Kitabı oku: «"Alles schaukelt, der ganze Bunker schaukelt"», sayfa 7
So ein Krieg … Wie kann man denn das vergessen! Ich frage Sie … (Sie klopft mit der Hand energisch auf den Tisch.) Wer einen Krieg mitgemacht hat, der kann doch nicht wieder mit Waffen anfangen. Sehen Sie mal, was für ein Wahnsinn! Wir liefern Waffen und verdienen ein Schweinegeld da dran! Und dann nehmen wir die Flüchtlinge auf und behandeln die, die bloß noch ein Bein haben … Das ist doch schizophren! Es hängt uns natürlich nach, der Holocaust ist schlimm gewesen. Andere Länder verfolgen auch und das mit den Schwarzen … Aber bei uns macht es die Masse. Wie kann man das denn vergessen? Einen Krieg darf es doch bei uns nicht mehr geben! Es geht immer nur um Macht und Geld! Es muss was Schönes sein. Sind ja alle verrückt danach. Ich kenne es nicht, vielleicht würde ich sonst auch so sein. Nein, nein, nein, diese Welt ist nicht mehr meine! Keiner dürfte mehr zur Waffe greifen …
Von Omas Haus zogen wir weiter Richtung Berlin. Ein Mann fuhr uns mit einem Kahn über die Oder. An den kaputten Brückenpfosten lagen angeschwemmte Pferde. Inzwischen war das Eis aufgetaut, die Leichen kamen wieder aus der Erde. Als die Erde noch hart gefroren war, hatte man die Toten nur ein bisschen mit Sand bedecken können. Nun war der Sand versackt und die Leichen der toten Soldaten kamen alle wieder raus. Im Oderbruch sind später viele Menschen bei der Feldarbeit auf Minen gelaufen und mussten noch ihr Leben lassen. Es war dort alles vermint.
Wir erreichten den Bauernhof, wo ich während des Krieges gelebt hatte. Überall waren Gräben von den Soldaten. Für uns Kinder war das schön … Wir liefen durch Gräben über den Hof in den Stall oder in die Scheune. Die Front war sehr lange im Oderbruch gewesen, wissen Sie. Da sind die meisten Soldaten gestorben, vor allen Dingen viele Russen. Ich habe in diesem Jahr mit meinem Sohn die Gedenkstätte Seelower Höhen besucht. Es ist traurig, wie viele Soldaten dort ihr Leben lassen mussten! Und wofür!?
Ursel und ich gingen auf Suche. Ich fand einen Schuh, und dann suchte ich den anderen. Ich fand auch mein Poesiealbum. Jemand hatte nur die leeren Seiten rausgerissen. Das fand ich nett. Ich habe es immer noch.
Am 17. Mai kamen meine Mutter und ich mit einem Güterzug am Stettiner Bahnhof in Berlin an. Unser Haus stand noch und mein Vater war vom Volkssturm zurückgekommen. Er hatte in Biesdorf einen Steckschuss in die Wade gekriegt und durfte nach Hause gehen. In unserer Wohnung lebten dann Fremde mit uns. Es gab nur noch wenige Wohnungen. Und dann kamen wir so langsam wieder in alles rein, waren als kleine Familie wieder zusammen …
Nach dem Krieg gab es keine Betreuung für uns Kinder – niemand wollte uns hören, auch nicht unsere Eltern. Wir Kinder haben das erlebt und nie wieder darüber gesprochen. Das ergab sich gar nicht. Für Mutter war das wohl unangenehm, und ich habe auch nicht gefragt. Ich war sowieso dumm – nicht aufgeklärt. Damals wurden wir nicht aufgeklärt. Als ich vielleicht zehn war, haben meine Freundin und ich meine Mutter mal was gefragt und dann hieß es: »Na, ihr wisst es doch viel besser.«
In jeder Familie gab es ein Doktorbuch, das wurde versteckt. Heimlich habe ich mit meiner Freundin darin geblättert, aber da drin war nichts zu sehen! Und das ist alles noch gar nicht so lange her, wissen Sie. Wenn jetzt immer über die Araber und ihren Umgang mit den Frauen geschimpft wird … Mensch, wir sollen ganz ruhig sein! Es ist noch nicht lange her, da ist es in Deutschland auch nicht anders gewesen. Da hatten die Frauen auch nichts zu sagen. Das vergessen immer alle. Wie lange haben wir das nicht mehr, dass der Mann bestimmt hat, wo die Familie hinzieht. Das ist doch nicht lange her!
Ich habe die Erlebnisse erst langsam verarbeiten können. Ich brauchte lange, um ein junges Mädchen zu werden, das lustig ist und lacht. Da war ich bestimmt schon 20, 21. Ich war sehr ernst.
Jetzt im Alter weine ich schnell. Ich bin oft traurig, und diese ganze Sache von früher kommt hoch. Im Januar, Februar ist es für mich immer noch belastend. Jedes Jahr, auch heute noch mit 85. Jetzt im Alter hat man Zeit, früher hatte man ja keine. Wir haben geheiratet, die Kinder gehabt, sind arbeiten gegangen … In der Welt, in der wir jetzt leben, da ist alles so schwierig und so schlimm. Mir geht’s gut, ich will nicht klagen. Ich bin 85 und es ist alles in Ordnung. Aber es könnte anders sein! Alle, alle sind schon tot. Mein erster Mann ist tot, mein zweiter Mann ist tot. Meine Freundin, meine Cousinen … Da denk ich manchmal: Meine Güte, was soll das eigentlich! Ich muss das alles alleine verkraften, wissen Sie? Und dann denke ich manchmal, ich gehe nicht in die Kirche, aber ich bin ein gläubiger Mensch, warum muss das alles so sein? Warum lässt das der liebe Gott zu, dass die Menschen … Wie wir alles kaputt machen! Wie schlecht sind die Menschen überhaupt? Machen alles kaputt! Wissen nicht wohin mit dem Plastikzeug und dem Abfall. Ich verstehe die Menschen nicht mehr! Das lässt einen doch verzweifeln. Der Mensch ist das intelligenteste Lebewesen … Das kann man nicht glauben! Der Mensch tötet, obwohl er das nicht nötig hat. Wir fabrizieren so viel Fleisch und die armen männlichen Küken werden gleich getötet. Das ist alles furchtbar! Das Tier tötet doch nur, wenn es Hunger hat! Das tötet nicht auf Vorrat. Nein, nein, nein! Irgendjemand hat mal gesagt: Seit ich die Menschen kenne, liebe ich die Tiere. Dann denke ich immer, meine Güte, du kannst das gar nicht so erzählen! Denn so darf man gar nicht denken, wenn man jung ist. Dann kann man ja nicht mehr leben, nicht? Ist doch so.
»Nimm mich mit, Mutti, Mutti, nimm mich mit!«
Dorothea L.
(Geboren 1930 in Duisburg, Drogistin, Heilpraktikerin)
Ich erinnere mich noch an die Farben damals: Himmel und Erde gehen grau-weiß ineinander über. Die kalte Schneeluft war schmerzhaft beim Einatmen … Mitte Januar 45, es lag hoher Schnee, bekam das Dorf in Pommern, in das wir evakuiert worden waren, den Packbefehl. Meine Mutter, mein kleiner Bruder, meine Schwester und ich waren auf dem Rittergut untergekommen. Meine Schwestern Liesl und Renate waren bei dem Lehrer der Dorfschule untergebracht und meine Schwester Rosi beim Pfarrer, der dreißig Kilometer vom Gut entfernt wohnte. Sonntags kam er für die Messe ins Dorf.
Abends um neun Uhr läuteten am 17. Januar vom Kirchturm die Sturmglocken: der Fluchtbefehl. Es ging sehr lebhaft zu. Meine Mutter kriegte vom Gut einen Planwagen mit Gummirädern gestellt, der von einem Traktor gezogen werden sollte. Wir hatten auf dem Gut inzwischen keine russischen Gefangenen mehr, sondern italienische. Die russischen waren vor ihren eigenen Leuten geflohen, denn Kriegsgefangene wurden oft von ihren eigenen Leuten erschossen. Zwei Italiener fuhren den Traktor. Meine Mutter saß vorne auf dem Bock. Auf dem Gut waren auch Frauen aus Witten mit ihren Kindern untergebracht worden. Sie bekamen einen Ochsenkarren, und ihre Kinder wurden bei uns mit auf den Wagen geladen. Auch meine Schwester Liesl, acht Jahre alt, fuhr auf unserem Wagen mit. Renate, die schon älter war, musste neben dem Wagen des Lehrers laufen. Draußen waren es 18 Grad Minus. Als wir durch das Dorf des Pfarrers kamen, hatte die Rosi bereits den ganzen Tag an der Straße auf uns gewartet. Sie lief zu unserem Wagen und rief: »Nimm mich mit, Mutti, Mutti, nimm mich mit!«
Meine Mutter rief: »Halt an!«, aber der Traktor fuhr weiter, die Italiener hörten sie nicht. Sie unterhielten sich laut und verstanden nichts. Die Pfarrhaushälterin kam rausgelaufen, schnappte sich die Rosi und rief uns hinterher: »Wir kommen morgen nach!«
Ich wusste, dass wir im nächsten Dorf zum Übernachten halten würden und dachte: ›Na, dann sehen wir die Rosi bald.‹ Aber sie kamen nie nach. Meine Schwester Ingrid ging in der Nacht zurück, um die Rosi zu holen. Das hat sie mir später erzählt. Als sie sich mit der Rosi auf den Rückweg machen wollte, saß auf der Straße ein verwundeter Soldat und sagte: »Wenn ihr mir nicht helft, erfrier ich hier.«
Die beiden kümmerten sich um den Soldaten, und dann wurde bemerkt, dass die Rosi wegwollte. Die Pfarrersleute hielten sie zurück, Ingrid kam allein zurück.
Die Flucht war mehr als schlecht organisiert, und so passierte es, dass der erste Teil unseres Trecks am nächsten Tag schon früher aufgebrochen war. Niemand wusste, in welche Richtung. So verloren wir auch Ingrid, die mit dem Lehrer früh losgezogen war.
Wir waren tagelang unterwegs. Am Straßenrand lagen Leute, die einfach erfroren waren … In verlassenen Häusern suchten wir nach Essen und übernachteten dort, wenn es möglich war. In einem Haus fanden wir einen heißen Topf mit Hühnersuppe, in der ein ganzes Huhn schwamm! Das war natürlich was ganz Tolles! Dann ging der Traktor kaputt und wir saßen fest, bis er repariert werden konnte. Meine Mutter fand in der Zwischenzeit eine Familie, bei der wir jeder ein frisch bezogenes Bett bekamen. Die Leute hatten selbst vier Kinder und nahmen uns so nett auf. Aber das war nicht immer so. Mutter war mittlerweile genervt. Sie musste sich auch noch um die drei anderen Kinder der Frauen aus Witten kümmern. Auch die Mütter hatten wir auf der Flucht verloren. Bei einem Halt in einer kleinen Stadt verlangte sie, dass sich nun andere aus dem Treck um die Kinder kümmern sollten. Es waren ein Junge von vielleicht elf Jahren, ein neunjähriges Mädchen und ein zweijähriges Kind. Die Neunjährige kümmerte sich wie eine Mutter um die Zweijährige. Versuchte sie trocken zu halten, was bei der Kälte ganz schwierig war. Mutter sagte zu den Frauen: »Ich bin am Ende, ich kann das nicht mehr.«
Die anderen Frauen beschimpften sie, dass sie die Kinder abgeben wollte. Weil Mutter nicht mehr wusste, wie sie alle Kinder versorgen konnte und jede Nacht unterbekam, gab sie die drei Kinder beim Roten Kreuz ab. Wir hörten nie wieder von ihnen.
Die russische Armee war immer kurz hinter uns. Oft hörten wir jetzt schon den Geschützdonner. Wir hatten große Angst – hörten von schrecklichen Gräueltaten der Russen. Vergewaltigungen waren auf beiden Seiten der Front an der Tagesordnung.
Mutti beschloss, sich vom Treck zu trennen. Sie wollte versuchen, mit dem Zug weiterzukommen, und konnte vorbeiziehende deutsche Soldaten überreden, uns mit ihrem LKW bis kurz vor Stettin mitzunehmen. Aber in Stettin vor dem Bahnhof standen Hunderte von Leuten – alle mit Gepäck. Wir stellten uns dazu. Wir wussten nicht weiter. Am Abend kam eine Frau mit einem leeren Kinderwagen auf uns zu. Sie sagte zu meiner Mutter: »Sie können doch auch nicht mehr. Kommen Sie, packen Sie Ihre Sachen auf meinen Wagen und wir gehen zu mir nach Hause. Morgen ist hier alles leer und dann können Sie in aller Ruhe wegfahren, das verspreche ich Ihnen. Aber bis es hier leer ist, ist das die Hölle. Die Leute schlagen sich um die Plätze.«
Sie nahm uns mit zu sich nach Hause. Dort durften wir jeder ein Bad nehmen und kriegten ein frisch bezogenes Bett. Sie kochte ganz toll für uns und wir konnten endlich einmal richtig gut schlafen.
Am nächsten Morgen war der Bahnhofsplatz leer. Wir kamen in einem Güterzug unter, der nach Hannover fuhr. Unterwegs traf uns Tieffliegerbeschuss. Der Zug musste auf offener Strecke halten. Wir sahen die Tiefflieger kommen, hatten Angst und wollten aus dem Zug springen. Ein Soldat, der mit uns im Waggon saß, rief: »Nicht rausgehen! Bleiben Sie im Zug und legen Sie sich auf den Boden!«
Wir legten uns hin und versteckten uns zwischen den Bänken. Sie schossen auch auf die Waggons. Wir hatten Todesangst. Aber das rettete unser Leben. Die Leute, die rausgerannt waren, lagen alle erschossen auf dem Bahndamm. Immer wieder kamen die Tiefflieger. Wir hatten so eine Angst! (Pause.) Die flogen so niedrig, dass ich den Piloten sehen konnte. Ich hatte das Gefühl, jetzt könnte ich ihm die Hand geben. Die Piloten haben uns natürlich auch gesehen, wollten am liebsten alles zerschießen. Die Tiefflieger schossen die Lokomotive kaputt, wir mussten auf eine neue Lokomotive warten. Wir waren nochmal davongekommen – als Familie.
Zurück in Duisburg, war in unserem Haus durch den Luftdruck einer Bombe das Dach abgedeckt worden. Wir stellten Eimer in den Zimmern auf, wenn es regnete. In unserem Kinderzimmer konnten wir gar nicht mehr schlafen. Wir schliefen bei einer Nachbarin auf Matratzen auf dem Boden. Nach unserer Rückkehr schrieb ich als Erstes meiner Oma eine Karte: Nach 14-tägiger Flucht sind wir glücklich wieder zu Hause angekommen. Meine Mutter sagte: »Was, glücklich!? Du ziehst auch alles wie ein nasses Hemd aus und dann ist es für dich gut.« (Sie lacht.)
Von der Ingrid und der Rosi hatten wir immer noch nichts gehört. Es gab damals im Radio einen Suchdienst vom Roten Kreuz. Jeden Tag wurden dort um die gleiche Zeit Namen von Menschen aufgerufen, die sich durch die Kriegswirren verloren hatten. Auf diese Art kamen viele Leute wieder zusammen. Wir hatten die Rosi und die Ingrid dort gemeldet. Jeden Tag hörten wir die Sendung in der Hoffnung, die beiden hätten Gelegenheit, sich dort zu melden. Jeden Mittag und jeden Abend, wenn ich von der Drogerie, bei der ich eine Ausbildung angefangen hatte, nach Hause kam, rannte ich die letzten Schritte in der Hoffnung, die beiden wären angekommen. Jedes Mal dachte ich: ›Vielleicht ist ja die Ingrid heut nach Haus gekommen! Oder die Rosi.‹
Aber keiner kam. Jedes Mal war ich enttäuscht. Wir hofften und stellten uns vor, dass die beiden irgendwie zusammen wären.
Ungefähr ein halbes Jahr nach Kriegsende kam die Ingrid eines Tages ganz schwarz im Gesicht bei uns an. Sobald die Familie des Lehrers mit ihr über die Oder gekommen war, hatten sie die damals Zwölfjährige ihrem Schicksal überlassen und waren ohne sie weitergezogen. So hatten sie einen Esser weniger, denn es war auf der Flucht immer ein großes Problem, an etwas zu essen zu kommen. Ingrid wusste, die Kohlezüge fahren ins Ruhrgebiet, und so war sie in einen leeren Kohlewaggon gestiegen und kam entsprechend schwarz bei uns an. Sosehr wir uns über Ingrids Heimkehr freuten, wussten wir nun, dass die Rosi, damals acht Jahre alt, irgendwo allein bei fremden Leuten war. Wir redeten täglich darüber, und auch in der Verwandtschaft wurden wir immer wieder gefragt: »Habt ihr was von dem Kind gehört?«
Rosi kam nicht. Wir erfuhren von einer Frau in der Nähe von Paderborn, die einem sagen konnte, wo sich eine Person befindet, wenn man ihr ein Foto schickt. Meine Tante hatte ein Foto ihres Mannes hingeschickt, der als Soldat in Russland gewesen war. Die Frau hatte geantwortet, dass der Mann noch diesen Monat nach Hause kommen würde, aber schwerkrank sei. Das war im August gewesen. Der Monat ging zu Ende, es war der 31. August und meine Tante dachte: ›Ach, sie hat ja doch nicht recht gehabt!‹
Aber am 31. August kam der Peter nach Hause! Er war schwer tuberkulös und starb auch daran. Vorher hat er noch seine Kinder angesteckt … Also befragten wir diese Frau nach der Rosi. Sie sagte: »Ja, die war sehr krank, aber jetzt ist sie wieder gesund. Sie lebt bei einer alten und einer jungen Frau in Polen. Die wird noch lange nicht zurückkommen.«
Mehr konnte sie nicht sagen. Aber nun wussten wir: Die Rosi lebt! Wir hörten weiter die Rot-Kreuz-Nachrichten. Eines Tages nach langer, langer Zeit kriegten wir einen Anruf von einer Frau, die uns sagte, sie hätte die Rosi dabei. Sie war mit ihr über Friedland in den Westen gekommen. Die Rosi war wirklich krank gewesen. Der Pfarrer, seine Haushälterin und ihre Tochter waren sofort nach Kriegsende weggegangen und hatten die Rosi mit der achtzigjährigen Oma alleine zurück gelassen – das achtjährige Kind! Irgendwann starb die alte Frau. Inzwischen war eine jüngere Frau aus dem Osten gekommen, die mit den beiden zusammenlebte. Die junge Frau und Rosi mussten für die Polen arbeiten. Sie wurden zu Arbeitseinsätzen gebracht, kriegten wenig zu essen, aber viel zu arbeiten, mussten bei der Ernte helfen. Sie konnten nicht selber über sich bestimmen, das machten andere. Irgendwann wurden sie auf einen Laster gepackt und nach Friedland gebracht. Dort wurden sie erst entlaust und dann neu eingekleidet. Der Mann der jungen Frau wohnte in Bremen, wohin sie die Rosi mitgenommen hatte. Von dort rief sie meine Mutter an und sagte ihr, dass sie die Rosi abholen könne. Meine Mutter fuhr hin, und jetzt erzähle ich aus Rosis Perspektive.
Diese junge Frau war inzwischen wie ihre Mutter geworden. Die hatte sich gekümmert! Und die Mutti hatte sie auf der Straße stehenlassen. Ja … die Mutti war für sie die Frau, die sie irgendwo abgegeben und nicht mitgenommen hatte. Meine Mutter lebt nicht mehr, die ist vor sechs Jahren mit 103 Jahren gestorben. Die Rosi konnte nie mehr ein Verhältnis zu ihrer Mutter aufbauen. Sie ging zwar mit unserer Mutter mit, aber sie sagt mir jetzt, wenn wir am Telefon von den alten Zeiten erzählen, dass sie das nicht gerne getan hat. Das war die Frau, die sie einfach immer irgendwo abgegeben hatte. Und so ist das Verhältnis auch bis zum Schluss geblieben. Inzwischen lebt sie in einem Altenheim, ist jetzt achtzig geworden und sagt, sie ist zufrieden, wenn man sie fragt. Aber von ihrer Zeit in Polen erzählt sie nicht viel. Sonst erzählt sie mir sehr, sehr viel. Sie muss noch viel verarbeiten …
Am Anfang, wie wir wieder zu Hause waren, habe ich die Fluchtgeschichte wohl zwanzigmal erzählt. Ich musste das immer wieder erzählen. Irgendjemand musste mir immer wieder zuhören. Jedem, der sie hören wollte, musste ich das erzählen. Jetzt gerade das 21. Mal …
»Auf einmal erscheint in den toten Augen ein Aufblitzen, ein Licht …«
Roswitha Weiß
(Geboren 1939 in Berlin, Fremdsprachensekretärin)
Eines Nachts wurden wir geweckt. Es hieß: »Schnell, schnell, schnell, alle sind schon auf dem Sammelplatz.«
Meine Schwester sagt, es war am 19. oder 20. Januar 45. Ich war erst fünf Jahre alt und mit meiner Schwester wegen der vielen Bombenangriffe nach Schlesien in einen Gasthof evakuiert worden. Am Sammelplatz angekommen, hörten wir schon im Hintergrund das Donnern der Kanonen, die immer näher kommenden Einschläge. Weil schon alles in den Wagen besetzt war, wurde ich in die letzte offene Leitersprosse gesetzt, die mit Stroh bedeckt war. Die Leitern waren für zusätzliche Sitzplätze seitlich an die Pferdewagen gehängt worden, umgeklappt und mit Stroh bedeckt. Ich erinnere mich noch an eine hübsche Frau, die an unserem Wagen stand und sich verabschiedete. Die anderen Frauen flehten sie an, es waren ja nur noch Frauen und Kinder da: »Komm mit, komm mit!«
»Nein, ich lasse meine Tiere nicht alleine, wer soll die füttern«, sagte sie, »man muss sich anpassen, wenn die Russen kommen. Ist eben eine kommunistische Regierung dann.«
Später habe ich noch oft darüber nachgedacht, ob die Frau das so alleine überlebt hat.
Als wir gerade losgefahren waren, kam eine Frau mit einem Kinderwagen zu unserem Wagen gelaufen und flehte: »Nehmt doch das Kind mit in den Wagen rein!« Eine der Frauen im Wagen meinte, das Kind hätte Diphtherie, und damit war die Sache erledigt. Keiner nahm das Kind in seinen Wagen auf. Die Mutter musste mit dem Kinderwagen alleine weiterlaufen.
Mit meinem kleinen Po saß ich ganz verkrampft auf der letzten Sprosse. Während der Wagen über die holprigen Feldwege fuhr, hatte ich Angst runterzufallen. Ich war allein. Wo meine Schwestern waren, wusste ich nicht. Ich wusste damals nicht, dass sie zu Fuß mit in dem Treck liefen. In der Ferne hörte ich den Kanonendonner. Die Angst der Erwachsenen übertrug sich auf mich. Sie sagten: »Oh, die Russen, die überrollen uns gleich!« und solche Sachen. Ich hörte auch die Panzerketten scheppern. Das müssen wohl die Panzer der flüchtenden Deutschen gewesen sein. Die Deutschen sollen ja rücksichtslos über alle Flüchtenden hinweggefegt sein.
Es war Minus 20 Grad. Wir hatten nicht wie heute Fellstiefelchen an, das gab es alles nicht. Ich fror sehr auf diesem letzten Treppchen, während wir über die Feldwege buckelten. Viele mussten laufen. Alle hatten wir Frostbeulen an den Füßen. Meine Schwester hatte sie noch lange, lange. Ich weiß noch, dass sie sie in Urin badete. Das ist ein gutes Mittel gegen Frostbeulen. Sie hat furchtbar unter der Kälte auf der Flucht gelitten und bekam eine Nebenhöhlenentzündung, die chronisch wurde.
Auf den Wegen war überall Glatteis. Die Pferde rutschten immer wieder aus. Als die Pferde wieder einmal ausgerutscht waren, sprach ich die zwei Männer an, die vorne auf dem Bock saßen, aber sie verstanden mich nicht und ich sie auch nicht. Es waren wohl Zwangsarbeiter, die mit auf die Flucht gegangen waren. Auf einmal waren sie verschwunden. Sie hatten noch versucht, die Pferde wieder auf die Beine zu bringen, und dann waren sie weg. Geflüchtet wahrscheinlich.
Dann sah ich einen Zug Sträflinge. Sie liefen auf einem Feldweg, der schräg auf unseren Weg zulief. Es war wohl nicht beabsichtigt gewesen, dass wir sie sehen. Sie trugen gestreifte Kleidung, hatten Kappen auf und keinen Stern, sondern ein Dreieck, ein Zeichen für polnische KZler, wie ich heute weiß. Ich sah zu den Gefangenen rüber und guckte nur in tote Augen. Sie schauten uns an und waren keine Menschen. Zusammengepfercht. Es war so kalt, und sie trugen nur diese dünnen Sträflingssachen. Ich fragte eine Frau: »Was sind’n das für Leute?«
Sie sagte: »Ach, das sind sicher Zuchthäusler, die müssen zur Arbeit.«
Vor den Sträflingen fuhr ein Leiterwagen mit einem Pferd und einem Kutscher. Die ganze Kolonne – es liefen immer fünf nebeneinander in einer Reihe – wurde nur von einem Soldaten beaufsichtigt, der um sie herumging. Das verstand ich nicht. Ich dachte: ›Warum laufen die denn nicht weg? Einer und so viele?‹ Auf dem Leiterwagen lagen lauter Spaten. Weil ich wusste, wie begehrt der Platz bei uns im Wagen war, während die anderen laufen mussten, dachte ich: ›Warum nehmen die die Spaten nicht runter und setzen sich in den Wagen?‹ Das war meine kindliche Idee.
Dann passierte etwas, was ich nie vergessen habe: Aus der Mitte der Sträflingsgruppe ragt ein sehr großer Mann hervor, er überragt alle. Er blickt mich an, und ich blicke ihn an. Auf einmal erscheint in seinen toten Augen ein Aufblitzen, ein Licht. Irgendwie fangen die toten Augen an zu leben. Und plötzlich ist der Mann weg. Ich sehe wie der Bewacher eine Pistole entsichert und aufgeregt durch die Gegend läuft.
Nach der Flucht erzählte mir meine Schwester, der Mann hätte sich in den Graben gerollt. Er hatte wohl gedacht, dass der Bewacher ihm nichts tun würde, angesichts der Kinder und Frauen. Ich fühlte mich irgendwie mitschuldig, weil wir einen längeren Blickkontakt hatten und plötzlich seine Augen aufleuchteten und lebhaft wurden. Ich habe oft darüber nachgedacht, was dieser Mann wohl gedacht haben mag: Zu Hause habe ich auch so eine Kleine, die will ich wiedersehen! Meine Schwester erzählte: »Den haben sie auf den Leiterwagen geschmissen und sind weitergezogen.« … Diesen Mann werde ich nie vergessen.
Es dauerte lange, bis unsere Pferde wieder auf den Beinen waren, die anderen Wagen waren inzwischen an uns vorbeigezogen und wir waren alleine. Später kamen wir an eine Abzweigung nach Dresden, an der zwei Männer standen. Sie sagten, wir sollten weiterfahren, Dresden sei voll von Flüchtlingen. Also zogen wir weiter, Richtung Prag in die Tschechei. Ich habe mir oft überlegt: Was hast du überhaupt den ganzen Fluchtweg gegessen? Gar nichts. Ich erinnere mich nur an eine Frau, die sich an unseren Wagen hinten rangehängt hatte, damit sie eine Weile nicht ufen musste. Im Wagen saß eine Frau mit einem Kind, die eine Tüte mit Äpfeln ausgepackt hatte – schöne rote Äpfel. Ich blickte begehrlich auf einen großen rotbackigen Apfel, den die Frau in der Hand hielt. Die junge Frau, die am Wagen hing, sah das und sagte: »Ach, geben Sie doch der Kleinen auch einen Apfel.«
Die Frau guckte den Apfel von allen Seiten an, steckte ihn wieder ein und gab mir einen ganz kleinen. Immerhin! Das sind die Erinnerungen. Ich war ja gerade fünf Jahre alt geworden.
Ich weiß nicht, wie lange wir unterwegs waren. Wir waren Tag und Nacht unterwegs, ohne etwas zu essen. Ich hatte ja keine Mutter, die mir was zusteckte. Aber trotz alledem bin ich nicht verhungert …
In Prag wurden wir in einer Turnhalle untergebracht. Jede Familie bekam ein Nest aus Stroh auf dem Boden. Im Flur der Turnhalle sah ich den Kinderwagen von dem Kind, was angeblich Diphtherie gehabt hatte – ohne Kind, es war gestorben.
Geflüchtete Kinder mit ihren Habseligkeiten auf dem Bürgersteig vor dem Übergangsflüchtlingslager Lehrter Straße in Berlin (September 1945)
Ich saß auf dem Stroh in der Turnhalle, als plötzlich die Tür aufging und meine Mutter da stand. Das werde ich nie vergessen! Ich war selig und glücklich und wollte sie nie wieder loslassen. (Sie lacht.) Mutter nahm uns, ich weiß nicht, wo sie meine beiden Schwestern gefunden hatte, und fuhr mit uns nach Berlin zurück.