Kitabı oku: «Die Umrundung des Nordpols», sayfa 3

Yazı tipi:

Beim Held

der

Sowjetunion

MOSKAU

55° 45’ N; 37° 37’ E


03




Mit »five drops of Vodka« wird in Russland traditionell der gelungene Abschluss eines Gesprächs begossen.

Drei Wochen zuvor. Ich bin wieder hier. Obwohl ich mich seit fünfzehn Monaten mit kaum etwas anderem beschäftigt habe als mit der Planung und Vorbereitung für meine neue Expedition nach Sibirien, obwohl ich diesen Tag herbeigesehnt habe, an dem ich endlich in Moskau die Genehmigungen für das Projekt in Empfang nehmen kann, bin ich voller Selbstzweifel und innerlich aufgewühlt.

Schweigend und eiligen Schrittes gehe ich neben meinem Freund Slava Melin durch die sonnendurchfluteten Straßen Moskaus. Es ist heiß, und mir läuft der Schweiß den Rücken runter. Die ungewohnte Krawatte fühlt sich um meinen Hals an wie ein Strick. An einer Hausecke sehe ich auf einer übergroßen Anzeigetafel neben Werbung ein digitales Display: Es zeigt 41 °C an.

Moskau hat sich verändert. Zehn Jahre sind es her, seit ich das letzte Mal hier gewesen bin. Damals herrschte Winter, und die kalte, trostlose Witterung passte bestens zu dem tristen Grau der Häuserfassaden. Wer die Anlage zur Schwermut in sich verspürte, kam hier voll und ganz auf seine Kosten. Wie oft hatte mich Slava in der Zwischenzeit wieder eingeladen, ihn zu besuchen: »Du musst einfach kommen, das Land ist nicht mehr das gleiche, das du in deiner Erinnerung trägst.« Immer wieder hatte ich teilweise unter fadenscheinigen Ausflüchten abgesagt – ich hatte einfach keine Lust dazu, mochte es ihm aber nicht so deutlich sagen, weil ich fürchtete, ihn damit zu verletzen. Eine unnötige Vorsichtsmaßnahme. Slava kennt mich viel zu gut, um den wahren Grund nicht längst erahnt zu haben.

Aber er hat Recht gehabt! Der Flugplatz Sheremetyevo II mag noch der Gleiche sein, aber die veränderte Welt beginnt unmittelbar nach der Passkontrolle: Eine Verkehrsdichte wie auf dem Champs-Elysées, Werbetafeln an jeder Ecke, junge Frauen, die elegant und bisweilen ein wenig schrill gekleidet sind, Häuser frisch renoviert, Ruinen abgerissen, neu erbaute Gebäude, denen man ansieht, dass damit nicht ein staatliches Plansoll erfüllt werden sollte, sondern dass Architekten wohl überlegt und geplant haben. Eisverkäufer haben Hochsaison, die Cafés sind voll belegt, in einem öffentlichen Brunnen baden ausgelassen Kinder. Heerscharen von Touristen aus aller Herren Länder belagern geduldig das Eingangstor zum Kreml, und Laienschauspieler schreiten ganz ungeniert und würdevoll in der prunkvollen Robe der letzten Zarenfamilie über den Roten Platz – in unmittelbarer Nähe des Mausoleums von Wladimir Illitsch Lenin. Geschieht ihm recht! Während bei meinem letzten Besuch noch eine schier endlose Schlange von Besuchern vor der Gruft wartete, um dem verblichenen und seither kunstvoll konservierten Revolutionär ihre Aufwartung zu machen, wartet der wächserne Korpus heute vergeblich auf Besucher. Das Mausoleum ist geschlossen und nur an wenigen Tagen geöffnet. Das öffentliche Interesse hat offenbar nachgelassen.

Ein Stück weiter stoßen wir dann doch noch auf eine kleine Anhängerschar von ihm. Rote Fahnen mit Hammer und Sichel, über Megafon werden markige Reden gehalten. Ich verstehe zwar kein Wort, aber gerade deshalb ist vielleicht meine Beobachtungsgabe intensiver. Die Zuhörer sehen eher desinteressiert aus, blinzeln bisweilen gelangweilt in die Sonne, drehen sich um und gehen weiter.

Unweit des Roten Platzes holt uns dann doch ein Stück des alten Russlands wieder ein. Wir queren gerade einen Platz, als wir von zwei jungen Polizisten angehalten werden. Da ich kein Russisch verstehe, kann ich nur ahnen, um was es geht. Rein äußerlich heben wir uns dank unseres Anzuges und der Krawatte nicht von anderen Geschäftsleuten ab, deshalb ist Slava erstaunt, wie es zu dieser Kontrolle kommt. Unsere Pässe werden überprüft und an Slavas Tonfall kann ich eine zunehmende Verärgerung spüren. Erst als er in schneller Folge einige Namen nennt und auf das nahe gelegene Gebäude der Duma, dem russischen Parlament, weist, erhalten wir unsere Pässe zurück und dürfen unseren Weg fortsetzen. Slava ist zornig. Die Polizisten hatten ihn gerade darüber aufgeklärt, dass sich jeder russische Staatsbürger, der nicht in Moskau wohnhaft ist, bei einem Besuch in der Stadt bei der Polizei anmelden muss. Ein Ding der Unmöglichkeit. Slava hat geschäftlich ständig in Moskau zu tun, auch wenn er rund 200 Kilometer entfernt lebt. Sich jedes Mal anmelden, hieße stundenlanges Warten auf irgendwelchen Polizeistationen, Fragen beantworten, Formulare ausfüllen – so etwas kann sich auch im Russland von heute kein Geschäftsmann mehr leisten. Außerdem ist die Bestimmung verfassungswidrig! Jeder weiß das hier, einige Polizisten halten sich dennoch daran, sehr zur Verärgerung der Bevölkerung. Und alle leben mit dem Widerspruch. Eine Änderung ist derzeit nicht in Sicht.

Das mächtige Gebäude der Duma liegt jetzt unmittelbar vor uns. Wir haben einen Termin, wir werden erwartet. Für Menschen wie uns, die nicht dem Diplomatischen Corps angehören, dürfte es eher die Ausnahme sein, dass man Zugang zum russischen Parlament erhält oder sogar von höchster Stelle aus eingeladen wird. Der Vizepräsident der Duma, Arthur Chilingarov persönlich, hat uns einbestellt, und es war eben auch dieser Name, der die beiden Polizisten von einer weiteren Untersuchung abgehalten hatte. Der Name wiegt schwer in Moskau, wir treffen hier nicht auf irgendeinen Politiker. Slava, der einige Male hier gewesen war um Papiere abzugeben, war bislang lediglich bis zur Security gelangt, wo man ihm dann die Papiere abgenommen und weitergeleitet hatte. Heute hingegen erwartet uns ein Assistent von Herrn Chilingarov, der den Sicherheitsbeamten mit einem Wink zu verstehen gibt, dass sie uns passieren lassen können. Ihr Blick ist allen Security-Beamten und Bodyguards, die ich kennen gelernt habe, eigen. Es wohnt eine gewisse Form der Leere, der Kälte, der Wachsamkeit und der absoluten Distanz in ihm. Aber das muss wohl so sein.

Wir werden von dem Assistenten per Handschlag begrüßt, zu einem Lift geführt und wenige Momente später und einige Etagen höher in einen getäfelten Raum geleitet, dessen Wände wie eine Fotogalerie mit Motiven aus der Arktis und Antarktis geschmückt sind. In der Ecke läuft ein Fernseher, in dem gerade das Fußball-WM-Spiel Deutschland gegen die USA zu sehen ist – ich habe kaum einen Blick dafür.

Dieser Raum ist zumindest für einen Politiker ungewöhnlich. Wir werden höflich gebeten hier zu warten und nutzen die Gelegenheit, uns die Bildergalerie anzusehen. Arthur Chilingarov mag ein wichtiges politisches Amt innehaben – seine große persönliche Leidenschaft gehört jedoch seit Jahrzehnten der Erforschung der Polarregionen. An wie vielen Expeditionen er direkt oder indirekt mitgewirkt hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Aber bereits 1989 hatte ich seinen Namen in der Antarktis gehört, wo er als Schirmherr einer internationalen Expedition geführt wurde. Herr Chilingarov ist nicht irgendjemand, er ist der letzte Held der Sowjetunion und eine Institution in allen Bereichen und Belangen der Polarforschung.

»Geduld – ein großes Wort und eine Tugend, die in Russland zur Grundausstattung eines jeden Reisenden gehören sollte. Wer glaubt, dass man mal so eben die Hoheitsgewässer Russlands durchqueren kann, irrt gewaltig.«

Man kommt nicht so einfach an einen Mann wie Arthur Chilingarov heran. Monatelang hatte Slava bei allen zuständigen Behörden versucht, eine Genehmigung für unsere Expedition zu bekommen. Er bekam weder eine Zusage noch eine Absage – meistens wurde er nur vertröstet, er solle sich gedulden. Geduld – ein großes Wort und eine Tugend, die in Russland zur Grundausstattung eines jeden Reisenden gehören sollte. Aber mir brannte die Zeit unter den Nägeln. Die Expedition war organisatorisch, finanziell und logistisch auf den Weg gebracht worden. Ich hatte Verträge mit Sponsoren geschlossen, viel Geld für den Umbau und die Überholung der DAGMAR AAEN ausgegeben, eine erwartungsvolle Mannschaft zusammengestellt, von der jeder Einzelne ebenfalls Weichenstellungen in beruflicher wie auch privater Hinsicht getroffen hatte. Wenn ich die Genehmigung nicht erhalten würde, stünde ich da wie ein Hochstapler.

Aber man segelt nicht so einfach in den Norden Sibiriens. Diese Erfahrung haben wir auf unseren früheren Expeditionen dorthin machen können. Naiv deshalb der Versuch eines Holländers, der im Vorjahr versucht hat, einhand und ohne jede Genehmigung nach Murmansk einzureisen, um von dort aus durch die Nordostpassage zu segeln. Höflich, aber bestimmt hat man ihn wieder nach Norwegen zurückgeschickt – wer glaubt, dass man mal so eben die Hoheitsgewässer Russlands durchqueren kann, irrt gewaltig.

Aus diesem Grund hatte ich mich über den befreundeten Bundestagsabgeordneten Franz Thönnes ans Auswärtige Amt gewandt mit der Bitte, unser Expeditionsvorhaben bei den zuständigen russischen Behörden zu unterstützen. Gleichzeitig schrieb ich erstmals einen Brief an Herrn Chilingarov, der ihm mit diplomatischer Post seitens der Deutschen Botschaft in Moskau zugestellt wurde. Nach beharrlichem Insistieren der deutschen Botschaft kam endlich eine Antwort, die ich kaum glauben konnte: Arthur Chilingarov persönlich wolle sich um das Projekt kümmern. Danach überschlugen sich die Ereignisse. Slava telefonierte fast täglich mit den Assistenten von Herrn Chilingarov. Mit einem Mal kam Bewegung in das Genehmigungsverfahren und wie ein »Sesam öffne dich« bewegten sich wie von Geisterhand Behördentüren, die vorher trotz aller Bemühungen verschlossen blieben. Die Vorarbeit hatte zweifellos Slava geleistet. Expeditionsbeschreibungen waren von ihm detailliert ins Russische übersetzt worden, seitenlange Anträge bei den zuständigen Behörden eingereicht und endlose Telefonate geführt worden. Zusätzlich war er persönlich immer wieder vorstellig geworden – der Zeitaufwand, den er für die Expedition betrieb, war gigantisch. Und jetzt endlich der Durchbruch!

Wir werden vorgelassen. Das Büro, geräumig und edel ausgestattet, ist ebenfalls mit Landkarten und Fotos von Arktis und Antarktis geschmückt. Eine Kartenprojektion, bei der jeweils der Nordpol bzw. der Südpol sozusagen in der Draufsicht im Mittelpunkt einer Karte liegt, ist im Normalfall eher selten anzutreffen. Wer sich solche Karten an die Wand hängt, muss vom Polarvirus befallen sein. Dazwischen Urkunden, die ihn als Mitglied des Explorer Club, der Royal Geographical Society und anderen namhaften Institutionen ausweisen.

Arthur Chilingarov, ein großer vollbärtiger Mann, kommt auf mich zu und schüttelt mir die Hand. Mit der anderen Hand weist er uns einen Platz an dem Besprechungstisch zu. Er hält sich nicht lange mit Floskeln auf, sondern kommt sofort zur Sache. Über einen Dolmetscher lässt er fragen, warum ich diese Expedition durchführen möchte, worin meine Qualifikationen bestehen, was für ein Schiff wir einzusetzen gedenken und über welche Erfahrung die Crew verfügt. Ohne Umschweife beantworte ich seine Fragen genauso direkt wie sie kommen. Ich erzähle ihm unter anderem von meiner Nordpol-Expedition wie auch von der Durchquerung des antarktischen Kontinents. »You did that? When was it?« Zum ersten Mal spricht er mich direkt auf Englisch an. Zur gleichen Zeit, zu der wir damals auf Ski unterwegs waren, durchquerte eine internationale Expedition die Antarktis mit Hundeschlitten, und kein geringerer als Herr Chilingarov war seinerzeit der Schirmherr der Expedition gewesen. Es gibt direkte Anknüpfpunkte. Als ich ihm über die Durchsegelung der Nordwestpassage mit der DAGMAR AAEN sowie über einige andere meiner vorangegangenen Expeditionen berichte, ist das Eis gebrochen. Der Tonfall wird lockerer, ungezwungener.

»Ich müsse verstehen«, wird mir vom Dolmetscher übersetzt, »dass Herr Chilingarov sich schon eingehend über eine geplante Expedition informieren müsse, bevor er die Schirmherrschaft übernehmen könne«. Habe ich richtig gehört? Sagte er Schirmherrschaft? Aber der Dolmetscher übersetzt fleißig weiter ins Englische und immer wieder fällt dabei das Wort Patron oder Patronage. Das ist weit mehr, als ich je zu hoffen wagte. Herr Chilingarov fordert mich auf, den Verlauf meiner früheren Expedition auf den Landkarten zu zeigen. Er schaut mir dabei über die Schulter, gibt mir zu verstehen, dass er hier oder dort auch gewesen sei und zeigt sich überaus interessiert an allem, was ich zu berichten habe. Slava schaut dem Treiben mit maßlosem Erstaunen zu. Später sagt er mir, dass ihm das wie in einem Traum vorgekommen sei. Er konnte und kann es nicht fassen, dass sich die Probleme plötzlich aufzulösen scheinen. Keiner von uns sitzt mehr, wir gehen durch das geräumige Arbeitszimmer, bleiben mal hier vor einer Karte stehen oder sehen uns an anderer Stelle Fotos an. Dann eine kurze Anweisung an den Assistenten, eine Flügeltür wird geöffnet, dahinter ein weiterer großer Raum mit einem gedeckten Tisch. Slava lächelt mich an: »Five drops, Arved – you know, it’s an old Russian tradition.« Der unvermeidliche Vodka wird großzügig ausgeschenkt, wir stoßen an, Herr Chilingarov wünscht jetzt unserem Projekt gutes Gelingen und Erfolg auf ganzer Linie. Die Vodkagläser leeren sich, ein Stück Brot und Gurke werden gereicht, um den Schnaps zu neutralisieren – die Atmosphäre wird immer ungezwungener und freundschaftlicher. Der Assistent wird aufgefordert, Fotos von ihm und mir zu machen. Arm in Arm, mit den Zeigefingern auf der Landkarte mal am Nordpol, mal am Südpol, dazwischen immer wieder kräftiges Händeschütteln und die Zusicherung, uns nach besten Möglichkeiten zu unterstützen. Ob wir bereit wären, im Verlauf der Expedition Wetterdaten zu sammeln und sie nach Moskau zu schicken? Spontan sichere ich ihm das zu, zweimal täglich werden wir von unterwegs alle verfügbaren Daten an ihn weiterleiten. Sollten wir Probleme mit lokalen Behörden haben – er sagt dies zu Slava auf Russisch –, möge er sich umgehend per E-mail oder Telefon mit ihm in Verbindung setzen. Darüber hinaus wolle er die oberste Militärverwaltung von dem Projekt unterrichten und ihnen sein Engagement in dieser Sache mitteilen. Zusätzlich würde er auch die Deutsche Botschaft darüber informieren.

»›Ich müsse verstehen, dass Herr Chilingarov sich schon eingehend informieren müsse, bevor er die Schirmherrschaft übernehmen könne‹. Habe ich richtig gehört? Sagte er Schirmherrschaft? Das ist weit mehr, als ich je zu hoffen wagte.«

Wir sind schon eine gute Stunde bei ihm. Schließlich ein letztes Foto, abermals kräftiges Händeschütteln, Visitenkarten werden ausgetauscht und dann sind wir entlassen. Slava und ich schauen uns an, so richtig glauben können wir beide nicht, was wir eben erlebt haben. Das muss gefeiert werden! Ich bin wieder in Russland!



Am


Eintrittstor


der Passage

MURMANSK

68° 57‘ N; 33° E





04




15. Juli 2002: Zum zweiten Mal läuft die DAGMAR AAEN diesen Hafen am Eingang der Nordostpassage an.

Der Anruf über UKW kommt nicht überraschend: »This is russian coastguard. Ship in position 69° 35’ N; 033° 30’ E. What is your name and destination, present course and speed?« »This is the sailing vessel DAGMAR AAEN, DIXX, we are bound for Murmansk, our course is 180°, our speed is 5 knots«. Überraschend ist lediglich der Umstand, dass der Anruf auf Englisch erfolgt. Bislang wurde erwartet, dass jedes Schiff, das nach Murmansk einlief, auch der russischen Sprache mächtig war. Wenige Minuten später taucht am Horizont die graue Silhouette eines Patrouillenbootes auf, das mit schäumender Bugwelle direkt auf uns zuhält. Kurze Zeit später dann über UKW die Aufforderung zu stoppen und abzuwarten, man wolle die Papiere überprüfen und zu diesem Zweck zwei Offiziere übersetzen. Das dauert.

Eigentlich müsste die Coast Guard genau wissen, wer wir sind, denn unser Auftauchen kann nicht überraschend für sie kommen. Den Vorschriften gemäß hatten wir bereits vor zehn Tagen per Fax unsere vermutliche Ankunftszeit Murmansk durchgegeben, danach noch einmal 24 Stunden und nochmals zehn Stunden vor unserem Eintreffen. Aber vielleicht will man sich vergewissern, ob wir alle Papiere ordnungsgemäß an Bord haben. Derer haben wir gleich einen ganzen Ordner voll. Mit qualmenden Dieselmotoren dreht das Coast-Guard-Schiff bei, und Minuten später löst sich ein Schlauchboot von der grauen Bordwand und hält auf uns zu. Zwei junge Offiziere in Uniform grüßen uns freundlich und klettern an Bord. Beide sprechen gut Englisch – es scheint sich um eine Routineuntersuchung zu handeln.

Unter Deck bei einer Tasse Kaffee präsentiere ich die Schiffs- und Expeditionspapiere, Henryk, der fließend Russisch spricht, sitzt daneben, um den Offizieren die Konversation zu erleichtern. Endlich das Urteil: Die Papiere sind in Ordnung! Es gibt keinerlei Beanstandungen, aber – warum wir uns um Himmels Willen nicht vorher angemeldet hätten? Henryk und ich schauen uns verdutzt an. Natürlich haben wir uns angemeldet, erklärt Henryk auf Russisch und öffnet zur Beweisführung das Logbuch, wo das Fax mit Übertragungsprotokoll eingeklebt ist. Die beiden Grenzschützer überprüfen das Logbuch, Henryk zeigt ihnen auch die beiden anderen Anmeldungen, danach strahlen sie uns an. Ganz klar, die beiden suchen kein Haar in der Suppe, sondern freuen sich mit uns, dass alles seine Ordnung hat. Über Funk teilen sie ihre Erkenntnisse ihrem Kommandanten mit. Wir bereiten schon die Verabschiedung vor, als vom Schiff die Meldung kommt, wir sollten noch abwarten, da man erst in Murmansk nachfragen wolle. Der Zeitpunkt dafür ist denkbar ungünstig. Es ist 6 Uhr morgens und zudem Montag. Vor 9 Uhr würde keine Behörde und kein Büro öffnen und auch danach würde man sich nur schleppend an die Arbeit machen. Glücklicherweise ist das Wetter schön und ruhig, die See ist fast spiegelglatt. Den beiden Offizieren tut die Verzögerung Leid. Sie sind eifrig um Konversation bemüht, wir zeigen ihnen das Schiff, laden sie zum Frühstück ein und endlich kommt Elise auf die glorreiche Idee, zu angeln. Die beiden sind begeistert. Kaum dass die Angel im Wasser ist, hat auch schon der erste Dorsch angebissen, danach geht es Schlag auf Schlag. Wer soll die vielen Fische essen? Egal, die beiden angeln, Elise schlachtet, Torsten fotografiert und wir anderen machen gute Miene zum bösen Spiel.

Auch um 9 Uhr noch keine Antwort aus Murmansk, und um 10 Uhr findet sich ebenfalls keine Lösung. Auf dem Achterdeck stapeln sich derweil die Fische, Elises Hose ist mit Schuppen und Fischblut gesprenkelt und in den Gesichtern aller spiegelt sich der Unmut über diese Verzögerung. Endlich scheint es auch dem Kommandanten zu langweilig zu werden. Er gibt Anordnung, dass einer der beiden Offiziere mit dem Schlauchboot zurückkommen solle, während der andere bei uns an Bord bleiben soll. Da unsere ETA-Meldung bislang nicht aufgetaucht ist, müsse man uns leider festnehmen. Im Klartext heißt das: Wir sind aufgebracht und verhaftet worden – trotz aller Genehmigungen. Henryk, der den Funkkontakt verfolgen kann, hört deutlich den Unmut des Kommandanten über die Schlamperei in Murmansk heraus, aber wenn der Behördenweg einmal eingeschlagen ist, gibt es kein Zurück mehr. Sobald das Schlauchboot, in das Elise schnell noch einen großen Plastiksack mit Fischen gelegt hat, an Bord genommen ist, fährt das Patrouillenboot voraus, wir laufen hinterher.

Unterwegs überholt uns eines der großen russischen Atom U-Boote, ansonsten passieren wir jede Menge Schiffswracks, verlassene und verfallene Häuser links und rechts des Fjordes, den abgesehen von dem Verfall und den militärischen Einrichtungen eine schöne nordische Fjelllandschaft säumt. Bereitwillig gibt uns unser Offizier Auskunft über die Region. Wir passieren die verbotene Stadt Severomorsk, das große Schwimmdock, in dem angeblich das deutsche Schlachtschiff TIRPITZ gelegen haben soll und in dem noch vor wenigen Monaten die Überreste der KURSK abgewrackt worden sind. Endlich zeichnet sich hinter einer weiteren Fjordbiegung Murmansk ab.

Wir machen an einer Schwimmpier fest. Eine kleine Armee Uniformierter ergießt sich auf unser Deck, inzwischen hat sich wohl auch unsere Anmeldung eingefunden – immerhin ist es erst 14 Uhr –, und so ist die Situation nicht ganz so angespannt wie ich befürchtet hatte. Aber trotzdem! Unser Offizier von der Coast Guard wirft sich für uns ins Getümmel: Nein, die Coast Guard hätte uns gegenüber keinerlei Vorwürfe aufzuweisen, wir hätten uns absolut korrekt verhalten, man habe nur auf Weisung gehandelt und uns nach Murmansk geleitet. Ich fülle stapelweise Formulare, Zolllisten, Crewlisten et cetera aus. Irgendwann ist auch das getan. Ich schenke dem Coast Guard-Offizier ein Buch über unsere letzte Expedition, er verabschiedet sich per Handschlag von jedem von uns – und dann bleibt nur noch die Frage, wer die Schuld an dem ganzen Dilemma trägt. Eine Zivilperson mit ernster Miene erscheint wenig später auf der Pier und bittet an Bord kommen zu dürfen. Henryk übersetzt, als wir schließlich zu dritt um den Tisch in der Messe sitzen. Es ist, wie bei solchen Fällen üblich, ein Eiertanz. Jeder weiß, dass uns keine Schuld trifft, aber wollen wir wirklich eine Schuldzuweisung treffen? Er sei hier, um den Fall zu klären, teilt er Henryk mit. Er könne jetzt die Sache weiterverfolgen, was – so lässt er durch die Blume wissen – uns sicherlich bei der Bewältigung weiterer behördlicher Auflagen für die Befahrung des Nördlichen Seeweges nicht sehr dienlich sein würde. Oder wir würden die Schuld auf uns nehmen und damit alle anderen von jedweden Versäumnissen freisprechen. Das sei doch die viel bessere Lösung! Mit 2.000 Rubeln, etwa 70 Euro, sind wir dabei! Den schwarzen Peter übernehmen wir, dafür ist man uns hoffentlich gewogen, das Verfahren wird eingestellt und wir sind nun endlich offiziell eingereist. So einfach geht das!

Abends trifft Slava ein. Er hat von dem Zwischenfall gehört und ist außer sich. Er reagiert in solchen Situationen noch viel empfindlicher als jeder andere von uns. Gerade weil er Russe ist und eben weil er selbst alle Papiere bearbeitet und eingereicht hat, trifft es seinen Stolz und seinen Gerechtigkeitssinn an einer empfindlichen Stelle.

Unsere Geduld soll auf eine harte Probe gestellt werden. Ursprünglich hatte ich drei bis vier Tage in Murmansk eingeplant – es werden insgesamt zwölf. Die Besuche im Büro der Murmansk Shipping Company gehören schon bald zur täglichen Routine wie das morgendliche Zähneputzen.

Um Punkt 11 Uhr – vorher ist es nie genehm – sitzen Slava und ich im Büro von Sergeij Deyneka und diskutieren. Eigentlich ist nur Slava derjenige der redet, ich sitze mit stoischer Miene daneben und verstehe kein Wort. Gelegentlich darf ich einige Schiffspapiere aus meinem Aktenkoffer hervorkramen und auf den Tisch legen, bei anderer Gelegenheit mit todernster Miene den Schiffsstempel sowie meine Unterschrift unter Formulare setzen, deren Inhalt ich sowieso nicht lesen kann – ich fühle mich ausgeliefert. Wäre Slava nicht, dem ich hundertprozentig vertraue – ich wüsste nicht, was ich täte. Gegen 14 Uhr enden in der Regel die Konsultationen, um am späten Nachmittag an Bord fortgeführt zu werden.

Der aus der Gründerzeit stammende Bahnhof von Murmansk hebt sich angenehm von den tristen Plattenbauten ab. Über der Kuppel des Gebäudes prangt noch der alte Sowjetstern.

Bei all dem geht es primär um den technischen Zustand beziehungsweise um die Eignung der DAGMAR AAEN für den Nördlichen Seeweg. Alle Verweise auf die Icesail-Expedition einschließlich der neunmonatigen Überwinterung im Eis des Jenisseis oder gar die Durchfahrung der Nordwestpassage hinterlassen keinen Eindruck. Der Nördliche Seeweg – so lässt man uns wissen – sei nun einmal etwas Besonderes. Hinsichtlich der bürokratischen Hürden vermag ich diesbezüglich nicht zu widersprechen.

Dann kommt ein Inspektor aus Moskau, den ich von der Hauptverwaltung des Nördlichen Seeweges aus Moskau kenne, angereist, und tatsächlich erhalten wir den behördlichen Segen. Endlich! Die DAGMAR AAEN ist für den Nördlichen Seeweg geeignet.

Doch die erste Euphorie wird schnell gedämpft. Glaubten wir tatsächlich, wir hätten den behördlichen Spießroutenlauf beendet? Keineswegs. Jetzt geht es um die Frage des Eislotsen. Laut Vorschrift muss jedes Schiff – egal wie groß oder klein – einen staatlichen Eislotsen an Bord nehmen. Das Problem: Woher nehmen? Wir erkundigen uns, tatsächlich gibt es einige interessierte Lotsen, von denen aber keiner abkömmlich ist.

Was Nun? Slava wirft sich in die Brust: Schließlich sei er Russe, habe jahrelang auf Arktis- wie auch Antarktisstationen Dienst getan, kenne den Nördlichen Seeweg wie kaum ein Zweiter – also sei er doch schließlich der geeignete Lotse für die DAGMAR AAEN. Was keiner zu hoffen wagte – die Verwaltung in Moskau lässt sich darauf ein! Obwohl die Entscheidung offenbar intern kritisiert und von unterschiedlicher Seite völlig gegensätzlich bewertet wird, bleibt es dabei: Slava ist unser Lotse – etwas Besseres hätte uns nicht passieren können.

Zwischen unseren Besuchen bei der Murmansk Shipping Company, die weiterhin an der Tagesordnung sind, müssen wir mit der obersten Hafenbehörde sprechen, die für sich wiederum in Anspruch nimmt, die kompetenteste und wichtigste Instanz in Sachen Nördlicher Seeweg überhaupt zu sein. Ob wir denn wüssten, das dort viel Eis liegt und ob wir denn auch warme Sachen dabei hätten, fragt einer der Uniformierten mit einem Seitenblick auf Henryks Füße, die unbestrumpft in Sandalen stecken. In Murmansk ist eben Sommer! Alle Papiere müssen wieder vorgeholt und langatmig begutachtet werden, Stempel werden auf Stempelkissen gedrückt, angehaucht und mit wichtiger Miene auf ein x-beliebiges Dokument gepresst. Mir hebt es bisweilen die Schädeldecke, Henryk, der das sieht, meint nur: »Gut, dass du kein Russisch verstehst, dann wäre es um deine Contenance geschehen.« Ich glaube ihm gern, auch so bin ich an der Grenze meiner Geduld angelangt.

Das gleiche Theater erwartet uns beim Zoll, nur dass der sich im Freihafen befindet und dorthin keiner Zugang hat. Slava muss sich für 20 Rubel an anderer Stelle einen Passierschein besorgen und darf damit samt Schiffspapieren in den Freihafen – mir bleibt dieser Gang glücklicherweise erspart, mir hat man keinen Passierschein ausgestellt. Ein weiterer Besuch bei jener Hafenbehörde, die für den Teil des Hafens zuständig ist, in dem wir liegen, diverse Telefonate mit anderen Behörden – dann wieder die Mitteilung, dass Slava nun doch nicht Lotse sein könne, kurz darauf die Richtigstellung, dass er dieses gewichtige Amt sehr wohl ausfüllen kann – so vergeht Tag auf Tag. Wir geben an Bord einen Empfang für alle beteiligten Inspektoren. Die Stimmung ist gut, es fließt reichlich Wodka. Ein Vertrag mit der Murmansk Shipping Company steht noch aus. Im Büro von Sergeij ist ein junger Anwalt, der mit uns den Vertrag unterzeichnen soll. Der Vertrag ist zweisprachig in Englisch und Russisch abgefasst. Es gibt Übersetzungsfehler, inhaltliche zudem, der Vertrag wird immer wieder geändert, und wenn er dann endlich unterzeichnet ist, wird er in einer oberen Etage der Murmansk Shipping Company wieder verworfen. Als wir endlich auf die Reise gehen, ist die endgültige Version immer noch nicht gefunden, aber alles ist tausendmal unterschrieben und gestempelt – keiner blickt mehr durch, am allerwenigsten offenbar der smarte Anwalt, dem seine Chefs ständig in den Rücken fallen.

Am 27. Juli um 09:30 Uhr kommen endlich Zoll und Grenzschutz an Bord, um uns auszuklarieren. Um 10 Uhr kommt der Hafenlotse dazu und um 10:45 werfen wir die Leinen los. Ich kann es kaum glauben, aber offenbar dürfen wir endlich – nach zwölf Tagen Bürokratenmarathon – los. Wieder geht es vorbei an Atom U-Booten der Marke KURSK, an der verbotenen Stadt, an Schiffswracks und einer ansonsten harmlosen nordischen Fjordlandschaft. Endlich beginnt die Reise durch die Nordostpassage.

Als Abschied geben wir eine Bordparty, bei der die offiziellen Vertreter der Murmansk Shipping Company sowie der Verwaltung aus Moskau Gäste sind. Es gibt reichlich zu essen und – wie immer in Russland – reichlich Vodka.

Im Zentrum von Murmansk machen wir an einer Pier fest. Hinter uns liegt die VAGABOND des Franzosen Eric Brossier. Sie warten schon seit fünf Wochen auf eine Genehmigung.

Um uns die Wartezeit zu vertreiben, angeln wir mit den Offizieren Dorsche, während Elise sie schlachtet und ausnimmt.

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Yaş sınırı:
18+
Litres'teki yayın tarihi:
28 temmuz 2024
Hacim:
406 s. 161 illüstrasyon
ISBN:
9783667112941
Telif hakkı:
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