Kitabı oku: «Die Umrundung des Nordpols», sayfa 2

Yazı tipi:

Der Nördliche Seeweg ist innerhalb eines Jahrzehnts zur völligen Bedeutungslosigkeit verkommen und weitgehend in Vergessenheit geraten.

Dagmar

Aaen

HAMBURG

53° 33‘ N; 9° 59‘ E


01




Schiffe haben ihre Schicksale, sie greifen auch in andere Schicksale ein. Es laufen feine Zauberfäden zwischen der Beschaffenheit eines Schiffes und der menschlichen Seele.

NIELS BACH

Eine Expedition ins Polarmeer stellt besondere Anforderungen an Schiff und Material – an die Crew ohnehin. Man mag über das Für und Wider eines 71 Jahre alten gaffelgetakelten Holzkutters für derartige Zwecke unterschiedlicher Auffassung sein. Aber all die Skeptiker, Kritiker und Besserwisser, die zu Beginn unserer ersten Polarfahrt im Jahre 1991 hämisch anmerkten, dass dieser alte Kahn spätestens vor Helgoland auseinander fallen würde, sind längst verstummt. Sie sind eines Besseren belehrt worden und das offenbar in sehr nachhaltiger Form. Die DAGMAR AAEN mag zwar alt sein – aber sie ist kein Stückchen müde. Dafür habe ich im Laufe der Jahre gesorgt.

Es gibt auf der ganzen Welt wohl kein anderes Segelschiff – ob alt oder jung –, das die polaren Routen so umfassend bereist hat wie die DAGMAR AAEN. Sie hat dreimal bei Temperaturen von bis zu −58 °C im Polareis überwintert. Jede der Überwinterungen dauerte neun Monate. Und trotzdem lief alles geregelt und ohne irgendwelche Katastrophen ab. Sie ist mehrfach um Kap Hoorn gesegelt, war im Rahmen der Shackleton-Expedition in der Antarktis, hat als erste und bislang einzige Yacht Franz-Josef-Land erreicht und auf diese Art und Weise in den letzten 30 Jahren rund 150.000 Seemeilen zurückgelegt. Sie hat sowohl in der Nordwestpassage wie auch in der Nordostpassage schwerste Eispressungen überstanden, bei denen sogar ein russischer Eisbrecher leckgeschlagen ist. Sie ist ein Arbeitsschiff – ist es immer gewesen – doch im Vergleich zu einer modernen Yacht segelt sie langsam und natürlich auch nicht so hoch am Wind. Aber wir segeln ja auch keine Regatta.

Die Nordostpassage mit einem Segelschiff zu durchqueren, mag manch einem als Anachronismus anmuten. Ob es sich dabei um eine moderne Yacht oder ein klassisches Holzschiff handelt, vermag daran nichts zu ändern. Eine moderne, entsprechend solide gebaute Yacht wird sicher das Gleiche leisten – aber auch nicht mehr. Wir haben einfach Spaß an diesem Schiff. Wir leisten das Mehr an Arbeit gerne, auch wenn wir bei schwerem Wetter über das schwere und unhandliche Großsegel fluchen – wir finden es trotzdem toll. Wir stehen bei Wind und Wetter ungeschützt an Deck, ducken uns vor überkommenden Seen und lachen grimmig in uns hinein, wenn das schlechte Wetter überstanden ist. Die DAGMAR AAEN ist für uns nicht einfach nur ein Vehikel, sie ist eine gute Freundin geworden, ein Identifikationsobjekt, mit dem wir sehr sorgsam umgehen.

Vor jeder neuen Reise durchläuft sie die Werft von Christian Jonsson in Egernsund in Dänemark. Christian kennt das Schiff schon länger als ich selbst. Bereits der Voreigner Niels Bach hatte das Schiff von Christian – damals noch auf einer anderen Werft – warten lassen. Keine Ecke, kein Spant, keine Planke, die von Christian nicht persönlich inspiziert worden ist. Ich verlasse mich zu 100 Prozent auf ihn.

Das Großsegel hat allein eine Fläche von 100 m2, und der Baum mit seinen 12 Metern Länge wiegt gut und gern an die 500 kg. Unter Segeln sieht die DAGMAR AAEN grandios aus.

Im Grunde genommen war das Schiff nach diesjährigen Winterarbeiten fast wie neu. Ein Holzschiff wird im Laufe der Jahre immer wieder runderneuert. Insofern relativiert sich das Alter von 71 Jahren. Wenn man heute über das Deck der DAGMAR AAEN blickt, sind das Maschinenraumskylight und das Steuerrad die einzigen Teile, die noch aus der Zeit meines Voreigners stammen. Alles andere, einschließlich Relingstützen, Deck, Aufbauten und Schanz sind im Laufe der Jahre erneuert worden.

Parallel zu den Umbauten liefen die Vorbereitungen auf Hochtouren. In Zusammenarbeit mit der Deutschen Rettungsflugwacht – kurz DRF genannt – wurden wir von dem Rettungssanitäter Christian Müller-Ramcke in Seminaren für den Ernstfall vorbereitet. Dort wo wir segeln würden, gibt es keinen Notarzt. Wie sinnvoll solche Schulungen in Verbindung mit einer gut ausgestatteten Bordapotheke sind, sollten wir später leidvoll erfahren.

Mittlerweile stapelten sich Berge an Ausrüstung in meiner Halle, die ich eigens für derartige Zwecke eingerichtet habe. Folker Schultheiss stellte wie bei unseren früheren Reisen wiederum seine gefriergetrockneten Trekkingmahlzeiten zusammen. Er ist Spezialist auf diesem Gebiet und berät nicht nur uns, sondern war unter anderem auch Ausrüster des erfolgreichen Illbruck-Teams bei dem Volvo Ocean Race. Obwohl wir dieses Spiel schon so viele Jahre spielen, waren wir auch dieses Mal und immer wieder überrascht, welche Mengen an Nahrungsmitteln zusammenkommen. Elise Fleer hatte die Aufgabe des Smuts übernommen und war fortan damit beschäftigt, Portionen zu verpacken, Staupläne zu zeichnen und Tagesrationen zusammenzustellen.

Als Sponsoren konnten wir Jack Wolfskin und Globetrotter-Ausrüstungen gewinnen. In beiden Fällen findet eine Zusammenarbeit ihre Fortsetzung, die in der Vergangenheit bei früheren Expeditionen schon erfolgreich umgesetzt wurde. Last but not least fanden wir einen Medienpartner, wie er für so ein Projekt geeigneter nicht hätte sein können: das National Geographic Magazin.

National Geographic hat nicht nur eine 115-jährige Expeditionstradition, es stellt zugleich auch von allen Magazinen die höchsten Ansprüche an die Fotografen. Torsten Heller, der wie schon in den letzten Jahren die Expedition fotografisch einfangen würde, sah sich einer echten Herausforderung gegenüber.

Damit waren die Rahmenbedingungen des Projektes definiert, Aufgaben und Zuständigkeiten delegiert und Verantwortlichkeiten in gut erkennbaren Strukturen niedergelegt.

Die Vorbereitung einer solch komplexen Expedition ist nichts anderes als Projektmanagement. Die Vorstellung, dass sich ein paar gleichgesinnte Abenteurer zusammensetzen und bei einem Glas Bier den Beschluss fassen, »mal eben durch die Nordostpassage« zu segeln, hat mit der Realität nicht das Geringste zu tun. Der Aufbau eines Teams, das über Monate hinweg auf extrem beengtem Raum und unter spartanischen Lebensbedingungen leben und funktionieren muss, erfordert eine äußerst sorgfältige Personenauswahl. Dass jemand gut segeln kann, reicht bei weitem nicht aus.

»Das Großsegel hat allein eine Fläche von 100 m2, und der Baum mit seinen 12 Metern Länge wiegt gut und gern an die 500 kg. Unter Segeln sieht die DAGMAR AAEN grandios aus.«

Jedes Crewmitglied muss teamfähig sein, die Bereitschaft mitbringen, sich auf seine Mitsegler einzustellen, tolerant gegenüber anderen sein, ohne sich selbst dabei zu vernachlässigen. Daneben muss das Projekt finanziert, die Medienverwertung geregelt werden, Genehmigungen von den Behörden eingeholt und die gesamte Logistik erstellt werden. Ich mache das alles keineswegs allein, sondern habe ein engagiertes Team zur Seite, das entsprechend den Zuständigkeiten Probleme löst. Es ist ein Bürojob, der alles andere als abenteuerlich ist. Vor dem eigentlichen Start einer Expedition kulminiert die Arbeit. Lediglich unsere Routine hilft mir dabei, ein drohendes Chaos abzuwenden.

Als das Schiff Ende Mai in Kiel am Tiessen-Kai liegt, um ausgerüstet zu werden, sind wir nicht das einzige Schiff dort. Ein großer Teil der holländischen Charterflotte, fast alles größere Schiffe als die DAGMAR AAEN, lag eng an eng im Päckchen an der Pier. Als der Lkw mit unserer Ausrüstung vorfuhr und wir begannen, Kisten und Kartons zu leeren, um sie an Bord zu verstauen, brach schallendes Gelächter bei den holländischen Crews aus. »Das wollt ihr alles auf dem Schiff unterbringen? No way!« Tatsächlich sah es so aus, als würden Proviant und Ausrüstung schwerlich auf ein doppelt so großes Schiff passen. Ich verströmte Zweckoptimismus, schließlich stand ich nicht zum ersten Mal vor einer Lkw-Ladung Ausrüstung und sagte nur: »Wartet bis heute Abend, dann wird alles verstaut sein!« Elise sei Dank, die mit Stauplänen auf einem Klippboard an Deck stand und jeder Tüte, jeder Dose und jedem Karton einen Bestimmungsort zuwies: Am Abend erfüllte sich meine Prophezeiung. Als der Lkw mit leeren Kisten beladen abfuhr, sah das Deck so ordentlich aus, als wäre nichts geschehen. Das Schiff lag lediglich etwas tiefer im Wasser. Ersatzteile, Werkzeuge, Proviant und Ausrüstung für die nächsten Monate hatten ihren Platz auf der DAGMAR AAEN gefunden und die Holländer blickten mehr als verwundert drein.

Am nächsten Tag ging es durch den Kanal nach Brunsbüttel und von dort weiter nach Hamburg. Am 28. Mai luden wir zur Pressekonferenz auf dem feuerschiff ein, danach setzen wir vor der Kehrwiederspitze die Segel und liefen langsam mit Maschine und Segel die Elbe abwärts. Eine Barkasse und ein gecharterter Ewer, beladen mit Journalisten und Freunden, begleiteten uns ein Stück, dann drehten sie ab – wir waren wieder allein.

Die erste Etappe war nur kurz. Sie endet in Glückstadt, wo ich das Schiff schweren Herzens verlassen muss, da mein Besuch bei der Verwaltung in Moskau genau in diesen Zeitraum fällt. Statt meiner würde Martin Friederichs das Schiff als Skipper bis nach Tromsø führen. Für Martin keine neue Aufgabe. Er hat die DAGMAR AAEN schon monatelang geführt und ich habe vollstes Vertrauen zu ihm. Dennoch zerreißt es mich ein wenig. Nach der ganzen Arbeit möchte ich von Anfang an dabei sein. Irgendwie fühle ich mich nicht wohl. So weit war es schon gekommen – ich plane, delegiere und organisiere – und dann geht es ohne mich los. Aber meine Aufgabe beschränkt sich eben nicht darauf, die Expedition unterwegs zu leiten – das würde noch kommen –, sondern ich muss das gesamte Gefüge zu Lande wie zu Wasser auf ein solides Fundament stellen. In vier Wochen würde ich in Tromsø an Bord gehen und dann ist alles wieder beim Alten.

Im heimischen Revier. Die DAGMAR AAEN während einer Ausbildungsreise für die Crew vor den Kreidefelsen von Rügen.

Das Steuerrad versieht seinen Dienst ununterbrochen seit 1931. Wenn Steuerräder erzählen könnten …

Die Steuerbordseite der DAGMAR AAEN ist fast vollständig mit sechs Zentimeter dicker Eiche neu beplankt. Die Spanten sind noch original von 1931.

Die DAGMAR AAEN während ihrer neunmonatigen Überwinterung im Scoresbysund, Grönland.

Unmengen an Nahrungsmitteln müssen an Bord verstaut werden. Elise zeichnet Staupläne und gibt Anweisungen, wo die Dinge verstaut werden. Ohne diese sorgfältige Planung würde man schon nach kürzester Zeit den Überblick verlieren.

Uschi Latus und Ute Künstler von der Firma NAVCON stellen im Frühjahr 2001 den neuen Mast der DAGMAR AAEN. Auch Till und Katja helfen mit. Die ganze Crew hat angepackt – trotz winterlicher Temperaturen und Sturmböen.


INFORMATION DAGMAR AAEN in Zahlen und Fakten

RUFZEICHEN

DIXX

BAUJAHR

1931

BAUWERFT

N.P. Jensen Werft in Esbjerg, Dänemark

BAUMATERIAL

6 cm Eichenplanken auf Eichenspanten für die Eisfahrt zusätzlich gedoppelte Spanten mit Innenbeplankung, Eishaut aus bis zu 6 mm Aluminium, Steven und Kiel mit bis zu 3 cm Stahl verstärkt

DECK

Oregon Pine

MAST UND STENGE

22 m Gesamthöhe, Douglasie

LÄNGE Ü. A. 23,90 m

RUMPFLÄNGE 17,95 m

BREITE 4,80 m

TIEFE 2,50 m

SEGELFLÄCHE

220 m2

SEGEL

1 Großsegel mit drei Reffreihen

Vorsegel: Sturmfock, Fock Nr. 1, Fock Nr. 2

Klüver, Ballonklüver, Flieger, Topsegel, Trysegel

SEGELMATERIAL

Dacron

MASCHINE

Callesen Diesel Typ 425 CO, 3 Zylind er 4 Takt, 180 PS bei 500 U/min auf zweiflügligen Verstellerpropeller

HILFSDIESEL

12 kW Dieselgenerator 230/380 V, Fischer Panda

TANKKAPAZITÄT

4.500 L Diesel verteilt auf 5 Tanks zzgl. Tagestank

Frischwasser: 450 l verteilt auf zwei Tanks

1 Wassermacher Katadyn

Modell MROD-160 E 25 Liter/Std.

NAVIGATION

Radar Furuno FR 8062 mit AIS

Interface IF-1500

AIS SAAB R4 Class A Transponder

GPS GP-150

GPS Satelliten Kompass SC-50

Echaolot FCV-667

Navtex Fastnet Radio

Wetterfax Furuno F-408

Transas Elektronische Seekarte

KOMMUNIKATION

komplett Thrane & Thrane:

Inmarsat C TT-3606 Message Terminal mit Drucker und Alarm Panel

FBB Fleet Broadband Sailor 500/250

Iridium Sailor SC 4000

SSB/HF Sailor System 5000MF/HF 150 W

VHF (zwei Geräte) Sailor RT 5022

VHF GmdSS Handheld Sailor SP 3520

SICHERHEIT

eine Rettungsinsel 12 Personen

DSB LR 86 – Solas 86

14 Rettungswesten

Secumar Survival 150 mit Sprayhood

EPIRB Sailor SE 406 II

SART II Transponder Sailor



Eine


Reise nach


Norwegen

BERGEN

60° 23‘ N; 5° 19‘ E


ÅLESUND

62° 28‘ N; 6° 8‘ E


TROMSØ

69° 38‘ N; 18° 57‘ E


VARDØ

70° 22‘ N; 31° 6‘ E





02




Kunst stellt auch auf Expeditionsreisen eine eigene Form der Dokumentation dar und erlaubt einen völlig anderen Zugang zu der Materie als Fotografie.

Dem Kalender nach herrscht zwar noch kein Sommer, als das Schiff die norwegische Küste erreicht, doch die Temperaturen lassen nichts zu wünschen übrig. Die Sonne brennt, und es ist schön wie im Hochsommer. Es mag ungewöhnliches Wetter für eine Polarexpedition sein, aber das macht eine Seereise zu diesen Gebieten ja gerade so interessant. Man durchläuft verschiedene Klimazonen, stellt sich physisch und seelisch und auch kleidungstechnisch auf die veränderten Bedingungen ein. Irgendwann ist man am Ausgangspunkt, sozusagen am Tor zur Arktis angekommen, und zwar nicht nur körperlich, sondern zeitgleich auch mit dem Kopf. Ein Segler hat begriffen, wie weit die einzelnen Wegpunkte voneinander entfernt liegen.

Die Reise nach Tromsø ist ohne Zwischenfälle verlaufen. Das Wetter hat von Anfang bis Ende durchgehalten. »Es war wie im Mittelmeer«, schwärmt Martin, als ich endlich wieder an Bord bin.

Einige Crewmitglieder fahren von hier aus nach Hause. Torsten, Katja und Henryk sind bereits vor einigen Tagen mit dem Lieferwagen, beladen mit zusätzlicher Ausrüstung, nach Tromsø gefahren. Egon, Uschi, Wolfgang, Hermann und Rainer steigen hier aus und fahren mit dem Wagen zurück – Crewwechsel, wie es seit langem geplant war. In zwei Tagen wird Ulli einfliegen, im letzten norwegischen Hafen werden noch Brigitte und Achim zusteigen, dann sind wir komplett.

Die Hektik der vergangenen Wochen kann ich nicht von einem zum anderen Moment abstreifen. Aber das wird kommen. Ich brauche immer ein wenig Zeit, um zu mir zu finden. Die norwegische Landschaft wird mir dazu reichlich Gelegenheit bieten. Wir haben noch Zeit! Die DAGMAR AAEN wird frühestens Mitte Juli in Murmansk erwartet. Früher dort anzukommen würde nur Probleme aufwerfen, hatte Slava mich wissen lassen. Denn loslassen würde man uns erst, wenn die Eisverhältnisse der Jahreszeit entsprechend günstig wären. Vor der zweiten Julihälfte ist damit nicht zu rechnen. Die Eisdecke in der Karastraße ist derzeit immer noch geschlossen. Wann hat man schon einmal im Zuge eines solchen Projektes die Gelegenheit zum Bummeln? Wir machen ausgiebig davon Gebrauch. Wir genießen die Zeit, verholen uns in die Stadt, um uns dort umzusehen, und über allem thront die Sonne 24 Stunden am Tag. Ein ungewöhnlich warmer Sommer. Das Eis auf Flüssen und Seen soll unverhältnismäßig früh aufgebrochen sein. Uns soll das nur recht sein.

Vorboten für ein günstiges Eisjahr? Die Frage stellen wir uns täglich immer wieder. Und da wir mit dem Ärgsten rechnen, genießen wir umso mehr die Ruhe und die Gelassenheit des norwegischen Nordens. Der schwache Wind trägt das Seinige dazu bei, dass wir nicht in Stress geraten. Wir setzen jeden Fetzen Segel, der zur Verfügung steht – und schleichen trotzdem dahin. Voll beladen, wie die DAGMAR AAEN derzeit ist, liegt sie tief im Wasser und braucht deshalb schon eine etwas kräftigere Brise, um in Schwung zu kommen. Aber spielt es eine Rolle? Auf dem Weg nach Hammerfest werden wir von ein und derselben Schnellfähre gleich mehrmals in beide Richtungen passiert. Uns ist es egal. Wer nicht auf Wache ist, liegt an Deck und liest, Elise überbietet sich selbst jeden Tag mit neuen kulinarischen Kreationen, Frank ist pausenlos am Testen und Einrichten irgendwelcher elektronischer Geräte. Die elektronischen Seekarten von Transas laufen hervorragend. Ich bin bei derartigen Neuerungen zunächst immer skeptisch und führe deshalb auch den gesamten Satz Seekarten mit – sicher ist sicher.

Wo es uns gefällt, bleiben wir, wie etwa in Hammerfest oder aber in Hjelmsøy im Akkarfjord. Letzteres ist eine alte verlassene Siedlung, die wie eine Geisterstadt aus einem alten Wildwestfilm wirkt. Eingefallene Häuser, im Wind quietschende Fensterläden, eine völlig verfallene Holzpier und das alles in einer wunderschönen Fjordlandschaft. Es ist der erste Tag mit Regen, aber irgendwie passt das Wetter zu diesen maroden Gebäuden. Wir stöbern ein wenig in Ruinen herum, klettern auf die umliegenden Berge und genießen die Stille und Einsamkeit.

Am nächsten Tag passieren wir das Nordkap. Rainer Ullrich, von allen Ulli genannt, steht an Deck und malt. Ulli ist Kunstmaler und Grafiker. Seit Jahren hatte mich der Gedanke beschäftigt, einen Maler auf eine Expedition mitzunehmen. Alle historischen Expeditionen hatten einen Maler dabei. Solange man nicht fotografieren konnte, lag das nahe. Aber auch später, als es schon längst Film und Foto gab, wurden Maler mitgenommen. Die Kunst stellt eine eigene Form der Dokumentation dar und erlaubt einen völlig anderen Zugang zu der Materie, als es die Fotografie vermag. Jede Dokumentationsform hat ihre eigene Charakteristik, und ich war immer gespannt, wie ein Künstler die Begegnung mit der polaren Landschaft umsetzen würde. Das Problem war nur, dass ich keinen Maler kannte, der unter Expeditionsbedingungen leben und arbeiten konnte, Wache gehen und dabei auch noch Spaß haben würde. Bis ich Rainer Ullrich traf. Wir kennen uns vom Museumshafen Flensburg, und irgendwann fasste ich mir ein Herz: »Ulli, hast du nicht Lust, mit auf die nächste Expedition zu kommen?« Pause. »Meinst du das im Ernst?« »Ja klar, sonst würde ich nicht fragen!« Pause. »Wenn du meinst«, strahlte er mich an, »dann bin ich dabei!« So schnell kann das gehen. Seit Tromsø ist Ulli an Bord und malt auf Teufel komm raus. Er ist kaum zu bremsen. Daneben geht er Wache, ist immer gut gelaunt und hilft, wo immer es etwas zu tun gibt. Wir anderen schauen ihm ehrfurchtsvoll über die Schulter und sind fasziniert, wie scheinbar mühelos etwas aus ein paar Strichen entsteht. Er scheint dabei bisweilen völlig gedankenverloren. Katja sichert ihn fürsorglich und packt die Kästen mit Farben beiseite, damit sie nicht über Bord gehen. Wenn er malt, vergisst er Wind und Wetter und Kälte, wir passen dann auf unseren Maler auf! Ulli ist in jeder Hinsicht eine Bereicherung in der Mannschaft.

An anderen Stellen ankern wir, um zu tauchen. Das hat seinen Grund. In den Sechzigerjahren hatten sowjetische Wissenschaftler vom Pazifik Krabben nach Murmansk gebracht und sie dort im Fjord ausgesetzt. Bei den Krabben handelte es sich um die so genannten Kamchatka-Krabben, besser bekannt unter dem Namen King Crabs. In Alaska werden sie schon seit Jahrzehnten gefangen und sehr profitabel überwiegend nach Japan verkauft. Die Krabbeltiere schmecken vorzüglich und können es diesbezüglich mit dem Hummer aufnehmen – und sie werden riesig groß. Ein einziges ausgewachsenes Exemplar kann daraus für die gesamte Mannschaft reichen. Das Experiment der sowjetischen Wissenschaftler übertraf alle Erwartungen. Die Krabben vermehrten sich explosionsartig in der Barentssee, offenbar gefielen ihnen die Lebensbedingungen dort ausgezeichnet. Inzwischen verbreiten sie sich entlang der gesamten norwegischen Küste und wandern immer weiter nach Süden.

» Es ist der erste Tag mit Regen, aber irgendwie passt das Wetter zu diesen maroden Gebäuden. Wir stöbern ein wenig in Ruinen herum, klettern auf die umliegenden Berge und genießen die Stille und Einsamkeit.«

Ulli ist in jeder freien Minute am Malen. Die Pfahlbauten von Vardø haben es ihm angetan.

Doch wie immer bei solchen Experimenten gibt es auch hierbei einen nicht zu unterschätzenden Nachteil: Kamchatka-Krabben haben außer dem Menschen keine natürlichen Feinde – und sie sind überaus gefräßig. Wenn sie nicht entsprechend befischt werden, werden sie den Meeresboden ratzekahl leer fressen. Für die norwegischen Fischer hat sich damit ein ganz neuer Erwerbszweig aufgetan, obgleich die Quoten streng reglementiert werden.

Die Krabben, die wir unter Wasser zu sehen bekommen, sind gemessen an denen, die ich aus Alaska kenne, eher klein. Ein Fischer klärt uns auf, dass sich die Krabben während der Sommermonate in tiefere Gewässer zurückziehen. Im Winter kommen sie dann wieder in küstennahe Gewässer, wo sie wie eine Invasion einfallen. Sie werden in Körben gefangen, in die man Heringe als Köder legt. Die großen Krabben können zwölf Kilogramm schwer werden – sagt man. Die Bewohner einzelner Siedlungen fangen sie für den Eigenbedarf – in der Regel braucht man ja nur ein Tier zum Sattwerden –, indem sie von einem Ponton Netze ins Wasser hängen. Die Krabben klettern dann ganz allein an die Oberfläche und können dort abgesammelt werden.

Wo immer wir unter Wasser abtauchen, treffen wir auf King Crabs. So lecker sie sind, auch hier hat der Mensch in das Regulativ der Natur eingegriffen. Die Krebse gehören dort einfach nicht hin. Bleibt zu hoffen, dass sich daraus nicht auch eine biologische Zeitbombe entwickelt. Ich denke, man tut gut daran, die Tierchen kräftig zu befischen. Sollten sie dort oben einmal wieder verschwunden sein, wäre lediglich der Normalzustand wiederhergestellt.

Vardø soll unser letzter Hafen in Norwegen sein. Das schöne Wetter hält an, wir segeln raumschots unter Vollzeug immer in Sicht der Küste. Die Schiffe der Hurtigrouten passieren uns, gelegentlich treffen wir auf Fischkutter, ansonsten gehört das Meer uns. Die Schären, die Vardø vorgelagert sind, kommen in Sicht, wir beginnen die Ansteuerung, und da der Wind weiterhin günstig kommt, laufen wir unter Segel in den Hafen ein. Dort machen wir einen Aufschießer, werfen die Fallen der Vorsegel los und fieren das Großsegel. An Land sehen uns Fischer auf ihren Booten zu, es muss ein schöner Anblick gewesen sein, unsere alte Dame in der Abendsonne unter Segel einlaufen zu sehen. Nachdem wir die Segel eingepackt und das Deck aufgeklart haben, machen wir an einer alten Holzpier zwischen Fischereischiffen fest.

Von hier an wird es ernst! Am nächsten Tag kommen Brigitte und Achim an, damit sind wir vollzählig. Wir bunkern Diesel, füllen die Wassertanks auf, ergänzen Proviant, füllen die Benzinkanister für den Außenborder und nehmen die einzige öffentliche Duschgelegenheit in Anspruch. Zusammen mit Brigitte lasse ich in einem Restaurant bei einer Flasche Wein die letzten Wochen Revue passieren. Während ich mich seit meiner Ankunft an Bord bestens eingelebt habe und mich fühle, als wäre ich nirgendwo anders gewesen als auf diesem Schiff, kommt Brigitte direkt aus ihrem turbulenten Architekturbüro. Während sie mir von den Vorgängen von zu Hause berichtet, werde ich wieder von der Wirklichkeit eingeholt. Für mich gibt es zwei Wirklichkeiten – die auf dem Schiff und die zu Hause im Büro, wo das Leben nach ganz anderen Vorgaben abläuft. Mit einem Mal bin ich wieder mitten drin in der Organisation. Einmal mehr fühle ich mich in Gedanken als Wanderer zwischen den Welten.

Vardø vorgelagert liegt eine Vogelinsel, auf der Papageitaucher und Kormorane brüten.

Die Hafenausfahrt von Vardø. Es ist kurz nach Mitternacht, in wenigen Stunden werden wir auslaufen. Von hier aus ist es nicht mehr weit bis zur russischen Grenze.

Während ich mich mit den vorgeblich letzten bürokratischen Hindernissen herumärgere, genießt Katja ein paar stille Stunden in der fantastischen Fjordlandschaft Norwegens.

Fototermin auf dem Vorschiff mit der gesamten Crew.

Das idyllischee Anwesen von Gerd Schwalenstöcker auf Haakøy. Hier machen wir Crewwechsel und treffen letzte Vorbereitungen.

₺1.123,36
Yaş sınırı:
18+
Litres'teki yayın tarihi:
28 temmuz 2024
Hacim:
406 s. 161 illüstrasyon
ISBN:
9783667112941
Telif hakkı:
Bookwire
İndirme biçimi:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip