Kitabı oku: «Natur-Dialoge», sayfa 5
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»Sobald ein feines Weberschiffchen Himmel, Industrie, Texte, Seelen und moralisches Gesetz miteinander verwebt, wird es unheimlich, unvorstellbar und unstatthaft.«
Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen, S. 10
Grüne Grenzen
Nun aber zurück in die Praxis – genauer in die psychotherapeutische Praxis. Zu einem Ort also, in dem sich dazu ausgebildete Menschen darum bemühen, anderen Menschen zu besserer Lebensqualität zu verhelfen. Was und wie hier genau vonstattengeht, -gehen soll und -gehen darf, das prägen die psychotherapeutischen Schulen, die sich in theoretischen und methodischen Zugängen unterscheiden und überschneiden, vor allem jedoch die kulturellen sowie sozial- oder gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen. Diese ermöglichen und wachen mithilfe ihrer rechtlichen Strukturen, ihrer finanzsteuernden Institutionen und den fachlichen Diskursprozessen darüber, dass – salopp gesprochen – überall, wo Psychotherapie draufsteht, auch Psychotherapie drinnen ist (oder auch psychologische Beratung, Lebens- und Sozialberatung und anderes). Selbst wenn die Psychotherapie ein relativ junges berufliches Gewerbe ist, so ist sie, wie jedes andere moderne Berufsbild auch, ständig Anpassungen und Veränderungen ausgesetzt. Qualität und Sicherheit gegenüber den Klient:innen, gegenüber den institutionellen Partnern, gegenüber dem kollegialen Netzwerk sowie gegenüber dem relevanten öffentlichen Raum fordern und fördern Qualitätsstandardisierungen, Dokumentationsrichtlinien und Schutzkonzepte.13 Wer in diesem Feld eine professionelle und offizielle Anerkennung anstrebt oder repräsentiert, wird die Reinheitsgebote seiner Gilde und ihrer Umgebung mitgestalten und umsetzen. Er oder sie oder die Praxisgemeinschaft muss reflektierend anerkennen, was Psychotherapie (oder auch jede andere Profession) ist, was sie für wen und mit wem tut und was nicht. Wie und wie lange sie es tut, und letztlich auch, wo sie es tut. Das Ausverhandeln der professional-territorialen Grenzen schafft ein komplexes Zusammenspiel von Systemen und Strukturen. Es ist ein hochpolitisches Geschehen, das zwischen Ärzt:innen, Psycholog:innen, Psychotherapeut:innen, Lebens- und Sozialberater:innen, Sozialarbeiter:innen, Seelsorger:innen, Priester:innen, Physiotherapeut:innen, Naturheilpraktiker:innen, zwischen Komplementärtherapien, Apotheken, Pharmabetrieben, Berufsverbänden, medizinischem Fachpersonal, Rettung und Notfallstellen, Rechtsbestimmungen, Schaman:innen, Gurus und Zen-Meister:innen, Krankenkassen und Hausmittelkundigen, Medien, Verlagen, Banken, Hauseigentümer:innen, Ombudsstellen, arbeitsmarktlichen Bestimmungen, freimarktlichen Dynamiken, freilich den Hilfesuchenden selbst und ganz vielen, die ich hier nicht aufgezählt habe, im Gange ist. Welch ein vielarmiges Geschehen, das ständig darum bemüht ist, saubere Grenzen und einen ebensolchen Grenzverkehr sicherzustellen! Dennoch – so scheint es – sind Schmuggler und Schlepper ständig am Werk. Von besonderer Bedeutung für uns scheint mir noch etwas: nämlich die vielen Kilometer der sogenannten grünen und blauen Grenzräume.
Dort bei diesen Wäldern, Auen, Bergen, Steppen, Wüsten, Flüssen oder Meeren findet fortwährend Austausch statt. Vögel, Füchse, Schnecken, Samen, Mikroben, Bären, Wölfe, Pilze, Pflanzen, Viren, radioaktive Strahlung, Wüstensand – alles überschreitet in unserer Biosphäre unermüdlich nationale Grenzen und gestaltet fortwährend in Bewegung topografische Rand- und Übergangsräume. Fruchtbar und furchtbar zugleich, je nach Betrachtung und Interesse. Naturgemäß sind auch Menschen und ihre Schicksale an diesen grünen Grenzen unterwegs. Dunkle und helle Momente des Menschlichen erzählen sich hier, damals wie heute: Menschenschmuggel, Flüchtlings- und Rettungsschifffahrt und Grenzhilfen der besonderen Art.14
Moderne Trennungen
Landesgrenzen werden bekanntlich an Grenzposten entlang von Luft-, Land- und Wasserstraßen gehütet. Sie sind genau genommen nicht mehr als wenige Punkte entlang ausgewählter Linien. Es handelt sich um Repräsentanten eines wesentlich umfassenderen Raumes, der ein Land ausmacht. Wir sind es gewöhnt, diese Verkehrspunkte, -knoten und -linien zu einer gesamten Fläche zusammenzudenken. Das hat vereinfachende Wirkung, ist jedoch – um in Batesons Jargon zu bleiben – ungenau. Diversität und Größe des irdischen, natürlichen Raumes kippen aus unserer Aufmerksamkeit, gehen im stereotypen Netz nationaler Grenzpunkte verloren. Sie rücken erst dann wieder ins Bewusstsein, wenn soziale, politische, ökonomische oder biologische Umstände die repräsentierenden Grenzübergänge in Frage stellen. Dann wird an andere Stellen ausgewichen und versucht, in das Gebiet »einzufallen«.
Dazu fällt mir eine berührende Geschichte ein: Viele Jahre lang sind wir von unseren Seminarreisen in Griechenland mit den Autofähren von Patras, Peloponnes, nach Venedig, Italien, gefahren. Es war noch zu einer Zeit, in der wir mit Kajaks, also mit einem Anhänger voller schlanker Boote unterwegs waren. Der Fährhafen von Patras war jedes Jahr von einem höheren, jedoch noch improvisierten Zaun eingefasst, an dem sich Flüchtlinge und Asylsuchende drängten, nach irgendwelchen Schlupflöchern Ausschau haltend, durch die sie sich im dichten Gemenge von LKWs und Autos einen Weg ins Innere dieser Schiffe bahnen konnten. Welch trauriges, ja unglaubliches und unwürdiges »Schauspiel« für alle Anwesenden. Wir also fuhren mit unserem Auto und seinem Anhänger, mit unseren Pässen und Tickets auf das Schiff, schaukelten sicher durch das Mittelmeer und fuhren – wie schon so oft – von Venedig hoch, über Südtirol, den Brennerpass und von dort Richtung Westen in die Schweiz. Als wir in Vorarlberg an einer Tankstelle Halt machten (ca. fünfeinhalb Stunden später), fiel mir sozusagen mein Herz in die Hose, als ich es deutlich aus einem der Boote klopfen hörte! Wir konnten und wollten gar nicht glauben, was jedoch immer wirklicher wurde: Wir hatten in einem unserer Kajaks einen blinden Passagier! Als schließlich dieser Jemand seine kleine Hand aus der Sitzluke streckte, war es für uns alle unübersehbar: Da war ein Mensch. Seit wann, wissen wir nicht, sicherlich jedoch seit Venedig, in einer Kajakluke untergebracht, mit uns über die Alpen gefahren! Wer schon mal in einem Kajak gesessen ist, kennt die Kleinheit des Raumes, und es ist klar, dass ihm, wer auch immer er war, von anderen geholfen wurde. Und jetzt stehen wir mit ihm in Vorarlberg. Was ist jetzt die gute Hilfe? Wir sprachen ihn an, berieten miteinander und entschieden, die Polizei zu kontaktieren. Was hätten wir tun sollen? Wenn es für ihn eine Chance gab, dann über den formellen Asylweg. Berührt bin ich heute noch, auf welch schöne und sichernde, kompetente Weise jene Polizistin und ihr Kollege diesen hageren Menschen aufgenommen haben, den wir in ihrer Anwesenheit wenige Minuten später aus dem Boot befreit haben. »Ihr kommt aus Patras, okay, alles klar, da ist viel los«, kommentierten sie mitfühlend. Wie seine Geschichte weiterging, das kann ich nicht sagen. Wir hoffen, die waghalsigen Abenteuer illegaler Grenzüberschreitung haben ihn an einen lebenswerten Ort geführt. Der Hafen von Patras wurde übrigens am Stadtrand neu gebaut und mit neuen soliden Mauern versehen. Das änderte an der Situation der Migrationsbewegung jedoch wenig.
Wer dieses Hin und Her auf allen (Un-)Wegen eindämmen will, muss auf Erden gewaltige Mauern, eiserne Vorhänge und Zäune bauen, muss zu Wasser und zu Land patrouillieren und überdies in der Luft kontrollieren und organisieren. Diese Projekte sind allesamt sehr aufwändig und fehleranfällig, werden als bedrohlich bis unwürdig erlebt und führen uns Tag für Tag vor Augen, dass saubere Trennungen von Ländern oder politischen Gebilden illusorisch sind. Diese Trennungsideen mögen noch viel menschliches Leid und weite Auslöschungen von kultureller und biologischer Diversität mit sich bringen, aber auch der beständige lebendige Austausch wird gesehen und ungesehen fortdauern und »Mauern fallen lassen«.
Ebenso wie Grenzübergänge nicht das ganze Land sind, umfassen die kulturellen Vereinbarungen, die heute unser Verständnis von psycho-sozialer Beratung prägen, noch lange nicht das ganze soziale Geschehen, das uns bewegt. Es sind lediglich Netzwerkpunkte, die wir zu einem vereinfachenden und vermeintlichen Ganzen zusammenfassen. Hier wie dort geraten dabei die grünen Grenzräume für gewöhnlich aus dem Blick, und auch hier wirken Trennungsideen bzw. Handlungsabkommen.
Unsere moderne Welt fordert zwei wesentliche Unterscheidungen: Sie besteht darauf, dass wir als Menschen von einer nichtmenschlichen Dingwelt getrennt sind. Sie gründet demnach in der Vorstellung, dass das Menschliche eine eigene Welt, ja oft sogar eine extraterrestrisch verstandene Welt bildet. Zusätzlich verweist sie darauf, dass das einzelne menschliche Individuum autonom und selbstbestimmt von den anderen Menschen verstanden werden muss. Diese Fokussierungen auf das unabhängige, frei kreative Menschliche, gepaart mit dem Glauben an das abgegrenzte, autonome Individuum an sich, bilden die Basis unserer Moderne und finden ihren Widerhall in allen gesellschaftlichen Bereichen.15
Nicht verwunderlich, dass sich auch die anerkannte Psychotherapie in diesen Sichtweisen entwickelt hat und ihr Knowhow diesen beiden Grundannahmen zur Verfügung stellt. Sie blickt auf das zwischen-menschliche Geschehen, als sei es vom natürlichen Raum losgelöst, und unterstützt das Individuum bei Einsicht und Selbstermächtigung.16
Politisch korrekte Psychotherapie hat sich darauf verständigt, Grenzverschiebungen entlang der gegebenen Straßen zu bewirken, und hält sich selbst und ihre Klienten mithilfe von Diagnose- und Abrechnungsschlüsseln nachweislich auf rechten Wegen. So können tiefenpsychologische Schulen dem Unbewussten Raum geben, müssen in der Reflexion jedoch im vorgegebenen patriarchalen Analyse-Schema bleiben. Humanistische Schulen erlauben zwar emotionale und körperorientierte Expression, jedoch nur mit dem Ziel, das Individuum mit sich selbst zu verbinden. Systemische Schulen denken in familiären und anderen systemischen Bezügen, lassen die »natürliche« oder auch »politische« Umwelt aber oft außen vor.
Unzulässige Verbindungen
Wenn dennoch das ständig-wilde Treiben der vergessenen Ränder, das in unseren Seelenräumen, Erinnerungen, Identitätsfragen und Weltbetrachtungen vielleicht spirituelle, politische, vielleicht ökologische Fragen aufwirbelt und in die gut desinfizierten Praxisräume eindringt, dann bleibt dem Professionellen nur die Empfehlung seiner Klienten in andere Welten. Die gibt es sowohl im klinischen, privat- oder alternativklinischen Bereich als auch im Feld des sogenannten freien Marktes. Allerdings ist auch hier große Vorsicht geboten. Nicht nur die juristische Sachlage, sondern auch die fachlich-kollegiale Grenz- und Tugendwacht sind einigermaßen scharf gestellt.
Auch hierzu fallen mir zwei kleine Geschichten ein. Die eine aus jüngerer, die andere aus fernerer Vergangenheit, und doch sind beide miteinander verwoben.
Die erste Begebenheit: Schon vor und besonders während des Corona-Lockdowns im Frühjahr 2020 waren Online-Kongresse vermehrt im Umlauf. Mehrere Institute und Berufsverbände haben zu der Zeit in gemeinsamer Orchestrierung einen Gratis-Online-Kongress, eine Sammlung von 34 Vorträgen namhafter Psychotherapeut:innen inklusive des Dalai Lama (zwar meines Wissens kein Psychotherapeut, aber weise auf alle Fälle), empfohlen. Ein offenes Angebot, ein historisches Zeitdokument, ein breites Stimmenspektrum von prägenden Frauen und Männern. Als kurz nach Ankündigung dieses Online-Services der Vorstand eines großen österreichischen Berufsverbandes – offenbar aufgrund empörter Stimmen von Mitgliedern – sich offiziell dafür entschuldigen musste, dass er nicht explizit darauf hingewiesen hatte, dass manche der dort vorkommenden Redner:innen dem aktuellen, anerkannten Rahmen nicht entsprächen, da wurde mir mulmig zumute.
Womit dürfen wir uns als Professionelle beschäftigen, ohne in Verruf zu geraten? Muss ein Vorstand eines Berufsverbandes dafür sorgen, dass seine Mitglieder keine falsche Kost zu sich nehmen? Muss das Geschichtsfeld gesäubert werden? Wenn ja, wovon, von wem, und wer kann darüber befinden? Was darf man denken oder erfahren, ohne ermahnt zu werden? Was darf gleichzeitig und nebeneinander sein? Und auch: Was darf-kann miteinander gedacht sein, was darfkann miteinander gesehen, in Bezug und in Dialog gebracht werden?
Besonders jene letzten Fragen ziehen sich wie ein roter Faden durch mein Leben. Sie haben mich in allerlei schöne, aber auch peinliche Situationen geführt und sind offenkundig auch die Leitfragen dieses Buches. Sie sind ergiebig und können in viele Kontexte hineingestellt werden. Besonders nützlich sind sie, wenn wir sie in Zwischenkontexte stellen oder – wozu sie eben neigen – durch sie Zwischenkontexte entstehen.
Das Denken in unzulässigen oder auch einfach nur ungewohnten oder vergessenen Zusammenhängen ist nicht risikolos, auch nicht moralisch erhaben, aber vielleicht dringend nötig, wenn es ums Lebendige geht. Trotz jahrelanger Selbsterfahrung und einigermaßen solider Selbstbildung weiß ich nicht, wieso mir dieses »Zusammensehen« von normalerweise getrennt betrachteten Sachverhalten immer wieder geschehen ist und anhaltend geschieht. Es muss sich um eine angeborene Anomalie handeln, der ich die Treue halte, auch wenn sie mir einige Zurecht- und Zurückweisungen eingebracht hat. Von einer dieser Zurechtweisungen will ich hier gerne als zweite Geschichte erzählen.
Vor ungefähr dreißig Jahren war ich als blutjunge, in Ausbildung befindliche Psychotherapie-Lernende durch eine Verkettung von Umständen Teilnehmerin eines Aufstellungsseminares unter der Leitung von Bert Hellinger17. Zu jener Zeit war diese Arbeit noch eher ein Geheimtipp, die Gruppen umfassten zwischen zwanzig und dreißig Menschen, gearbeitet wurde in einem Dachzimmer einer Pension irgendwo nördlich von Salzburg. Es war ungeheuer aufregend, inspirierend und irritierend zu erleben, in welcher süßlichen Strenge dieser damals schon ältere Herr den Menschen im Raum konzentrierte Aufmerksamkeit schenkte und welche Bilder und Geschichten sich daraus entspinnen konnten. Es war unglaublich beeindruckend und empörend zugleich, welche Atmosphären sich im Raum entwickelt haben: wo Tränen geflossen sind und wo sie verboten wurden. Wo Segen ausgesprochen und nahezu sichtbar wurde, und dann wieder süffisante Kälte jemanden gemeinsam mit seinen Anliegen in Ungnade fallen ließ. Als zuschauende, mitschauende Lernende blieb mir der Mund offen. Hier war ein Vater-Meister am Werk, der sich widerspruchsfreien Hoheitsraum schaffte und in ihm Verknüpfungen und Deutungen einführte, die wahrlich gewagt waren, oft aber scheinbar Sinn stifteten. Hier wurde jemandes Seitenblick zum absolut gewissen Hinweis auf ein verstorbenes Kind; eine Körperhaltung sprach unmissverständlich von unterbrochenen Beziehungslinien; ein Ton in der Stimme erzählte von einer gekränkten Tante, und manchmal musste jemand nur in gewisser Weise einatmen, um Bert Hellinger die Gewissheit zu geben, dass und was nicht in der Ordnung ist, die Ordnung schafft. Hier war eine priesterlich-geistig-primärtherapeutisch-tiefenpsychologisch-szenisch-körperlich-gestische-mystische Mischung am Werk, die sich die Freiheit nahm, Erfahrungen und Wahrnehmungen mit Konzepten und Hypothesen in neue und oft auch bewegende Zusammenhänge zu stellen. Verständlicherweise gebannt von diesem Geschehen, war ich in diesem Dachzimmer mit seinen kleinen Fenstern in all der Zeit doch auch verbunden mit dem Wetter draußen. Wechselhaft zogen Sonne, Regen, Wolken und Winde durchs Land und haben die Gruppe, die Aufstellungen, die Runden auf ihre Art und Weise beleuchtet oder beschattet. Nebst all den Gesten, Verbeugungen, Blicken und Sätzen war ich fasziniert vom Zuspiel der natürlichen Belichtung und sah phänomenologische Zusammenhänge. So hüllte die Sonne zwei Menschen für einen langen Moment in inniger Umarmung und zog sich zurück, als sie wieder auseinandergingen. So grollte ein Donner im Moment höchster Spannung, als der Verrat an einem Bruder im Raum stand. Es zog dicker Nebel auf, wenn von Geheimnissen die Rede war, die besser verdeckt bleiben sollten, und Blitze leiteten die Bewegungen ein, die in einer Familie Ausgleich bringen sollten. Mich interessierte, ob Bert Hellinger in seiner Begleitung solcherlei Phänomenen auch Beachtung schenkte. Ein immerhin gütiger, dennoch strenger und vor allem wissender Blick wurde mir daraufhin zuteil. »Nein, nein, junge Frau, solcherlei Verbindungen bilden unzulässige Zusammenhänge. Wenn einer so schaut, kann er schnell verrückt werden, das ist gefährlich«, erklärte er.18
Das klang einleuchtend. Wo kämen wir hin, wenn wir phänomenologische Zeichenräume nicht mehr nur auf menschliche Interaktionen beschränkt hielten? Also genauer, wo käme unsere Psychologie, unsere Psychotherapie da hin? Dass ein paar Landwirt:innen und Dachdecker:innen, Jäger:innen, Pilot:innen, Fischer:innen oder Schiliftbetreiber:innen hin und wieder ihre Nase raushalten oder eben ihre Maschinen befragen, die ihre Nase verlängern, weil sie trotz aller Moderne noch immer vom unmittelbaren irdischen Raum abhängig sind, das leuchtet ein. Hier wäre sogar fahrlässig, wenn sie es nicht täten!
Anders in den Feldern des »Geistes und der Psyche«. Hier scheint die Annahme des Vom-Raum-Gelöstseins Sicherheit zu garantieren. Die Idee des »reinen Denkens« ist seit längerem in stabiler Liaison mit der Idee des »objektiven Maßes«. Miteinander sind sie zu prägenden Einflussgrößen geworden sind. Das erscheint mir wiederum ziemlich gefährlich.
So oder so ist das Leben irgendwie gefährlich. Meine Mensch-Natur-Raum-verwebende Wahrnehmung hat sich jedenfalls nicht einschüchtern lassen. Dieser Gefahr von Verrück(t)ung bin ich fortwährend ausgesetzt und war und bin damit ja nicht alleine.
Kulturelle Situationen
Uns leitet hier also die Idee des wechselseitigen Miteinander alles Lebendigen, und uns interessieren Wahrnehmungsweisen und Erfahrungen, die dieser Reziprozität nahekommen. Das, was wir denken, tun, fühlen und erleben, ist niemals eine Einbahnstraße. Dieses Ich, mit dem wir uns in der Welt bewegen, ist kein abgeschlossenes Gehäuse, das mithilfe einer beleuchteten Linse von innen nach außen blickt und mit mehr oder weniger Geschick Eindrücke selektiv nach innen nimmt. Ein kleines bisschen mag das zutreffen, aber eben nur ein ganz kleines. Denn während wir mehr oder weniger bewusst das, was uns begegnet, in uns zu verstauen oder einzubauen versuchen, tun andere dasselbe und bringen allenfalls Teile von uns bei sich unter! Und, was die Komplexität noch um ein Vielfaches erhöht: Weil wir ja nur einen Bruchteil der eigentlichen Fülle unserer Sammlung wahrnehmen und verwalten können, sind wir mit einer von unsichtbaren Händen vollzogenen fortwährenden Umschichtung beschäftigt bzw. mit deren Folgen!
Erschwerend kommt ein mitunter latentes Misstrauen gegenüber allem Unbekannten hinzu. Wären wir vertrauensvoll ausgerichtet, so könnten wir davon ausgehen, dass jene unsichtbaren »Hände« im Sinne eines intuitiven Gesamtwissens19 wirken.
Dann könnten wir es uns in uns selbst bequem machen und unseren Impulsen folgen, darauf vertrauend, dass das Unbewusste wohlmeinend mitarbeitet und sich die Dinge fügen. So viel Gelassenheit ist leider für wenige Menschen möglich. Das Maß an getakteter Lebensführung zwingt viele, sich selbst zu optimieren. Glücklich sind darunter diejenigen, die sich dabei in einer soliden, geräumigen und selbstgestalteten Schachtel wähnen, die je nach Bedarf auf verschiedenen Messegeländen zur Ausstellung gebracht werden kann. Schließlich ist und bleibt der Mensch ein soziales Wesen! Weniger glücklich jene, die als Kurator:innen ihrer selbst20 nicht so erfolgreich sind und deren Selbstempfinden immer begrenzter wird. Hier ist eine Tendenz wahrnehmbar, die das Lebensgefühl des Einzelnen, aber auch das von Gemeinschaften isolationistisch verengt. Es herrscht tiefe Verunsicherung rund um Zugehörigkeit und Zugehörigkeitsrechte. Sei es im persönlichen biografischen Erleben, in familiären und sozialen Verbänden oder in nationalen Verfassungen und internationalen Abkommen – überall ist diese Verunsicherung anzutreffen:
Bin ich, sind wir zugehörig? Darf ich, dürfen wir hier sein? Darf ich, dürfen wir mitsprechen? Bin ich, sind wir eine Belastung? Habe ich, haben wir ein Recht auf Teilhabe? Solche Fragen stellen sich ganz normale Kinder, Mütter, Väter in ganz normalen Familien, auch hier in Mitteleuropa. Solche Fragen stellen sich in vielen Ländern der Erde viele Töchter, nur weil sie Töchter und keine Söhne sind.
Solche Fragen stellen sich in Mitteleuropa rumänische Pflegerinnen, portugiesische Strassenarbeiter oder brasilianische Sexarbeiter:innen – um hier ein paar klischeehafte und doch ziemlich reale Lebenslagen anzusprechen. Solche Fragen stellen sich arbeitslos gewordene oder frühpensionierte Facharbeiter, deren Fach es nicht mehr gibt. Diese Fragen stellen sich all diese und noch viele mehr in noch prekäreren Situationen.
Grundgefühle der Isolation und Ohnmacht, seien sie situativ berechtigt oder nicht, bei gleichzeitigem Anspruch auf autonome Selbstbestimmung, sei sie situativ möglich oder nicht, sind schwierig zu verwalten.
Das kann sich in vielen Diagnosebildern und Symptomen ausdrücken: Rückzug und Depression, Wahn und Zwang, Angst und Panik. Die Idee und das Erleben von Isolation ist ein zentraler Verstärker all dieser Dynamiken. Es ist ein schlimmes Nervengift, das das Zusammenleben mit uns selbst, mit anderen Menschen und der Welt verzerrt oder gar zerstört.21
Hat nicht jede soziale Heilkunst zu ihrer Zeit und unter ihren prägenden Annahmen anti-isolationistische Zugänge entwickelt?
Haben indigene Weltenempfindungen nicht Sprache und Methoden entwickelt, um ihre Verbindung zur Ahnenwelt und zu Naturräumen, Kräften, Geistern oder Gött:innen zu halten? Wurde nicht mit dem Erscheinen eines Gottes, der die Geschicke lenkt, die Verbindung mit dieser großen Kraft zur Orientierung des Heils? Ging es rechte Zeit später nicht um die Verbindung zur Vernunft und um Anschluss an Messgeräte, die Ordnung in die Dinge bringen sollten?
Haben nicht alle Strömungen nach der Erfindung von Psychologie und Psychotherapie verschiedene Wege beschritten, relevante Bereiche aus ihrer Singularität zu befreien und in einem sinnvollen Zusammenspiel zu sehen? Zum Beispiel die Bewegungen zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten. Oder den Gefühlen und dem Denken oder zwischen Körper und Bewusstsein, zwischen willkürlichen und unwillkürlichen Lebenserfahrungen. Andere arbeiten an der Verbindung des Ichs mit transpersonalen Kräften, wieder andere bemühen sich um die Verständigung zwischen verschiedenen Ich-Anteilen oder zwischen abgekapselten, selbstständig gewordenen Erinnerungen, ja überhaupt zwischen verschiedenen Selbst-Erzählungen oder Zuschreibungen und natürlich auch zwischen Mitgliedern einer Familie, ja sogar zwischen Verstorbenen und Lebenden.
Man könnte sagen, jede Schule ist in gewisser Weise Spezialistin in der Auflösung von als hinderlich betrachteten Isolationen und fördert die Verbindung von relevant gewordenen Unterscheidungen. Wie auch immer das geschieht, die Erweiterung von Potenziallandschaften durch gezielte Grenzöffnungen ist immer mit im Spiel und erzählt immer auch von der jeweiligen Kultur und den Prämissen der Zeit.
Der sympoietische Ansatz ist so gesehen spezialisiert auf die Anzettelung der Wiederverbindung von menschlichem Bewusstsein und Handlungsvermögen mit der irdischen Welt, dem Raum, den Natur-Kultur-Welten sowie den atmosphärischen Zwischenräumen, die zwischen all dem liegen.
Auch er ist aus der Stunde des kulturellen Moments geboren und geht Hand in Hand mit dem, was heute vielen nötig erscheint.