Kitabı oku: «Die Umrundung des Nordpols», sayfa 4

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Sturm

und Eis

KARASTRASSE

70° 28‘ N; 58° 13‘ E


05




Zwischen dem Wort und der Tat liegt das Eis.

Die Wolkenbank, die sich drohend hinter uns aufbaut, verheißt nicht Gutes. Vorsichtshalber binden wir ein Reff ins Großsegel, fieren das Groß ein wenig auf und behalten die Front, die hinter uns aufzieht, im Auge. Als die Bö uns wenig später trifft, sind wir dennoch von der Heftigkeit überrascht. Der Windmesser zeigt 35 Knoten, gleich drauf 40 Knoten – wir haben viel zu viel Segel oben. »All hands«, brüllt jemand in den Niedergang runter, die DAGMAR AAEN holt weit über, der Großbaum taucht ins Wasser und pflügt gewaltige Fontänen auf. Ich luve an, um in den Wind zu gehen, rufe Katja, Achim und Markus zu, den Klüver zu bergen, jetzt muss alles schnell gehen. Die Manöver sind unzählige Male durchgeführt, jeder Handgriff sitzt – aber das Segel bewegt sich nicht. Der Klüver lässt das Schiff trotz Ruderlage wieder abfallen, die Krängung ist jetzt so stark, dass die Backskisten auf Backbordseite überspült werden. Irgendein Stagreiter klemmt oder das Fall – ich kann es von achtern nicht erkennen. Die Vorschiffleute werfen die Schot los, das Segel schlägt wie wild, bewegt sich aber dennoch nicht. Ich falle wieder ab, gehe vor den Wind. Irgendwie gelingt es schließlich, den Klüver zu bergen, gleich darauf binden wir zwei weitere Reffs ins Groß, die DAGMAR AAEN stabilisiert sich und wir laufen bei nunmehr reduzierter Segelfläche vor dem Wind ab. Aufregende Momente, die uns die behäbigen Hafentage von Murmansk endgültig austreiben.

Das sind die Nachteile eines gaffelgetakelten Kutterriggs. Die Segelfläche des Groß ist enorm, hinzu kommen der schwere Baum und die Gaffel. Wenn der richtige Zeitpunkt zum Reffen verpasst ist, wird ein Reffmanöver immer zu einer sehr ernsten Angelegenheit. Vor der Erneuerung des Riggs hatte ich daher durchaus daran gedacht, das Schiff als Schoner oder Ketsch umzutakeln. Kleinere Segelflächen verteilt auf zwei Masten lassen sich in jedem Fall leichter handeln und man kann bei schlagartig wechselnden Wetterlagen schneller reagieren. Es spricht tatsächlich vieles dafür.

Aber auch wenn es vielleicht bisweilen unpraktisch ist, das Rigg eines Gaffelkutters ist einfach ästhetisch und schön. Und zudem bringt es Spaß, mit einer eingespielten Mannschaft dieses Schiff zu segeln.

Die Zeichen bleiben weiterhin auf Sturm stehen. Unter dreifach gerefftem Groß und der Fock laufen wir fast 7 Knoten, das Schiff zieht unverdrossen weiter Richtung Osten. Strecktaue werden an Deck gespannt, der defekte Stagreiter am Klüver ausgewechselt, Tauwerk aufgeschossen und durchnässte Kleidungsstücke im Maschinenraum zum Trocknen aufgehängt. Der plötzliche Wetterumschwung hat auch sein Gutes: Plötzlich ist Murmansk in weite Ferne gerückt.

Noch immer zeigen die Eiskarten dichtes Eis im Bereich der Karastraße, jener Meeresenge, die die Barentssee von der Karasee trennt. Jugorski Shar, südlich der Karastraße gelegen, ist noch total blockiert. Würden wir zu früh in die Karastraße einfahren, hätten wir nichts gewonnen. Im Gegenteil! Wir würden im Eis herumlavieren, Material und Nerven strapazieren und dennoch nicht schneller vorankommen, als wenn wir die Jahreszeit für uns arbeiten lassen. Mit Gewalt lässt sich in diesen Breiten nichts erreichen.

Die Durchfahrung der Nordostpassage ist unter anderem deshalb so schwierig, weil es ganz klar definierte Schlüsselstellen gibt, die man zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt erreichen beziehungsweise passieren muss. Ist man zu früh, kommt man nicht durch und hängt im Eis fest. Ist man zu spät, kann man vielleicht noch diese eine Stelle passieren, dafür aber nicht mehr die nächste, weil sich das Eis dort schon wieder geschlossen hat. Und von solchen Stellen kann die Nordostpassage gleich mit einer ganzen Handvoll aufwarten: die Karastraße, das Nordenskiöld-Archipel, Kap Tscheljuskin als der Knackpunkt schlechthin, die Dmitri-Laptev-Straße, das Ayon-Eis sowie die als Schiffsfriedhof berühmt-berüchtigte De Long-Straße. Zum richtigen Zeitpunkt an der richtigen Stelle sein – das ist unsere Strategie.

Genau um diese Möglichkeit hatte man uns bei unserem letzten Versuch im Jahre 1994 gebracht. Indem man uns in Providenija festhielt, konnten wir diesen eng gesteckten Zeitplan nicht mehr einhalten, versuchten es dennoch und verloren dabei um ein Haar das Schiff.

Bei unserem jetzigen Versuch stehen uns allerdings auch andere Informationsquellen zur Verfügung. Anders als bei den vorangegangenen Fahrten, bei denen wir fast ausschließlich auf die recht dürftigen Eisinformationen der Russen angewiesen waren, sind wir jetzt unabhängig. Lars Kaleschke, ein junger Wissenschaftler von der Uni Bremen, hatte sich angeboten, uns per Satellit jeweils die neuesten Eiskarten zu übermitteln. Täglich bereitet er die Informationen auf, die er wiederum von Wetterbeobachtungssatelliten erhält, fertigt danach eine Karte für uns und schickt sie per E-Mail an Bord. Es ist bei weitem die genaueste Eisvorhersage, die wir jemals auf einer Expedition bekommen haben.

Darüber hinaus – und das ist vielleicht das Wichtigste – muss man trotz aller technischen Möglichkeiten seine Erfahrung und seinen Verstand gebrauchen. Die Auflösung der Eiskarten gibt keine Detailinformation preis. Man muss sie zu interpretieren wissen und die aktuelle Wetterlage mit in die Überlegung einbeziehen, bevor man sich ins Eis begibt.

Eisfahrten erscheinen mir immer wie ein Schachspiel. Indem man die Eisfelder erreicht, eröffnet man das Spiel. Das Eis macht den nächsten Zug. Mal verhalten, mal gutmütig, dann wieder aggressiv und unerwartet. Man ist ständig in der Defensive und rechnet immer mit dem Schlimmsten. Sollte man zumindest. »Ice is nice« heißt es so schön und ich kann dem nur zustimmen. Aber Eis ist auch tückisch und bedrohlich und verfügt über ein unglaubliches Zerstörungspotenzial. Dabei wirkt es immer harmlos und versucht einen in die Falle zu führen.

»So schlimm ist das doch alles gar nicht«, ist eine verhängnisvolle Geisteshaltung, weil sie einen leichtfertig und nachlässig werden lässt. Und dann schlägt das Eis plötzlich zu! Ich merke das besonders gut bei den Crewmitgliedern an Bord, die noch nie im Eis waren. Ulli, der die Expedition als Maler begleitet, kann es gar nicht abwarten, die ersten Eisfelder zu sehen. Dicht und gewaltig sollen sie sein, je dramatischer desto besser. Markus denkt ähnlich. Kaum kann er es abwarten, bis die ersten Eisfelder auftauchen. Die anderen sind je nach der Intensität ihrer Eiserfahrung verhaltener. Elise, die zwar genügend Eis gesehen hat und auch die eingefrorene DAGMAR AAEN kennt, hat die Bedrohlichkeit von Eispressungen noch nicht miterlebt. Achim, Katja und Torsten, die an der Ostküste Grönlands an Bord waren, sind da schon zurückhaltender, und Slava, Henryk, Brigitte und ich freuen uns über jeden Tag, an dem wir noch kein Eis vorfinden. Wir haben die umfangreichste Eiserfahrung. Ich bemerke auch, dass mein vorsichtiges Taktieren bei einigen auf Unverständnis stößt. »Wir sind doch hierher gesegelt, um ins Eis zu fahren«, bekomme ich zu hören.

»Wir sind nicht hier, um ins Eis zu fahren, sondern um durch die Nordostpassage zu segeln. Das ist ein Unterschied. Dabei müssen wir zwangsläufig durchs Eis hindurch. Aber suchen tue ich es ganz sicher nicht.«

»Falsch«, sage ich, »wir sind nicht hier, um ins Eis zu fahren, sondern um durch die Nordostpassage zu segeln. Das ist ein Unterschied. Dabei müssen wir zwangsläufig durchs Eis hindurch. Aber suchen tue ich es ganz sicher nicht.« Zumindest nicht auf dieser Expedition. Die Zielsetzung ist eine andere.

Die Eisverhältnisse in der Nordostpassage ändern sich von Jahr zu Jahr. Es gibt gute Jahre und es gibt schlechte. Das Problem beseht darin, rechtzeitig zu erkennen, in welche Richtung das Pendel ausschlägt. Da man eine Expedition von langer Hand planen muss, gibt es zu diesem frühen Zeitpunkt keinerlei Hinweise, wie sich die Eislage entwickeln wird. Man muss das Risiko auf sich nehmen, dass man ein ungünstiges Jahr erwischt. Die Wahrscheinlichkeit, dass man ein schlechtes Jahr erwischt, ist größer als die, an ein gutes Jahr zu geraten. Wie sich die aktuelle Eislage in einem Sommer entwickeln wird, lässt sich oftmals erst wenige Wochen vorher beurteilen. Die Möglichkeit, auf ein gutes Jahr zu warten um dann erst loszufahren, besteht also nicht. Daran hat sich seit den Zeiten von Eduard Dallmann oder Fridtjof Nansen nichts geändert. Allerdings gibt es in diesem Sommer Hinweise dafür, dass das Frühjahr im Norden Norwegens und auch in den angrenzenden russischen Gebieten ungewöhnlich warm und milde war. Das lässt zumindest hoffen. Vergleiche mit den Vorjahren zeigen uns, dass die Eisfelder weiter im Osten in dem Maße abnehmen, wie es in einem durchschnittlichen Jahr zu erwarten wäre. Ein durchschnittliches Jahr gibt uns zumindest eine faire Chance.

Seit wir Murmansk verlassen haben, sind uns mit Ausnahme einiger russischer Trawler keine Schiffe begegnet. Wir sind allein auf weiter Flur. Ich hatte bei unseren täglichen Besuchen bei der Murmansk Shipping Company versucht herauszufinden, warum die Eisbrecherflotte untätig im Hafen liegt. Warum gibt es kein Frachtaufkommen innerhalb der Passage? Neben dem Eisbrecher YAMAL, der seine alljährliche Nordpol-Kreuzfahrt unternimmt, sind offenbar nur zwei weitere Eisbrecher im Einsatz: die TAYMYR, die wir noch in Murmansk in der Werft gesehen haben, sowie die SOVIETSKI sojus, einer der großen 75.000 PS starken Atomeisbrecher. Letzterer sollte im Bereich der Karastraße liegen und dort Schiff, die zum Jenissei oder Ob wollen, durchs Eis geleiten. Einen Konvoi, der die gesamte Passage befährt, gibt es dieses Jahr nicht – wie auch schon in den vorangegangenen Jahren. Nach dem Grund befragt, ernten wir nur ein Schulterzucken – no comment!

So sieht Rainer Ullrich die Annäherung an die Karastraße bei stürmischen Wetter. Losgelöst vom Schiff, kann ein Maler eine beliebige Position einnehmen.

Das stürmische Wetter hält an, Murmansk gibt sogar eine Sturmwarnung aus. Um nicht bei Sturm und Seegang in die Eisfelder der Karastraße einzufahren, entschließe ich mich, in Lee der Kolgujev-Insel beizudrehen und auf eine Wetterbesserung zu warten. Einmal in den Eisfeldern drin, hat der Seegang keine Auswirkungen mehr, da das Eis die See glättet. Die Schwierigkeit besteht darin, erst einmal weit genug ins Eis zu gelangen, bis sich die See beruhigt hat. Davor geht es nämlich zu wie auf einem Verschiebebahnhof. Eisschollen werden von der Dünung hin- und hergeworfen, prallen aufeinander und ändern unberechenbar ihre Richtung. Bei einem Seegang von drei bis vier Metern spielen sich dabei spektakuläre Szenen ab. Wehe dem Schiff, das von einer surfenden Eisscholle gerammt wird! Wenn ich es vermeiden kann, warte ich ab und fahre bei günstigeren Verhältnissen ins Eis, so wie jetzt.

Wir setzen Trysegel und Sturmfock und liegen bei. Sofort liegt das Schiff verhältnismäßig ruhig, wir gehen unter Deck und genießen die Ruhe. Als am nächsten Tag der Wind nachlässt, setzen wir wieder volle Segel und nehmen Kurs auf die Karastraße.

Das Wissen um die Wetterentwicklung ist für die Durchfahrung der Nordostpassage äußerst wichtig, weil das Eis mit dem Wind driftet. Verfügt man also über eine verlässliche Prognose über die Wetterentwicklung der nächsten Tage, ist die Entscheidung darüber leichter, ob man ins Eis hineinfährt oder besser nicht. Ablandiger Wind treibt das Eis von der Küste fort und lässt dadurch eine eisfreie Rinne entstehen, auflandiger Wind schiebt das Eis und gegebenenfalls das Schiff auf die Küste – mit einem möglicherweise katastrophalen Ausgang. Der tägliche Wetterbericht des Deutschen Seewetterdienstes war für uns deshalb von größter Bedeutung. Sozusagen als Gegenleistung haben wir uns dazu verpflichtet, als Wetterbeobachtungsschiff zu agieren. Unter Martins Obhut wurden bis zu sechsmal täglich genaue Wetterbeobachtungen nach einer Vorgabe des DWD durchgeführt und anschließend über Inmarsat nach Hamburg durchgegeben. Die Daten fließen in einen Rechner ein und speisen die Wettermodelle mit entsprechenden Angaben. Da nahezu alle russischen Wetterstationen ihren Dienst eingestellt haben, fehlen von dort oben Messdaten, die wir jetzt liefern können. In komprimierter Form senden wir die Wetterdaten täglich auch noch nach Moskau in das Büro von Arthur Chilingarov, wie ich ihm das bei meinem Besuch in Moskau versprochen hatte. Auf einem relativ kleinen Schiff wie der DAGMAR AAEN nehmen die Messungen von Luft- und Wassertemperatur sowie Windrichtung und -geschwindigkeit, Taupunkt und Wolkenformationen, das Codieren und anschließende Versenden der Daten ziemlich viel Zeit in Anspruch. Zwischen dreißig und vierzig Minuten dauert der Vorgang. Trotzdem wird es durchgezogen.

Am 1. August erreichen wir die Karastraße. Es herrscht rund um die Uhr Tageslicht, daher spielt es keine Rolle, dass wir uns dem Eis während der Nachtstunden nähern. Zu beiden Seiten taucht in der Ferne Land auf, im Norden zeigen sich die Umrisse von Nowaja Zemlja. Es ist strengstens verboten, sich der Insel zu nähern geschweige denn sie zu betreten. Es ist ganz sicher auch nicht ratsam, zumindest nicht, wenn einem an seiner Gesundheit etwas liegt. Auf dieser Insel haben die größten überirdischen Atombombentests der Geschichte stattgefunden. Die langgestreckte Insel – ursprünglich ein Naturparadies – ist im unteren Drittel von der so genannten Matoshin Shar durchbrochen. Dieser Fjord, der noch zu Dallmanns Zeiten Schutzhafen und Zugangsmöglichkeit zur Karastraße darstellte, ist heute offenbar hochgradig nuklear verseucht. Die größte jemals gezündete Bombe soll eine Sprengkraft von 50 Millionen Tonnen TNT gehabt haben, was der 4.000-fachen Sprengkraft der Hiroshima-Bombe entspricht – und es war offenbar nur eine von vielen. Das kontaminierte Terrain wartet immer noch auf eine Sanierung – sofern dies technisch überhaupt machbar ist. Die Region wurde zum Sperrgebiet erklärt, Informationen, wie es heute dort aussieht, unterliegen nach wie vor der Geheimhaltung. Lediglich der Norden der Insel soll offenbar unbelastet sein.

Als wir diese riesige Insel mit ihren schneebedeckten Bergen und Tälern am Horizont auftauchen sehen, verfluchen wir einmal mehr die Leichtfertigkeit, mit der man ganze Landstriche verwüstet und sie für Generationen zu einer nuklearen Wüste verkommen lassen hat, in der es auf Dauer kein Leben geben kann.

In der Karasee wurden in den Siebziger- und Achtzigerjahren zudem ungeheure Mengen an abgebrannten Kernbrennstäben versenkt, die auf Eisbrechern oder Marineschiffen verwendet wurden. Der erste nuklearbetriebene Eisbrecher LENIN hat dort gleich ganze Generationen seiner offenbar störanfälligen Reaktoren versenkt. Wo und in welchem Zustand sich der Atommüll heute befindet, ist ebenfalls ungewiss. Für ein Sanierungsprogramm fehlt offenbar das Geld und wohl auch die Einsicht zur Notwenigkeit. Und überhaupt, wohin mit dem Kram? Mehrere Jahrgänge von ausgedienten U-Booten und Reaktoren aus den zivilen wie militärischen Bereichen warten dort auf ihre Verschrottung. 1991 lagerten an Bord der im Hafen von Murmansk aufgelegten LENIN die Brennstäbe ganzer Reaktorgenerationen, sozusagen als Zwischenlager. Der ausgediente Frachter LEPSE soll angeblich noch heute als schwimmende Atommülldeponie dienen, ebenso wie die WOLODARSKIJ, ein anderer ausgedienter Frachter. Alles in unmittelbarer Nähe von Murmansk. Die Kernkraftwerke dieser Region würden in der westlichen Welt umgehend vom Netz genommen werden müssen, so marode sind sie. Was darüber hinaus noch in den geheimen und als absolutes Sperrgebiet ausgewiesenen Militärbasen wie etwa Seweromorsk lagert, weiß keiner. Darüber kann nur spekuliert werden.

»Die Stimmung an Bord ist ausgelassen, ›das ist ja alles gar kein Problem‹, lautet die Einschätzung. Eine Bewertung, die wenig später in aller Stille revidiert wird.«

Die ersten Eisschollen, auf die wir treffen, werden mit großem Hallo empfangen. »Endlich Eis«, höre ich Elise jubeln, so als ob es sich um ein Geschenk des Himmels handeln würde. Ich merke, wie sich bei mir die alte Unruhe ausbreitet, die ich immer verspüre, wenn ich ins Eis fahre. Es ist eine Art der inneren Anspannung, wie sie ein Regattasegler vor dem Start empfindet. Die Konzentration wächst und alle Sinne werden geschärft, alles andere tritt in den Hintergrund.

Tatsächlich sieht es großartig aus. In der niedrig stehenden Sonne zeichnet das Licht weiche Pastelltöne, die Ulli umgehend zu den Stiften und Pinseln greifen lässt. Ununterbrochen sitzt er an Deck und bringt die Stimmungen mit einer Intensität und einem Einfühlungsvermögen aufs Papier, dass wir nur staunen können. Seitdem er in Tromsø an Bord gekommen ist, malt Ulli jeden Tag, ganz gleich wie das Wetter ist. Sein Tagebuch, seine unglaubliche Begabung, Eindrücke zu sammeln und sie ins Bild zu setzen, versetzt uns alle immer wieder in Erstaunen. Im Laufe der Reise entsteht auf diese Art und Weise ein einzigartiges Dokument.

Obwohl uns Murmansk die Empfehlung ausgesprochen hat, einen nördlichen Kurs durch die Eisfelder zu nehmen, wählen wir einen südlicheren, da unsere Eiskarten dort günstigere Verhältnisse ausweisen. Irgendwo weiter im Norden soll die SOVIETSKI sojus auf Station liegen, aber mit dem Eisbrecher haben wir ohnehin nichts zu tun. In Murmansk hatte man uns wissen lassen, dass uns jeder Tag, an dem uns ein Eisbrecher helfen würde, 44.0 US $ kosten würde. Wir hatten dankend abgelehnt.

Die Karastraße ist der erste Flaschenhals, den wir passieren müssen. Die starken westlichen Winde der vorangegangenen Tage haben das Eis überwiegend aus der Enge geblasen, aber dahinter wartet es auf uns. Die Stimmung an Bord ist ausgelassen, »das ist ja alles gar kein Problem«, lautet die Einschätzung. Eine Bewertung, die wenig später in aller Stille revidiert wird. Fast glauben wir, die Eisfelder schon passiert zu haben, als es wirklich dicht wird. Das sorgt für Irritation – wieso? Irgendwo muss es doch einen Durchgang geben? – Gewiss, aber wo? Vom Mastkorb aus gesehen erstrecken sich vor uns riesige Eisfelder, die zwar immer wieder Streifen schwarzen Wassers aufweisen, die zugleich aber auch im Irgendwo enden. Das Eis treibt. Fahren wir dort hinein, droht es uns einzuschließen. »Fahre niemals in unübersichtliches Eis«, lautet eine alte Regel der Eismeerfahrer. Abwarten können wir aber auch nicht. Also was tun? Wie weit müssen wir nach Süden ausweichen – und gibt es dort vielleicht nicht auch noch Küsteneis, das uns den Weg versperren wird? Mit einem Mal weicht die ausgelassene Stimmung und Freude über das Eis einer gewissen Ernsthaftigkeit. Ständig steht jemand oben im Krähennest und sucht Schneisen. Vorn am Bug steht eine weitere Person und zeigt mit ausgestrecktem Arm dem Rudergänger die Richtung an, in die er steuern muss. Ich berate mich mit Martin und treffe die Entscheidung, noch weiter nach Süden auszuweichen, da vor uns alles dicht ist. Das alte Spiel hat wieder angefangen.

Die DAGMAR AAEN trifft auf ein Eisfeld.

Ein heftiger Stoß geht durchs ganze Schiff, als der Rudergänger nicht schnell genug die vom Vorschiffmann angewiesene Kursänderung durchführen kann. Mit über 5 Knoten knallt der stahlbewehrte Steven der DAGMAR AAEN gegen eine Eisscholle, die genauso wenig nachgibt wie eine Kaimauer. Ich bin ärgerlich und lasse meinem Unmut freien Lauf. »Völlig unnötig so etwas!«, rufe ich verdrossen, »das ist erst der Anfang und ihr fahrt hier durch das Eis als sei es Styropor!«

Die DAGMAR AAEN kann das zum Glück ab, aber so etwas darf einfach nicht passieren. Ein schwächer gebautes Schiff hätte jetzt ein Loch oder zumindest eine gewaltige Beule. Aber das Erlebnis sorgt dafür, dass dem Eis fortan mit mehr Respekt begegnet wird. Konzentriert wird Ausguck gegangen. Der Rudergänger gerät trotz der kühlen Witterung ins Schwitzen, da er ständig am Kurbeln ist. Im Zickzackkurs geht es weiter. Gegen Mittag macht sich eine leichte Dünung bemerkbar, ein untrügliches Zeichen dafür, dass sich das Eis ausdünnt.

Dafür kommt ein »eisiges« Fax aus Murmansk an Bord geflattert. In einem harschen Ton werden wir aufgefordert, angefügte Erklärung zu unterschreiben und unverzüglich nach Moskau zu faxen – anderenfalls würden wir im nächsten Hafen festgenommen werden. Slava ist empört. »Wir haben alle Papiere, sämtliche Genehmigungen, was soll das nun schon wieder?« Das Papier wäre kurios, wäre es nicht in einem so geharnischten Tonfall verfasst. Der Inhalt lässt sich in einen Satz zusammenfassen: Wir müssen zusichern, dass wir keinerlei militärische Anlagen fotografieren werden – und sie nicht einmal beobachten würden! Militärische Anlagen dürfen in der Regel nirgendwo auf der Welt fotografiert oder gefilmt werden. Aber hinschauen? Wer wollte uns das verwehren oder gar überprüfen? Slava hatte zudem in Murmansk bereits gefragt, ob es Sperrgebiete gibt, denen wir nicht zu nahe kommen dürften. Mit dem Hinweis, dass man uns diese Gebiete nicht nennen könne, weil wir dann ja um ein militärisches Geheimnis wüssten, hatte man uns diese Information verweigert. Mit einer Ausnahme – Nowaja Zemlja! Aber wie sollen wir wissen, wo wir hinschauen dürfen und wo nicht, wenn uns Gebiete der militärischen Anlagen nicht bekannt sind? Es gibt keine Angaben von Sicherheitszonen oder Sperrgebieten – es ist kurios. Wenn es nach den Behörden ginge, müssten wir mit geschlossenen Augen durch die Passage segeln. Aber was soll’s. Wir sind hier, und Moskau ist weit weg. Brav unterschreibe ich alle Papiere und faxe sie nach Moskau. So einfach ist das. Es lebe der Formalismus.

Das Wetter bleibt schlecht. Wir haben Gegenwind und dampfen gegenan. Je weiter wir uns dem Mündungsgebiet von Ob und Jenissei nähern, desto häufiger treffen wir auf Baumstämme. Die teilweise riesigen Stämme stammen von den Holzeinschlaggebieten im Inneren Sibiriens. Bisweilen treffen wir auf ganze Felder von Baumstämmen, von denen einige senkrecht treiben und daher schwer auszumachen sind. Ansonsten bleibt das Meer leer. Keine Schiffe weit und breit. Was ist aus den Visionen eines Jonas Lied, eines Eduard Dallmann oder eines Kapitän Wiggins geworden? Was aus der Infrastruktur zur Zeit der Sowjetunion? Eine ganze Region mit einem ungeheuren Potenzial liegt brach und scheint in einen Dornröschenschlaf versunken zu sein.

Die DAGMAR AAEN in ihrem Element. Irgendwie kann ich mich des Gefühls nicht erwehren, dass dem Schiff das raue Wetter Spaß bringt. Wir hingegen müssen uns erst wieder daran gewöhnen.

Auch wenn das Eis auf den ersten Blick mürbe wirkt – es ist immer noch etwa zwei Meter dick.

Frank Mertens betrachtet auf dem Rechner die Bahndaten der NOAA-Satelliten. Werden wir eine brauchbare Eiskarte erhalten?

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Litres'teki yayın tarihi:
28 temmuz 2024
Hacim:
406 s. 161 illüstrasyon
ISBN:
9783667112941
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