Kitabı oku: «Der Meerkönig», sayfa 9
»Ja, ich habe Vortheil davon,« antwortete die Frau hastig und mit sichtbarer Anstrengung; »ich habe den Vortheil des Bewußtseins, daß denjenigen, die ich durch meine ruchlose Handlung schädigte, ihre Rechte wieder eingeräumt werden und ich ruhig sterben kann, und ich fühle mich krank genug, um an's Sterben denken zu dürfen. Wenn ich aber todt bin, werden die Leute meines offenen Geständnisses wegen sich meines Kindes erbarmen und es nicht unter freiem Himmel vor Hunger und Kälte umkommen lassen. Du hast ja die langen Jahre hindurch bewiesen, daß Du nicht im Stande bist, für Dein Kind zu sorgen. Das ist mit der Grund, weshalb ich das Geheimniß nicht länger bei mir behalten will; es muß herunter von meiner Seele, denn kann ich selbst auch hungern und frieren, so ertrage ich doch nicht den Anblick der Leiden unseres Kindes.«
»Deine Berechnungen sind nicht ganz sinnlos,« bemerkte der Gauner, der während des letzten Theiles der Rede seiner Frau grübelnd vor sich niedergeschaut hatte. »Es kommt nur darauf an, wer und was die Personen sind, die Dich einst zu dem Diebstahl verleiteten, um zu ermessen, ob sich nicht auf andere Weise größere Vortheile erschwingen ließen.«
»Was meinst Du damit,« fragte die Frau, von einer bösen Ahnung ergriffen.
»Nichts,« antwortete der Mann kurz; »ich wünsche nur die Namen der Leute zu erfahren, die Dich zu dem saubern Geschäfte benutzten.«
»Die Namen? Die Namen habe ich vergessen, aber es waren sehr vornehme Leute,« entgegnete die Frau mit unsicherer Stimme.
»So? Hm, das ist sehr zu bedauern. Vielleicht entsinnst Du Dich der Namen, die auf dem Blatte standen.«
»Die habe ich ebenfalls vergessen; ich glaube, der eine war derselbe, wie diejenigen führten, die mich zu der ruchlosen That veranlaßten.«
»Merkwürdig, wie Du Dein Gedächtniß verloren hast,« versetzte der Gauner mit höhnischer Theilnahme. »Es bleibt mir also nur noch ein letzter Weg übrig; höre mir daher aufmerksam zu. Du weißt, ich mache nicht viel Umstände, und wenn ich eine Drohung ausgesprochen habe, so führe ich sie auch aus. Sieh Dir unser Riekchen noch einmal an, wie schön es ihm schmeckt, und dann denke Dir das Schlimmste. Ich bin also zu dem Schlimmsten entschlossen, wenn Du mir den geringsten Widerstand entgegenstellst; eben so bin ich aber auch mit mir darüber einig, sehr viel für Dich und das Kind zu thun, wenn Du meine Fragen aufrichtig und ohne Umschweife beantwortest.«
Hier schwieg er eine Weile und seine entschlossenen Blicke bohrten sich gleichsam in die Augen seiner besorgt lauschenden Frau ein. Als er dann endlich glaubte, den seinen Zwecken entsprechenden Eindruck auf die Unglückliche ausgeübt zu haben, fuhr er fort: »Wo ist das Blatt aus dem Kirchenbuche?«
»Ich habe es verlegt und verloren, ich hätte es längst dem alten Prediger zurückgebracht, wenn er nicht, bald nachdem ich den Diebstahl beging, gestorben wäre!« ächzte die Frau, ihr Gesicht abwendend.
»Weib, ich frage Dich zum letzten Male: wo ist der Beweis, den Du in des Doctors Hände niederzulegen wünschtest?«
Die Frau schwieg, allein das Zucken und Zittern, der sie bedeckenden Lumpen verrieth die Verzweiflung, in welche die Frage sie gestürzt hatte.
»Ich stehe jetzt auf, und wenn ich erst aufgestanden bin, dürfte es Dir nicht so leicht werden, mich wieder zu Dir zurückzubringen.«
Die Kranke wendete dem Vagabunden ihr erdfahles Gesicht zu, welchem das Entsetzen jeden andern Ausdruck geraubt hatte, und zugleich deutete sie mit dem skelettartig abgemagerten Arme nach einer kleinen, halb offen stehenden Thüre hinüber, die in den einzigen Nebenraum der Wohnung führte.
»Ah,« rief der Mann überrascht aus, »also deshalb konntest Du dem Doctor das Papier nicht einhändigen? Aber es schadet nicht! Sage mir nur genau, in welchem Winkel meines Schlafcabinets Du Deinen Schatz verborgen hast!«
Die Frau zögerte einen Augenblick, dann aber rief sie unter ausbrechenden Thränen:
»Es hilft mir ja Alles nicht, ich bin in Deiner Gewalt, und vor dem Zuchthause wird mich hoffentlich der Tod bewahren! Geh' in die Kammer hinein und taste mit der Hand über der Thür in die zwischen dem Mauerwerke und der Thüreinfassung befindliche Ritze, und Du wirst es finden! Aber wenn Du noch einer Probe von menschlicher Regung fähig bist, so gieb es mir zurück - gieb es mir zurück, und ich verzeihe Dir Alles, was ich durch Dich erduldet habe!«
Die letzten Worte vernahm der Gauner nicht mehr. Er war bereits in die Kammer, einen dunklen, leeren Raum mit einer dürftigen Strohschütte, eingetreten, und schon in der nächsten Minute erschien er wieder mit einem sorfältig in einen unsauberen Zeugstreifen gewickelten Paketchen in der Hand.
»Ist dies das rechte?« fragte er, indem er nach dem Feuerherde schritt.
Die Frau nickte zustimmend und verfolgte mit ängstlichen Blicken die Bewegungen ihres Gatten.
Dieser hatte sich unterdessen dem Feuer genähert und entfernte unter mancherlei Bemerkungen über die Sorgfalt, mit welcher seine Frau das wichtige Document gegen das Vermodern zu schützen gewußt habe, die sechsfache Hülle von dem Paketchen, bis er endlich nur noch ein altes, mit vergilbter Schrift bedecktes Papier in den Händen hielt.
»Richtig, ein Blatt aus einem Kirchenbuche!« rief er frohlockend aus, nachdem er einen prüfenden Blick auf das auseinander gefaltete Folio-Blatt geworfen hatte, und dann begann er, die einzelnen auf demselben verzeichneten Namen für sich zu lesen.
»Lauter Bauern,« sagte er nach einer Weile, als er die eine Seite zu Ende gelesen hatte, »davon ist's natürlich Keiner; doch halt, wen haben wir hier?« rief er plötzlich aus. Als er aber gewahrte, daß die Blicke seiner nunmehr gesättigten Tochter mit starrer Neugierde auf ihn gerichtet waren, ergriff er einen brennenden Holzspan, und sich zu seiner Frau niederneigend, deutete er auf einen Namen.
»Nicht wahr, dieser hier ist's?« fragte er mit unterdrückter und vor innerlicher Freude bebender Stimme.
»Ja, der ist's,« lautete die kaum verständliche Antwort; »aber nun gieb mir auch das Blatt zurück.«
»Vielleicht später,« versetzte der Gauner gefühllos, indem er sich erhob und, das Blatt in seinen auf dem Rücken verschränkten Händen, mit gesenktem Kopfe in dem Gemache auf und ab zu schreiten begann.
Wohl zehn Minuten verstrichen in tiefem Schweigen. In dem Gemache selbst war kein anderes Geräusch vernehmbar, als die schweren Schritte des Mannes, das lustige Knistern des kienreichen Holzes, das gepreßte Athmen der Kranken und das eigenthümliche Pfeifen, mit welchem das Kind, trotz der Nähe des Feuers, in seine braunen, schwieligen Hände hauchte, während aus den anderen Theilen des Hauses wüster Lärm von zankenden Weibern, scheltenden Männern und weinenden Kindern dumpf herüberschallte.
Plötzlich blieb der Gauner mit einer so heftigen Bewegung stehen, daß die Frau, die ihn unausgesetzt, Verzweiflung in den Blicken, beobachtet hatte, erschreckt zusammenfuhr.
»Ich habe mir die Sache überlegt,« hob er mit drohend entschiedenem Wesen an; »es wird sich daraus Etwas machen lassen, wenn man es geschickt anfängt.«
»Du wirst das Blatt doch nicht behalten wollen?« fragte die Frau, sich vor Angst halb aufrichtend.
»Mische Dich nicht in Angelegenheiten, die Du nicht verstehst,« entgegnete der Bösewicht ungeduldig; »allerdings behalte ich das Blatt, und zwar, um zu seiner Zeit guten Gebrauch davon zu machen, was wir schon längst hätten thun können, wärest Du nicht so beschränkten Geistes gewesen.«
»Aber der Doctor, der Doctor, was soll ich ihm antworten, wenn er mir den ihm versprochenen Beweis abverlangt? Gieb mir das Blatt wieder, das Blatt, oder Du erlebst, daß ich zu Deinem und meinem Ankläger werde!«
»Klage uns immerhin an,« hohnlachte der Gauner, »und die nächste Folge wird sein, daß man das Kind von Dir nimmt, Dich aber in's Zuchthaus schickt. Meine Person dagegen? Hahaha! mein Nein gilt so viel, wie Dein Ja, und wer würde wagen, einen unbescholtenen Mann, gegen den keine Beweise vorliegen, in Untersuchung zu ziehen? Hahaha! Noch mehr: Du erhältst das Blatt nicht nur nicht zurück, sondern ich verbiete Dir auch bei allen Strafen, denen ich Dich zu unterwerfen vermag, daß Du ein einziges Wort, sei es nun vor dem Doctor oder irgend einer andern Person, darüber verlauten läßt!«
»Mein Gott, was soll ich antworten, wenn er mich fragt?«
»Thue, was Du willst,« versetzte der Mann trocken; »Du hattest keinen Auftrag, den Doctor in Dein Vertrauen zu ziehen, Du magst also auch zusehen, wie Du Dir aus der Verlegenheit heraushilfst. Sage ihm, er habe geträumt, oder Du habest geträumt; denke Dir irgend ein Märchen aus - aber nur eine Andeutung von der Wahrheit, und ich stürze aus der Kammer herein und werfe den Doctor sammt seinem Zeugen über Hals und Kopf zur Thür hinaus, und ob sie alsdann von unserer Thüre bis auf die Straße auf Rosen wandeln werden, wirst Du wohl ermessen!«
Offenbar wollte die unglückliche Frau ihr Flehen erneuern, doch wurde sie durch den Schall einer auf dem Hofe angebrachten geborstenen, heiseren Klingel daran gehindert.
»Da sind sie,« sagte der Gauner, indem er der Thür zuschritt; »es bleibt also dabei; kein Wort von dem Kirchenbuche!«
Dann auf den Hof hinaustretend, zog er an einer andern, helleren Klingel, auf deren Ton der Lärm in den übrigen Theilen des Hauses, bis auf einige Kinderstimmen, sogleich verstummte, worauf er wieder in das Gemach zurückkehrte.
»Riekchen,« wendete er sich an das zagend zu ihm aufschauende Mädchen, »Du kannst hingehen und die fremden Herrschaften hereinführen. Vergiß aber nicht: Du hast keinen Vater; es ist auch während des ganzen Abends Niemand hier gewesen - und bedanke Dich schönstens für das Abendbrod.«
Das Kind nickte zum Zeichen des Verständnisses und entfernte sich; die Mutter wälzte sich stöhnend auf ihrem harten Lager, und der Mann begab sich in die Kammer, die Thür halb hinter sich zuziehend, durch die Spalte aber noch zu seiner Frau zurückspähend.
»Was dem Kinde galt, gilt auch Dir; hast Du es gehört?« rief er im Flüstertone hinüber.
»Ich habe gehört, daß Du Dein Kind in Lug und Trug unterrichtest,« antwortete die Frau leise.
»Narrheiten! Was geht das Dich an? Also nur eine Silbe, die mir nicht paßt, und es giebt ein Unglück!«
Die Frau schwieg; der Gauner lauschte nach dem Hofe hinüber, und als er endlich von dort her Stimmen vernahm, zog er die Thür fest heran, der größeren Sicherheit wegen die an derselben befestigte kurze Kette über einen in den Thürpfosten eingeschlagenen Nagel hängend.
8. In der Höhle des Elends. (Fortsetzung)
Das Klirren der den Riegel ersetzenden Kette war eben verstummt, als unter Riekchen's Hand die Thür sich öffnete und gleich darauf Doctor Bergmann's freundliche Stimme erschallte.
»Fürchten Sie sich nicht, mein liebes Kind,« sprach er zu der von seiner Hand geführten Gräfin, und zugleich ließ er beim Eintreten das ihn in seinen Bewegungen hindernde Bündel, welches er so lange getragen hatte, fallen; »in den Wohnungen des Elends können Sie nicht erwarten, etwas Anderes, als nacktes Elend zu finden, und es ist immer gut, dergleichen kennen zu lernen, um das eigene Glück besser zu würdigen und sich vor strafbarer Ueberhebung zu bewahren.«
»Doctor, wohin haben Sie mich gebracht?« flüsterte die Gräfin entsetzt, sobald sie nach ihrem Eintritt einen Blick um sich geworfen.
»An eine Stelle, wohin Ihre gute Mutter mich ebenfalls begleitet haben würde, mein liebes Kind,« antwortete der Doctor, einen Augenblick stehen bleibend, um seiner Gefährtin hinreichend Muße zu gönnen, sich an ihre Umgebung einigermaßen zu gewöhnen - »an eine Stelle, wohin warme Herzen, wie das Ihrige, zeitweise gehören, um Qualen und Noth zu lindern, aber auch, um zu lernen. Ja, mein liebes Kind, lernen Sie hier, wie viele Menschen von Dem glücklich gemacht werden könnten, was von ihren bevorzugten Mitmenschen, der Eitelkeit und dem Hochmuthe fröhnend, leichtsinnig verschleudert, vergeudet und in den Koth getreten wird. Lernen Sie, wie viele Thränen getrocknet werden könnten mit den Schätzen, die vornehmen Lastern und sträflichen Neigungen mit verbrecherischem Leichtsinn geopfert werden. Lernen Sie; glauben Sie, die Blicke Ihrer verklärten Mutter seien jetzt gerade auf Sie gerichtet, und streben Sie, den schönen, kindlichen Gedanken Ihrem Glauben einzuverleiben, daß jede Thräne, die Sie hier trocknen, durch eine Thräne des Dankes und der Freude von Ihrer auf Sie niederschauenden Mutter vor dem Throne des Allmächtigen belohnt werde.«
Als die Blicke der Gräfin auf die verwunderungsvoll zu ihr emporschauenden Augen des Kindes fielen, wich die Scheu vor einem Gefühle des unendlichsten Mitleids, der tiefsten Theilnahme.
»Armes Kind!« sagte sie mit einem Ausdrucke, der ihren väterlichen Freund veranlaßte, schnell nach seiner Dose zu greifen und demnächst mit dem Taschentuche über sein Gesicht hinzufächeln. »Aber tröste Dich, liebe Kleine, Dir soll ein besseres Loos zu Theil werden,« fuhr sie fort, dem vor Erstaunen sprachlosen Kinde die Hand reichend; »ich will Dich mit mir nehmen ...«
»Nicht doch, nicht doch,« unterbrach sie der Doctor, dessen gutes Gesicht vor Stolz und Freude über seinen Liebling leuchtete, »das ist nicht die rechte Art, Gutes zu thun. Man muß nicht blindlings den ersten Herzensregungen folgen, oder man fesselt sich die Hände zu sehr, um auch noch Anderen nachdrückliche Hülfe zuwenden zu können. Prüfen, mein liebes Kind, prüfen und wie ein kluger Arzt nach dem Sitze des Leidens forschen, und dann mit Ueberlegung helfen und rathen, anstatt bei Einzelnen die Vorsehung zu spielen, sie mit einem ganzen Füllhorn voll ungeahnter und ungehoffter glänzender Wohlthaten zu überschütten und darüber andere, vielleicht geignetere, um nicht zu sagen: bedürftigere Unglückliche zu vernachlässigen. Das arme Kind hier vor uns möchten Sie plötzlich, wie in einem Märchen, in schimmernden Glanz versetzen; wer sagt Ihnen aber, daß dadurch sein Glück begründet würde? Wer sagt Ihnen, daß Sie im Sinne seiner kranken Mutter handelten, oder seines Vaters ...?«
»Ich habe keinen Vater, er ist lange todt,« unterbrach das Kind den Doctor schüchtern.
»So hast Du wenigstens noch eine Mutter,« fuhr dieser bedauernd fort, indem er auf die kranke Frau wies, die sich krampfhaft unter ihrer dürftigen Decke wand, »und die würde es gewiß nicht gern sehen, wenn Du von ihr getrennt lebtest. - Nein, meine liebe Renate, wir müssen anders zu Werke gehen, wir müssen den Leiden der unglücklichen Frau auf den Grund zu kommen suchen und bei ihr auch mit unserem Beistande beginnen. Und sehen Sie dieselbe nur an, sie leidet sehr.«
»Gewiß leidet sie furchtbar,« pflichtete Renate bei, indem sie näher an das Lager der Kranken herantrat, wie um sich zu überzeugen, daß Alles Wirklichkeit sei; »Gott, mein Gott, wie ist es möglich?« sprach sie sodann leise. »Arme Frau, Ihnen soll geholfen, Ihre Lage soll erleichtert werden; aber es fehlt Ihnen an Allem, sagen Sie daher, welches Ihre nächsten Wünsche sind, und ich will mich beeilen, dieselben zu erfüllen.«
Seit dem Eintritte des Doctors und dem ersten Anblicke der Gräfin hatte die Unglückliche sprachlos da gelegen.« Sie erwartete, in dem von dem Arzte mitgebrachten Zeugen einen vielleicht eben so alten Mann zu finden, und statt dessen trat ein junges Mädchen vor sie hin, dessen Liebreiz sie fast blendete. Als Renate aber in so herzlicher Weise zu ihr sprach, als sie Worte der Theilnahme und des Wohlwollens vernahm, wie deren seit vielen Jahren nicht an sie gerichtet worden waren, da krampfte ihr Herz sich schmerzhaft zusammen, und bittere, heiße Thränen entströmten ihren Augen.
O, was hätte sie darum gegeben, aufrichtig und vertrauensvoll zu dem betrübt zu ihr niederschauenden holdseligen Wesen sprechen zu dürfen! Allein diese Erleichterung war ihr nicht gegönnt, die Blicke ihres grausamen Manne waren durch die Thürspalte auf sie gerichtet, und nur zu genau wußte sie, daß derselbe seine Drohung ausführen, auf die leiseste Andeutung ihres Geheimnisses aus seinem Verstecke hervorbrechen und den Doctor sammt seiner jugendlichen Begleiterin aus der Thür weisen würde.
Das Schweigen wäre ihr nicht so schwer geworden, allein daß sie diejenigen, die gekommen, um ihre Noth zu lindern, hintergehen und täuschen sollte, wie das Kind sie bereits getäuscht hatte, das war es, was sie in die grenzenloseste Verzweiflung trieb, sie förmlich betäubte. Und wäre es ihr wirklich gelungen, um Erbarmen für ihre Tochter zu flehen, das Herz der Fremden trotz des brutalen Auftretens ihres Mannes zu erweichen, mußten dieselben nicht zurückbeben vor der Verderbtheit eines Kindes, welches ruhig seinen Vater verläugnete, während derselbe lauschend nur wenige Schritte von ihm saß? Alle diese Gedanken bestürmten auf einmal den Geist der Unglücklichen, und selbst die Thränen, welche ihren Augen in Fülle entströmten, verschafften ihrem gequälten Herzen keine Erleichterung.
Nachdem sie sich endlich wieder einigermaßen gefaßt hatte, hob sie ihre Hände wie beschwörend zu Renaten empor.
»Liebe, junge Dame,« rief sie unter Schluchzen aus, und eine wilde Verzweiflung sprach aus ihren trüben Augen, »wie konnten Sie es wagen, diese Höhle des Elends zu betreten, sich der Gefahr auszusetzen, mit der verpesteten Luft dieses Hauses Ihre Gesundheit zu vergiften?«
»Lassen Sie das, gute Frau,« entgegnete Renate mit rührender, aufmunternder Freundlichkeit, »das sind Nebensachen; sprechen Sie nur gerade heraus, wo Ihnen Hülfe am meisten Noth thut. Aber Sie sind ja gräßlich gebettet, ein Glück, daß der Doctor auch daran dachte.«
So sprechend, eilte sie davon, um das in eine Decke eingeknüpfte Bündel, dessen Schwere ihre Kräfte fast überstieg, herbeizuschleppen.
»Was ich in der Geschwindigkeit zusammenraffen konnte, habe ich genommen,« fuhr sie geschäftig fort, indem sie das Bündel öffnete; »hier sind zuerst zwei wollene Decken, die Ihnen und Ihrem armen Töchterchen gut thun, wenigstens so lange, bis wir für ein regelmäßiges Bett gesorgt haben werden. Auch etwas Wäsche bringe ich mit; sie wird Ihrem Töchterchen zwar nicht passen, allein Sie müssen sich schon so lange damit behelfen, bis ich anderes Zeug habe anfertigen lassen. Eben so ist es mit den Strümpfen; aber nun beruhigen Sie sich auch und sagen Sie, ob Sie Hunger oder Durst empfinden, oder ob Sie für das Kind irgend etwas wünschen.
»Liebe, junge Dame,« brachte die leidende Frau endlich mit Mühe hervor, »wie könnte ich noch etwas wünschen, nachdem Sie mich so überglücklich durch Ihre reichen Geschenke gemacht haben? Gegessen und getrunken haben wir, auch zu morgen früh ist noch etwas Milch vorhanden, und das Geld, welches der Herr Doctor mir einhändigte, ist ebenfalls noch nicht ganz ausgegeben worden. Nur eine Bitte habe ich an Ihr edles Herz, meine liebe, junge Dame, es ist die Bitte einer um ihr Kind besorgten Mutter.«
»Sprechen Sie, gute Frau,« versetzte Renate freundlich; »ich bin ja nur hier, um Ihnen meinen Beistand anzubieten.«
»Ich bin krank, sehr krank; schon seit Wochen habe ich diese kalte Stelle nicht verlassen, und unsere wenigen Möbel mußten zerschlagen werden, um nur hin und wieder etwas Feuer und Wärme zu schaffen. Meine arme Tochter hat so viel zusammengebettelt, daß wir nothdürftig unser Leben zu fristen vermochten; aber auch ihre schwachen Kräfte müssen bei der schrecklichen Kälte schnell ihr Ende erreichen.
»Ja, ich fühle mich sehr krank, und wenn ich nun stürbe, was sollte dann wohl aus meiner verwaisten Tochter werden? Ich habe ihr, so lange ich lebe, freilich nichts Anderes zu bieten, als das tiefste Elend, allein sie weiß doch, wohin sie gehört und daß es wenigstens Ein Herz auf Erden giebt, welches in Liebe für sie schlägt. Bin ich aber erst todt, so wird sie von fremden Menschen herumgestoßen und geschlagen werden, bis sie endlich der Last erliegt und vielleicht unter freiem Himmel von ihren Leiden erlöst wird. Darum, liebe junge Dame, und auch Sie, lieber Herr, erbarmen Sie sich meines Kindes, und ich will in meinen letzten Augenblicken freudigen Herzens allen Segen des Himmels auf Sie herabflehen und mich ohne Murren von meinem Kinde trennen.«
»Trösten Sie sich, liebe Frau,« versetzte Renate, die Thränen des innigsten Mitgefühls von ihren Wangen entfernend, »um Ihr Töchterchen brauchen Sie nicht besorgt zu sein; es soll für dasselbe in angemessener Weise gesorgt werden. Aber denken wir jetzt an Ihren eigenen Zustand; Sie sind krank, man sieht es Ihnen an, doch vielleicht ist Ihr Zustand noch gar nicht besorgnißerregend - nicht wahr, Herr Doctor?« wendete sie sich darauf an diesen; »und wäre er wirklich besorgnißerregend, so giebt es Arzneimittel genug, jede Gefahr zu beseitigen und Ihnen Ihre volle Gesundheit wiederzugeben. Sind Sie nicht derselben Meinung, Herr Doctor?«
Als die Gräfin zum ersten Male fragte, schien der Doctor es gänzlich überhört zu haben. Ueberhaupt hatte Renate bisher das Wort allein geführt; denn sobald sie mit der Kranken das Gespräch begonnen hatte, war der Doctor leise zurückgetreten, und wie sein lieblicher Schützling beim Anblicke fremder Leiden Alles um sich her vergaß und nur an die schnelle Linderung der schrecklichen Noth dachte, so beobachtete er wieder mit innigster Freude die junge Gräfin.
Ja, er freute sich innig, in der That so sehr, daß er mehrfach seine Zuflucht zu der Tabaksdose nehmen mußte und sich sogar nicht entblödete, einen stillen Accord auf seinem spanischen Rohr zu blasen und dem kleinen Mädchen, welches, starr vor Erstaunen, mit weit geöffneten Augen zu ihm emporschaute, demnächst einen leisen Schlag mit demselben spanischen Rohr auf den Rücken zu geben.
Als Renate zum zweiten Male fragte, war er eben im Begriff, mit festen Schritten und geräuschvoll aufgestoßenem Stocke einen Kreis auf dem ihm zu Gebote stehenden beschränkten Raume zu beschreiben; doch schien ihm dabei kein einziges der zwischen der Gräfin und der Kranken gewechselten Worte entgangen zu sein. Er kehrte sich nämlich kurz um, und neben der unglücklichen Frau niederknieend, ergriff er deren Hand, um sich von ihrem Pulsschlage zu überzeugen.
»Noch immer Fieber,« sagte er, ohne indessen in seinem Wesen Bedenken zu verrathen; »aber es kann nicht anders sein. Aufregung und Noth tragen das Ihrige dazu bei; im Ganzen erscheint mir der Zustand nicht besorgnißerregend und mehr aus einer furchtbaren Erschöpfung, welche ein Wechselfieber stets mit sich führt, zu entspringen. Entbehrungen und Mangel an geeigneter Pflege haben Sie vorzugsweise so weit heruntergebracht. Also Muth, liebe Frau, das soll anders werden, und zwar bald, wenn auch nicht mehr heute Abend, denn Alles auf einmal läßt sich nicht machen. Die erste Noth ist gehoben, und damit müssen wir vorläufig zufrieden sein; ich habe Ihnen übrigens Arznei mitgebracht, die Sie genau nach Vorschrift nehmen müssen.«
Nachdem er sodann mittels des eisernen Löffels, den das Kind herbeibrachte, der Kranken von der Arznei verabreicht, breitete er die beiden Decken sorgfältig über sie hin, wobei Renate ihm hilfreiche Hand leistete, und dann sich an das Kind wendend, rieth er diesem, für die nächste Nacht ebenfalls seine Zuflucht an der Seite der Mutter unter den Decken zu nehmen.
»Und nun, meine gute Frau,« redete er darauf die Kranke wieder an, »ist Alles geschehen, was nur immer geschehen konnte. Sie dürfen sich vollständig über die Zukunft beruhigen, und erinnere ich Sie daran, daß diese liebe Dame hier der Zeuge ist, den mitzubringen ich versprach. Sie können also rückhaltlos sprechen und Ihr Herz, ohne Scheu vor irgend welchen nachtheiligen Folgen, erleichtern und vor uns ausschütten; denn nicht als Richter sind wir gekommen, sondern als Aerzte des Leibes und des Gemüths. Fassen Sie sich daher und seien Sie überzeugt, wenn es in unseren Kräften steht, dann soll das Unrecht, auf welches Sie bei meinem ersten Besuche hindeuteten, gesühnt und ausgeglichen werden.«
»Ich als Zeuge?« fragte Renate befremdet, jedoch so, daß nur der Doctor sie verstand.
»Ja, mein liebes Kind; erschrecken Sie nicht, es handelt sich nicht um eine öffentliche Gerichtssitzung, sondern um die Möglichkeit, vielleicht auch noch anderen Bedrängten mit Rath und That zur Hand zu gehen - aber was ist Ihnen?« wendete er sich darauf an die Kranke, als diese wieder heftig zu schluchzen begann; »Ihre Ruhe müssen Sie bewahren, meine gute Frau. Weshalb sich beunruhigen, wenn man sich unter Freunden befindet? Ueberwinden Sie die Scheu, sprechen Sie die ersten Worte, und Sie werden sehen, daß die anderen leichter nachfolgen.«
»Ja, ich will, und mag Gott meinem armen Kinde gnädig sein!« rief die Frau laut aus, indem sie sich halb emporrichtete.
Da knackte die Kammerthür leise. Es erklang, als ob die zunehmende Wärme in dem Gemache die feuchten Breter zusammengezogen und dadurch das Geräusch verursacht habe.
Dem Doctor und seiner jungen Gefährtin war das Geräusch entgangen; auf die Kranke dagegen übte es eine Wirkung aus, als sei dadurch plötzlich eine tödliche Krisis hervorgerufen worden.
Mit einem tiefen Seufzer sank sie auf ihr Lager zurück, ihre Hände rangen sich in einander und starr waren ihre Blicke auf die geborstene Decke gerichtet.
»Fassen Sie Muth, Frau,« versetzte der Doctor, nachdem er Renaten einen bedeutungsvollen Blick zugeworfen hatte; »Sie sehen hier meine Begleiterin; bedenken Sie, es ist beinahe Mitternacht, und ich darf das liebe Kind nicht zu lange Einflüssen aussetzen, die ihrer Gesundheit nachtheilig werden können. Fassen Sie also Muth und beginnen Sie.«
»Herr Doctor,« stöhnte die Frau verzweiflungsvoll, ich kann nicht - nein, ich weiß nichts! Es war nichts, ich sprach im Fieber - ich sehnte mich darnach, Sie wiederzusehen! Um weitere Hülfe von Ihnen zu erlangen, nahm ich meine Zuflucht zu einer Nothlüge.«
»Aber, liebe Frau, ich wäre ja auf alle Fälle wiedergekommen. Oder glauben Sie, ich hätte es über mich gewinnen können, Sie ohne Hülfe in Ihrem Elende sitzen zu lassen?« erwiderte der Doctor, und seine lebhaften Augen blitzten argwöhnisch hin und her, als hätte er die Ursache der so unerwarteten Sinnesänderung erspähen wollen; denn daß die Frau Etwas auf dem Herzen habe, was sie schwer bedrückte, bezweifelte er nicht, eben so begriff er aber auch, daß sie ihn in diesem Augenblicke aus irgend einem geheimnißvollen Grunde hinterging.
»O, Sie sind so gut, so edel, so wohlthätig!« flehte die Unglückliche weiter. »Aber Herr Doctor, ich beschwöre Sie, dringen Sie nicht weiter in mich - denn - ich weiß nichts - als daß der Tod für mich eine Wohlthat wäre!«
»Dann eignen sich Ihre Mittheilungen wohl nicht für das Ohr eines jungen Mädchens?« fragte der Doctor ernst, seine Stirn in sinnende Falten legend.
»Ja - Nein - ich weiß nicht,« flüsterte die Kranke mit bebenden Lippen.
»Nun nun, beruhigen Sie sich,« versetzte der Doctor wieder in milderem Tone, während er mit Renate einen Blick des Einverständnisses austauschte, »ich will ja nicht mit Gewalt in Sie dringen. Vielleicht fühlen Sie sich zu einer andern Zeit besser aufgelegt, und wir sind gern bereit, wiederzukommen. Was meinen Sie zum Beispiel zu morgen Abend?«
Die geängstigte Frau sann eine Weile nach, bis das leise Knacken der Thür sich wieder vernehmen ließ.
»Nein nein, nicht heute, nicht morgen!« rief sie flehentlich aus. »Lassen Sie mich unbeachtet verderben, lassen Sie die junge Dame nie wieder dieses Haus betreten, denn ich weiß nicht, was ich Ihnen mittheilen könnte!«
»Tausend Welt noch einmal, es ist ja schon gut,« entgegnete der Doctor, indem er in einer Anwandlung von Ungeduld schnell einen Kreis in der Stube abschritt, »wir wollen ja gar nichts wissen! Aber nun trösten Sie sich, sonst hilft Ihnen die Medicin nicht und alle meine Mühe ist vergebens. Machen Sie, daß Sie bald einschlafen, und morgen im Laufe des Tages werde ich mich wieder nach Ihnen umsehen. Vielleicht bringe ich Ihnen noch einige andere Erleichterungen mit, nicht wahr, mein liebes Kind?« wendete er sich darauf an Renate, die mitleidig die sich krampfhaft windende Frau betrachtete.
»Gewiß, Herr Doctor,« antwortete Renate, mit einer Stimme, welche ihre ganze Herzensgüte, ihre ganze Bereitwilligkeit, zu helfen, ausdrückte. »Aber soll ich nicht etwas Geld hinterlassen?«
Der Doctor sann eine Weile nach.
Plötzlich schritt er nach dem Feuerherde hin, auf welchem ein zusammengeknittertes Stück blaues Papier seine Aufmerksamkeit erregt hatte, und ohne sich um Renatens oder des Kindes verwunderte Blicke zu kümmern, führte er das Paier, nachdem er es geglättet und von beiden Seiten betrachtet hatte, an die Nase.
Der Geruch desselben übte offenbar Einfluß auf seine Entscheidung aus, denn er warf das Papier in's Feuer, worauf er sich schnell wieder der Gräfin zuwendete:
»Nein, mein theures Kind, geben Sie das Geld mir, ich werde das Nöthige besorgen und veranstalten, denn die Frau selbst ist nicht im Stande, ihr Lager zu verlassen, und das Kind? Das würden schöne Einkäufe werden, die ein acht- oder neunjähriges Mädchen besorgte! Nein, nein, bleiben wir bei meinem Vorschlage - und nun gute Nacht, beste Frau; noch einmal rathe ich Ihnen, versuchen Sie, zu schlafen. Morgen sehen wir uns wieder.« So sprechend, bot er Renate den Arm, und ohne dieser zu gestatten, noch besonders Abschied zu nehmen, oder die Ergüsse der Dankbarkeit von Seiten der Mutter abzuwarten, schritt er hastig der Thür zu, bei welcher sich das Kind bereits aufgestellt hatte, um sie nach der Straße hinaus zu begleiten.
Kaum waren der Doctor und seine Begleiterin von dem kleinen Hofe in den finstern und schmalen Gang des Hauptgebäudes getreten, da schlüpfte der Gauner aus seinem Versteck, und nachdem er mittels der bekannten Klingel den übrigen Hausbewohnern das Zeichen gegeben, daß ›die Luft wieder rein sei‹, trat er noch einmal an das Lager seiner Frau.
»Es hätte Dir das Leben gekostet, hättest Du ein Wort zu viel gesagt!« redete er sie an, ohne zu verbergen, daß er sich in einer heitern Stimmung befand. »Aber Du bist gescheidt gewesen, und das war gut. In der Kammer ist mir erst recht klar geworden, was für ein Schatz der lumpige Papierfetzen für mich werden kann. Sollst aber auch Dein Theil haben, und auch Du, Riekchen,« wendete er sich an das eben eintretende Kind. »Vorläufig behelft Euch indessen mit der Freundschaft des Doctors und seiner hübschen Gefährtin und thut, was sie Euch angerathen haben - ich meine, schlafen.«