu oft Menschen mit Herz. Aber die Zeit wird lehren, daß, was heute als Phantom erscheint, morgen schon Wirklichkeit ist. Und wenn die Menschlichkeit sich nicht sehr bald auf sich selbst besinnt und ihr Herz entdeckt, dann wird sie eines Tages ihr Wunder erleben.«
Sie waren wieder im Zimmer des Direktors angelangt.
»Wollen Sie sich dieses Menschen also wirklich annehmen?« fragte der Direktor.
»Ich wende mich noch heute an den mir bekannten Justizminister, um seine Freilassung zu erwirken. Darf ich dazu einen Blick in die Akten tun?«
»Mit Vergnügen,« erwiderte der Direktor und ließ durch einen Diener die Strafakten Linkes bringen.
»Sind die Briefe dabei, von denen Sie mit ihm sprachen?« fragte Peter.
»Gewiß. Wenn ich nicht irre, so liegen sie obenauf.«
Peter öffnete den Deckel und entnahm aus einem größeren Kuvert, auf dem stand: »Briefwechsel mit Frl. M. X. Postamt 10« einen Stoß von etwa fünfundzwanzig Briefen.
Als er die Handschrift sah, fuhr er leicht zusammen, obschon ihm bereits in der Zelle bei dem kurzen Gespräch zwischen Linke und dem Direktor der Gedanke blitzartig durch den Kopf geschossen war. Willkürlich griff er einen Brief heraus und las:
»Mein lieber, guter Freund!
Wie wir uns nun verstehen. Im Grunde unseres Herzens stimmten wir in unserem Glauben an das Gute im Menschen ja vom ersten Tage an zusammen. Nur in der Art, in der wir unsere Gefühle in die Tat umzusetzen suchten, gingen wir auseinander. Sie überschätzen die Wirkung des Spirituellen, während ich mehr durch positives Handeln auf das Herz der Menschen einzuwirken suchte. Die Wahrheit liegt, wie in allem, wohl auch hier in der Mitte. Aber Sie geben nun jedenfalls zu, daß wir, um gerecht zu sein, immer erst den Haß überwinden müssen. Ja, Sie schämen sich nun sogar, je mit anderen als brüderlichen Gefühlen an Peter von Reinhart gedacht zu haben. Die Liebe zu dem gleichen Wesen, das nicht mehr am Leben ist, verband Sie. Mußte es da in Ihrem und seinem Innern nicht gleiche Töne geben? Ich habe Ihnen Peter von Reinharts Herz enthüllt, und Sie haben Tränen der Rührung geweint, bester Freund. – Sie schreiben es selbst – als ich erzählte, wie er unter der Peitsche schwarzer Franzosen litt und dabei nur Mitleid für die empfand, die gleich ihm gequält und gemartert wurden. Sie erkannten, wieviel der Einzelne vermag, wenn sein Gefühl, wie das Peter von Reinharts, die Herzen traf. Sie alle ertrugen ihr Martyrium, weil sie wußten: einer war, der litt wie sie und dachte doch nicht an sich, sondern fühlte mit ihnen. Da ging es Ihnen ein, bester Freund, daß das der Weg war, die Welt zu retten; die Menschen dahin zu führen, daß einer für alle und alle für einen fühlten. So haben Sie den, der Ihnen als Ihr ärgster Feind erschien, nun lieben gelernt. Noch näher sind Sie mir dadurch gekommen.
Und so darf ich Sie denn heute bitten, mich um Ihre Eltern kümmern zu dürfen, an denen Sie in so rührender Liebe hängen. Ich habe alle Achtung vor der Scham der Armen. Und so werde ich nicht als Ihr Wohltäter an sie herantreten, sondern als Ihr Freund und Bruder, der ich von nun an für alle Zeiten zu bleiben hoffe. Ihre
>Margot X.«
Sie lesen aber gründlich,« sagte der Direktor.