Kitabı oku: «"Alles schaukelt, der ganze Bunker schaukelt"», sayfa 8
»Jetzt bin ich der Herr und du der Knecht!«
Edel S.
(Geboren 1930 in Schlesien, Pfarrhaushälterin)
Wir waren schon lange auf der Flucht gewesen. Vater war von den Russen abgeholt worden und nach Wochen wiedergekommen. Meine Mutter und wir Kinder mussten auch wochenlang für die Russen auf einem Hof arbeiten. Nach dem 8. Mai hieß es: Alles wieder nach Hause! Also machten wir uns auf den Rückweg.
Wir kommen endlich nach Hause! Von Weitem gucken wir schon, ob die Häuser noch stehen oder verbrannt sind. Und ach, da sehen wir, unser Haus steht noch! Es regnet doll, wir laufen schnell ins Haus, lassen den Wagen davor stehen. Innen ist alles verwüstet und rausgeklaut. Nur noch ein Sofa steht im Wohnzimmer. Wir machen ein bisschen sauber und wollen den Wagen abladen. Inzwischen war polnische Miliz auf den Hof gekommen und lud vom Wagen runter, was ihnen gefiel. Sie nahmen mir auch noch meine kleine Armbanduhr ab. Wir konnten nichts machen! Im Vorgarten, wo Blumen und Gemüse gepflanzt waren, stand ein kaputter Panzer. Vor dem Wohnzimmerfenster lag das Geschirr zerschmissen, alles kaputt. Die Ställe waren leer, die Dreschmaschine war auch weg. Mein Vater hatte Angst, dass sie uns noch das letzte Pferd stehlen würden, und stellte es abends in die Kartoffelkammer, die kein Fenster hatte. Eines Nachts wurde Vater vom Hufklappern des Pferdes im Hof wach. Die Polen hatten es aus dem Versteck geholt.
Es war Anfang Juni, die Kartoffelmieten standen noch. Kartoffeln werden im April gelegt, aber wir Kinder sortierten die Kartoffeln und pflanzten noch sieben Morgen. Im Juli kam ein Pole an, ein junger Kerl mit seinem Mädchen. Er hatte einen Zettel dabei, stellte sich vor meinen Vater und sagte: »Jetzt bin ich der Herr und du der Knecht!« Ich meine, das sind Tatsachen, da kann kein Mensch … Wir mussten die besten Stuben räumen, und meine Eltern mussten für den Polen arbeiten. Ich weiß gar nicht, wie wir so noch gelebt haben.
Dann hieß es, eine von uns Deutschen muss sich beim Bauern Opitz einfinden. Ich weiß nicht, warum ich ausgewählt wurde, vielleicht weil ich die Älteste war. Ich musste bei diesem Polen arbeiten. Er hatte eine Frau, eine ganz zierliche, feine Frau – eine Warschauerin mit Hündchen im Bett. Den musste ich bedienen. Ich musste in der Küche für ihn kochen und abwaschen – musste alles machen. Für mich war das, wie soll ich Ihnen das erzählen – ich musste das Frühstück ans Bett bringen. Abends ging ich nach Hause, morgens musste ich wieder da sein, aufräumen und saubermachen. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Ich bekam dort zu essen. Wenn sie Besuch aus Warschau bekamen, kochten sie mal selber was. Ihre besonderen Gerichte, eine Suppe mit roter Bete. Davon wurde mir schlecht.
Eines Tages bekamen wir einen Bescheid. Wir sollten unterschreiben, dass wir Polen werden. Die Deutschen, die noch da waren, taten sich zusammen und sagten: »Wir sind doch Deutsche, wir wollen doch nicht Polen werden. Wo die uns so schlecht behandelt haben.« Wir haben einfach nicht unterschrieben. Deswegen wurden wir wohl von den Polen rausgeworfen. Nach einem Jahr, im Oktober 46. Auch an diesem Tag arbeitete ich bei dem Polen, seine Frau war verreist. Er verhielt sich komisch, ich sollte ihm am Abend Badewasser fertig machen. Er versuchte, mich aufzuhalten. Er muss gewusst haben, dass unsere Abreise bevorstand. Ich stand schon mit einem Fuß in der Tür. Es kam mir komisch vor. Ich war beinahe vierzehn Jahre und musste schon sowas erleben. Ich fasste Mut, schlug die Tür zu, rannte im Dunkeln nach Hause und erzählte es meiner Mutter.
Was soll ich sagen, in der Nacht um zwölf wurden wir mit großem Hallo geweckt und es hieß, innerhalb einer Stunde müssten wir weg! Jetzt … was mitnehmen? Uns blieb nur, was wir tragen konnten. Ich weiß gar nicht, wie wir das überhaupt ausgehalten haben. Die Stunde war noch nicht um, da mussten wir uns in einer Gastwirtschaft einfinden. Gegen Morgen wurden wir auf einen Sammelplatz in die nächste Kreisstadt transportiert und auf Viehwaggons aufgeteilt. Ungefähr 36 Personen mit Sack und Pack in einen Waggon. Mensch … Wenn ich mir das überlege! Das war im Oktober, es war schon kalt. Vierzehn Tage waren wir unterwegs. Neben uns saß der Pfarrer aus dem Heimatort meiner Mutter, Kaulwitz. Auf den wenigen Säcken, die wir dabeihatten, haben wir gesessen. Der Pfarrer guckte immer durch die Schlitze oben im Waggon. Wir hatten Angst, dass sie uns nach Russland bringen.
Keiner wusste was. Wir landeten im Lager Radeberg. Onkel Johann, Vaters Bruder, hatte das Pech und einen Platz ganz vorne an der Zugtür gehabt. Es war kalt gewesen. Er wurde krank und starb im Lager. Ach, war das furchtbar für meinen Vater! Am 1. November bekamen wir die Nachricht, dass wir bei Neustadt (Dosse) in einem Dorf unterkommen würden. Uns wurde ein Zimmer zugeteilt. Wir hatten nichts. Wir mussten uns durchschlagen. Die Bauern gaben uns nichts.
Als ich 69 zurück nach Schlesien fuhr – wir hatten noch Verwandtschaft da –, was meinen Sie, wie wir da begrüßt wurden! Mein Bruder bekam einen Blumenstrauß und unsere Eltern sollten doch auch kommen. Der Bruder meines Vaters war mit seiner Frau polnisch geworden. Die Polen wohnten noch da, aber sie hatten ein gutes Verhältnis. Alles war wunderbar. Aber wie es da ausgesehen hat! Ich hab es meinen Eltern erzählt. Manche Polen waren sehr nett, es waren ja auch Vertriebene, die auf die Güter der Deutschen kamen. Manche gaben sich Mühe, ich sah viele Güter, die in Schuss gebracht worden waren. Aber bei uns auf dem Gut war es leider nicht so. Die Scheunen alle leer, kein Vieh …
»Mir wurde auf einmal klar, wir werden vertrieben!«
Barbara Schubert-Felmy
(Geboren 1931 in Liegnitz, Lehrerin, Dozentin)
Anfang 1946 wurde es immer sicherer, dass wir das Land nicht behalten. Die Straßennamen waren alle schon polnisch. Das Geld war polnisch. Die deutschen Kinder durften nicht in die Schule, die polnischen Kinder hatten alle normalen Unterricht. Als meine Mutter von dem Beschluss über die Oder-Neiße-Linie im Radio hörte, fing sie mit den Vorbereitungen an. Sie packte Handtücher, Wäsche, Kochtöpfe und Fotoalben in Pakete und schickte alles nach Sachsen, wo ein Anverwandter ein Gut hatte. Später bekamen wir die Sachen auch wirklich zurück. Im Februar packte sie mit meinen Geschwistern und mir zur Probe. Wir durften nur das mitnehmen, was wir tragen konnten. Jeder kriegte einen Rucksack mit Wechselwäsche und warmer Kleidung und um den Rucksack aufgerollt zweimal bezogene Betten. Ich war vierzehn, meine Schwester acht und mein Bruder sechs. Er konnte noch nicht so viel tragen. Meine Mutter und die Omi häkelten Geldscheine ein, unsere Knöpfe waren dann alle mit Geld oder Schmuck gefüllt.
Ich erinnere mich an die letzte Nacht. Ich dachte: ›Mein Gott, die letzte Nacht in meinem Bett. Wo werde ich die nächste verbringen?‹ Wir hatten alles fertig. Die Wohnung war sauber.
Der Tag, an dem wir das Pfarrhaus und Bad Landeck verlassen mussten, gehört zu den Erlebnissen in meinem Leben, die ich in allen Details noch heute vor Augen habe. Ich sehe Mutter und uns drei Kinder sowie die vierzehn Flüchtlinge, die bei uns im Pfarrhaus untergekommen waren, mit dem Gepäck vorm Haus stehen. Ich sehe die polnische Miliz, die die Haustür hinter uns zuschloss, sodass wir aus dem, was uns doch eigentlich gehörte, vertrieben wurden. Auf einmal wusste ich: Das ist ein ganz großer Einschnitt in meinem Leben. Hier war ich behütet, hier war ich durch die Landschaft gestreunt. Ich hatte eine große Freiheit. Und jetzt die Fremde. Trotzdem war ich nichts wie glücklich! Ich dachte: ›So, das hast du geschafft! Weg hier!‹ Ich wollte keine Qual, kein Leiden. Ich hatte das ganz große Bedürfnis nach geregelten Verhältnissen, nach Schule, nach Ausbildung. Es war mir alles zu stumpfsinnig geworden. Ich hatte keine Bücher mehr, die mich interessierten, und meine Freunde waren zum großen Teil schon geflohen. Und dann sagte meine Mutter plötzlich in meine Gedanken hinein: »Du Barbara, im Keller steht noch ein Glas mit Honig. Das hab ich vergessen, das ist doch dumm.«
Wir hatten nicht gehungert, aber sehr, sehr sparsam gelebt. Und Honig war eine Kostbarkeit. Weil das Haus schon abgeschlossen war, lief ich zur Kellertür. Sie war noch auf. Unten dachte ich: ›Mein Gott, jahrelang haben wir in diesem Haus gelebt und niemals hätte ich gedacht, dass ich mich wie ein Einbrecher fühle, wenn ich in das Haus reinkomme, das eigentlich uns gehört.‹ Ich kriegte eine ziemliche Wut. Mir wurde auf einmal klar, ich werde vertrieben! Rausgetrieben! Wir waren keine Nazis. Mein Vater hatte viel Ärger mit den Nazis gehabt. Er war als Pfarrer angeklagt worden, dass er nicht genügend für Hitler betete und solche Sachen. Ich war zwar Jungmädel gewesen, aber das war für mich nicht die Leitlinie. Ich nahm das Honigglas, und als ich aus dem Keller kam, dachte ich: ›Das willst du nie wieder erleben, dass man dich aus dem verjagt, was dir lieb ist.‹ Ich hatte das erste Mal am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, entmündigt zu werden. Vorher war ich froh gewesen, endlich rauszukommen, und nach dem Keller kam eine richtige Traurigkeit: Die schmeißen einen raus! Ich ahnte ja nicht, was die Deutschen in Polen und überall gemacht hatten, das wurde mir erst später klar.
Nun setzte sich der Zug in Bewegung. Mit unserem Gepäck liefen wir die anderthalb Kilometer zum Bahnhof. Dort standen Baracken, in denen die Ausgewiesenen kontrolliert wurden. Mit dem ganzen Gepäck stellten wir uns in die Schlange, und dann brach meine Mutter zusammen – wurde ohnmächtig und lag im Straßengraben. Monatelang hatte sie uns und die Flüchtlinge im Haus versucht durchzubringen – sie war völlig erschöpft. Ein deutscher Arzt kam und gab ihr Spritzen. Nach einer Weile machte sie die Augen auf, und dann trat sie wieder weg.
Dass die da zusammengeklappt ist, bringt mich heute noch immer an den Rand … Puh, Gott! In dem Moment war ich viel älter, als ich eigentlich war. Ich hatte meine kleineren Geschwister, ich hatte das Gepäck, das ich durch die Sperre bringen sollte. Ich dachte: ›Wie schaff ich das bloß?‹ Meine Omi, die auch mit uns ausgewiesen werden sollte, half mir. Sie ging durch die Sperre und zwinkerte mir zu. Hinter der Prüfungsstelle, wo sie ihre Unterlagen gezeigt hatte, ging sie an den Zaun und winkte mir heimlich zu. Ich wusste, was ich tun musste, stellte mich zu ihr an den Zaun und reichte ihr mehrere Taschen heimlich durch. Dann gingen meine Geschwister und ich mit unserem Gepäck durch die Sperre. Wir Kinder wurden nicht kontrolliert. Omi und ich kamen uns vor wie Sieger. Meine Mutter lag immer noch im Graben. Der Arzt sagte zu ihr: »Frau Felmy! Sie müssen jetzt mit Ihren letzten Kräften aufstehen! Sonst werden ihre Kinder einfach weggeschickt.«
Meine Mutter raffte sich auf und wankte mit einem Paket unter dem Arm zur Kontrolle in die Baracke. Dort unterzogen die Polen sie doch wahrhaftig einer Leibesvisitation. Es war grauenhaft. Sie musste sich komplett ausziehen, die Binden auseinandernehmen, sie hatte ihre Tage. Sie fragten, was Mutter denn für Schriften in dem Paket hätte. Da sagte sie: »Das sind die Predigten meines Mannes. Es wäre sehr heilsam, wenn Sie die mal läsen.«
(Sie lacht.) Die Predigten waren das Einzige, was meine Mutter für meinen Vater, der in amerikanischer Gefangenschaft war, mitnehmen konnte. Sie kam zu uns auf den Bahnsteig, wo ein Zug mit Güterwagen wartete. Es kam sogar noch die polnische Bürgermeisterin, die Mutti kannte, und brachte ihr die Sparbücher.
Die Güterwagen wurden geöffnet. Die Hälfte unseres Wagens war schon besetzt mit Leuten aus den Dörfern. Wir stapelten das Gepäck übereinander, obendrauf legten wir uns. Es gab keine Decken, es gab keine Kissen. Es gab nichts. Wir legten einen Mantel über uns. Wir lagen acht Tage auf diesen Koffern. Es gab keine Toilette und natürlich auch nichts zum Heizen. Der Zug setzte sich abends in Bewegung. Die Lichter der Kurhäuser leuchteten weit in der Ferne. Durch die Wagen hindurch sangen die Leute alle zusammen »Nun ade, du mein lieb Heimatland«. Alle heulten. Aber ich war nicht traurig! Ich dachte nur: ›Raus hier!‹ Ich wollte wieder in die Schule gehen! Ich hatte zwei Jahre keine Schule gehabt. Ich hatte als Kindermädchen gearbeitet und lauter Aushilfsarbeiten gemacht, um Essen zu kriegen. Und dann gab es noch einen Grund, einen ganz großen. Meine erste große Liebe war – wildester Zufall – im selben Zug. Ich hatte ihn immer von ferne angebetet, jetzt auf der Reise rannte ich ihm richtig nach. Immer wenn der Zug eine Pause machte, lief ich zu seinem Wagen. Er ließ sich herab und unterhielt sich mit mir, während wir vor den Waggons entlangspazierten. Ich dachte: ›Kinder, ist das schön!‹ Dieses Glücksgefühl überlagerte die Trauer über den Verlust der Heimat zunächst total.
Ansonsten war die Reise schlimm. Wir bekamen nichts zu essen und zu trinken. Wir mussten uns vom Wasser, das die Lokomotive brauchte, etwas zum Trinken holen. Meine Mutter hatte wochenlang vorher Brot geröstet, das trugen meine Geschwister und ich nun in kleinen Beuteln um unsere Hälse. So hatten wir, wenn wir Hunger hatten, wenigstens etwas Brot. In einem Topf machte Mutter ab und zu mit Wasser und Grieß eine Suppe. Wenn wir aufs Klo mussten, hängten wir uns eine Decke um und mussten mitten im Waggon in einen Topf machen. Mir war das sehr peinlich! Alle Männer und Jungen konnten zusehen. Ich kam mir so dreckig vor, wie ein Objekt. Meine Mutter sagte: »Stell dich nicht so an!« Typisch. Aber Gott sei Dank gab es einige ältere Frauen, die sich in meine Lage versetzten und sich um mich herumstellten, wenn ich auf den Topf musste. In den Haltepausen strömten die Leute in die Wälder, und du musstest aufpassen, dass du nicht überall in die Kacke tratst.
Die Erwachsenen hatten eine entsetzliche Angst: Wo werden wir hinkommen? Es wurde gesagt, dass mehrere Züge auch in die Sowjetunion umgeleitet worden waren. Ich stellte mir vor: Da, wo wir hinkommen, kann ich wieder in die Schule gehen, Deutsch sprechen und dann gibt’s wieder was zu essen.
Eines Morgens sagte meine Mutter: »Lieber Gott, danke, wir sind aus der Gefahrenzone raus.« Wir fuhren nun gen Westen.
In Kohlfurt an der Neiße wurden wir von den Engländern übernommen und entlaust, obwohl wir gepflegt und sauber aus unserem Haus gekommen waren. Das war so erniedrigend! Wir wechselten in einen Personenzug, konnten nun auf Holzbänken sitzen und bekamen Tee und eine Suppe. Als wir durch Magdeburg fuhren, sah ich das erste Mal Ruinen. Die Stadt war dem Erdboden gleichgemacht! Wir fuhren weiter gen Westen, eines Morgens war der Zug geteilt und meine große Liebe war verschwunden. Ich war so verliebt! Aber es sollte nicht so sein …
Wir landeten in Lengerich in Nordrhein-Westfalen. Die Flüchtlinge wurden in der ehemaligen Irrenanstalt aufgenommen – ein Massenlager auf Stroh. Die Irren waren durch die Fürsorge Hitlers – in Anführungsstrichen – alle umgebracht worden, und nun standen die Räume leer. Davon hatte ich damals aber noch keine Ahnung. Meine Mutter wohl schon, die war entsetzt.
In der Irrenanstalt konnten wir das erste Mal richtig duschen. Es war herrlich! Wir hatten keine Seife und konnten uns die Haare nicht waschen, also ging meine Mutter mit uns zum Frisör. Da sagte doch wahrhaftig die Frisöse mit gewissem Recht: »Sowas von Dreck hab ich noch nie an einem Menschen gesehn.«
Die hat nicht geahnt, was sie bei mir dadurch auslöste. Sie meinte das wahrscheinlich gar nicht böse, aber ich empfand es als Anklage, dass ich ein Dreckfink bin. Und dass ich mich als Ausgestoßene fühlte, wurde durch das Verhalten vieler Menschen im Westen doch eindeutig bestärkt.
Die Leute wurden auf die Dörfer verteilt, bekamen ein Zimmer zugeteilt. Manche wurden freundlich aufgenommen, manche hatten es furchtbar. Das würden wir heute auch nicht gerne wollen, plötzlich fremde Leute ins Haus zu bekommen. Meine Mutter dachte: ›Was soll ich mit den Kindern auf den Dörfern, wo sollen die denn in die Schule gehen?‹ Sie ging zum Superintendenten in Lengerich und bot ihm ihre Hilfe in der Gemeinde an. Während mein Vater im Krieg war, hatte meine Mutter auch schon zu Hause die Gemeindearbeit übernommen. Der Superintendent war froh über das Angebot und gab uns das alte Gemeindehaus. Dort hatten vorher die Russen als Gefangene gelebt. Die Haustür war rausgebrochen, die Fenster waren zum Teil kaputt. Die Ratten umschwirrten das Haus und den Hof, denn dort hatten die Gefangenen die Essensreste vergraben. Die Badewanne war voller Scheiße. Es war ekelhaft. Aber wir hatten unser eigenes Haus!
Ich sagte zu meiner Mutter: »Bringt ihr den Rest in Ordnung, ich kümmere mich um die Badewanne.«
Ich holte Sand aus dem Hof und säuberte damit die dreckige Wanne. So konnten wir an unserem ersten Abend kalt duschen. Der Superintendent organisierte uns Bettgestelle und Strohsäcke. Wir hatten eine Wohnung, die uns gehörte! Mit Bruchmöbeln, aber das war ganz egal. Ich weiß noch wie heute, als ich mit meinem eigenen Bettzeug, das wir mitgebracht hatten, auf dem Strohsack lag, mit kaltem Wasser sauber geduscht, da dachte ich: ›Puh, gut!‹ Ich war so voller Willen, dass wir hier neu anfangen würden. In diesem Alter ist das einfach toll!
Und dann ging das Leben weiter, das ist eine völlig neue Geschichte. Die Hungerzeit fing erst nochmal richtig an. Wir hatten nichts, keinen Garten. Es gab Marken. Was es ohne Marken gab, waren Heringe. Also aßen wir dauernd Hering. Ich konnte nach den Notzeiten lange Zeit keine Heringe mehr essen. Die Leute um uns herum hatten alle Vorräte – ein Land, das im Grunde genommen überhaupt nicht geschädigt war, die hatten alles behalten. Wir hatten immer Hunger. Auf der Rückfahrt von der Schule sagte einmal eine der Bauerstöchter: »Hach, nun hab ich wieder die Brote nicht aufgegessen. Wenn ich nach Hause komme, krieg ich ja nichts als Schimpfe.«
Ich dachte: ›Sollst du es sagen oder sollst du lieber schweigen?‹ Es war ein richtiger Kampf in mir. Und dann sagte ich: »Ach, weißt du Inge, wenn du Ärger kriegst, ich würde sie schon essen, ich hab eigentlich immer Hunger.«
Das war ihr dann aber schon sehr peinlich. Zu Hause erzählte sie es ihrer Mutter und die ließ uns dann zur Vorweihnachtszeit eine Tüte Mehl zukommen, damit meine Mutter was backen konnte.
Es war eine friedliche Flucht, sie war ja organisiert …
Was ich in den letzten Jahren kapiert habe: Diese Angst, dass es wiederkommt. Diese Rechten machen mich fertig! Und das ist auch der Grund, warum ich ohne Schamgefühl in der Öffentlichkeit, wenn irgendjemand neben mir solche blöden Sachen sagt, widerspreche: »Ich verstehe Sie nicht, wie können Sie so reden!«
Früher hätte ich geschwiegen. Aber jetzt nehme ich es ernst. Es ist eine Gefahr.
Von wandelbaren Gerüchen, Hosenbeinen und dicken Kuchenblechen
Mit den Flüchtlingen war es so: Meine Mutter lernte auf der Straße eine Frau kennen. Sie weinte furchtbar. Die Frau erzählte, dass sie und ihre Tochter geflüchtet waren, ihr Mann war im Krieg. Sie hatten nichts zu essen und so einen Hunger. Ihr Kind war zwei Jahre jünger als ich, fünf Jahre alt, und es hatte nichts zum Anziehen. Meine Mutter nahm die Frau mit zu uns nach Hause und gab ihr Sachen von mir, aus denen ich rausgewachsen war. Sie hatte bei meinen Schuhen schon die Spitzen abgeschnitten, weil wir keine Schuhe kriegten.
Ich habe das oft von anderen gehört, auch von meiner Freundin, die geflüchtet ist: Sie bekamen auf dem Land ein Zimmer zugeteilt, das nicht beheizt war. Sie hatten kaum zu essen, und die Kinder mussten immer alle mithelfen. Die da auf dem Land sollten sich was schämen, denn das waren ja Deutsche, die geflüchtet sind.
In der Stadt bei uns in Berlin war es so: Wer eine größere Wohnung hatte, musste Zimmer an Flüchtlinge abgeben. In unserem ganzen Haus wohnten überall in den Wohnungen mehrere Familien. Da hat sich keiner gegen gewehrt, von wegen das will ich nicht! Wissen Sie, das gab es nicht! Die waren hier mitten in der Stadt alle verteilt. Wir waren dann auch so viele Kinder in der Klasse, weil so viele geflüchtet sind. Als wir abgingen, waren wir neun 10. Klassen! So viele Kinder waren wir – 35 in der Klasse! Geht alles!
(Edeltraud H., Jg. 1938)
Ich erinnere mich an die Geschichten der Flüchtlinge aus Ostpreußen, die bei uns im Dorf vorbeikamen. Eine Familie hatte erzählt, dass ihr zweijähriges Kind auf der Flucht erfroren war. Die Kleinen konnten ja nicht trockengelegt werden. Die machte sich nass, und dann fror das ein. Sie hatten keine Wäsche mehr. Man kann sich heute die Kälte von 25 Grad minus auf der Flucht gar nicht vorstellen. Es muss schlimm gewesen sein … Wir mussten nur aus Westpreußen fliehen und konnten noch mit dem Zug fahren.
Ich wundere mich immer, dass darüber so wenig geredet wurde. Oder wie soll ich sagen, ich hatte später im Westen sehr viele Freundinnen, auch eine in Bayern, die es ganz normal fanden, dass wir flüchten mussten. Schließlich musste ja jemand den Krieg bezahlen, und das trifft natürlich immer irgendeinen. Damit war für meine Freundinnen das Thema erledigt. Dass das für jemand, der davon betroffen war, nie erledigt ist, weil ja was fehlt, das haben die, glaube ich, bis heute nicht begriffen. Es ist sehr einschneidend, wenn Sie aus Ihrem Umfeld rausgerissen werden. Egal, ob das nun mit einer schlimmen Flucht verbunden war oder nicht. Wir mussten weg und durften nicht wieder zurückkommen – das ist sehr einschneidend. Wir sind nicht immer mit offenen Armen aufgenommen worden. Meine Freundin aus der Schule durfte mich nicht mit nach Hause bringen, weil ich Flüchtlingskind war. Das war ihr streng verboten. Als ihre Eltern mal verreist waren, hat sie mir heimlich das Haus gezeigt. Ist das nicht ein Ding! Als hätten wir die Krätze gehabt. Das verschweigt man heute auch. Also so gut, wie die Flüchtlinge heute aufgenommen werden, wurden wir nicht aufgenommen. Und wir waren das gleiche Volk und hatten nicht mehr verbrochen als die, wo wir hingekommen sind. Das war meinen Freundinnen, die nicht flüchten mussten, irgendwie nicht klar. Das war nicht ganz einfach …
(Kristin K., Jg. 1937)
Wir wurden durch die Polen aus Stettin vertrieben, das hatten die Russen so angeordnet. Das Allernötigste konnten wir auf einem Handwagen mitnehmen. Ich durfte mich als Kind auf den Wagen setzen, das machte mir Spaß. Wir waren Wochen unterwegs. Irgendwann wurde meine Mutter von den Russen mitgenommen. Opa und ich zogen weiter, trieben uns in Scheunen rum, damit wir wenigstens ein Dach über dem Kopf hatten. In Mecklenburg-Vorpommern liefen wir durch eine Stadt – auf einmal kam uns meine Mutter entgegen. Solche Zufälle gab’s! Sie hatte eine Glatze. Die Russen hatten sie vergewaltigt und dann kahl geschoren – wollten sie nach Russland verschleppen. Da hatte sie gesagt, sie muss mal und war geflohen. Zusammen zogen wir weiter, übernachteten in Scheunen. Die Bauern gaben uns nichts. Wir mussten auf Knien Rüben verziehen. Wir mussten uns das Essen verdienen. Dann bekamen wir auch ein Zimmer. Das mussten wir uns verdienen. Das Schlimmste waren die Bauern, die in Saus und Braus lebten und uns das fühlen ließen. Wir waren damals die Flüchtlinge, die heute aus anderen Ländern kommen. Wir waren einfach nicht willkommen.
(Helga Schwierzke, Jg. 1936)
Wir waren nach Stettin geflüchtet. Weil wir dort fast jede Nacht in den Luftschutzkeller mussten, zogen wir weiter zu Verwandten in den Warthegau. Wir lebten dort in einem deutsch-polnischen Dorf mit einer deutschen Minderheit, das bis 1939 zu Polen gehört hatte. Die Deutschen im Dorf waren die reichen Leute und besaßen Güter rundherum. Ich konnte sehen, wie die Polen schlecht behandelt wurden. Die mussten von den Bürgersteigen runter auf die Straße gehen, wenn wir als Deutsche vorbeikamen, und uns grüßen. Die Fahrräder der Polen waren weiß gestrichen, sodass man sie gleich erkennen konnte. In den Geschäften wurden sie als Letzte bedient. Die Regel war: Solange noch ein Deutscher im Laden ist, werden Polen nicht bedient.
(Alexander A., Jg. 1932)
Nach dem Krieg war Flüchtling ein Schimpfwort. »Du Flüchting!«, haben wir immer gesagt. Wir hatten nachher viele Leute aus Ostpreußen in der Schule. Wir hörten das immer am Namen. Die mit -ky hinten. Orlowsky und wie sie alle hießen. Da hat uns unser Lehrer erzählt, das es eigentlich polnisch ein »von« war. Na ja, dann hieß er eben von Orlowsky …
(Alfred D., Jg. 1936)
Während wir auf der Flucht ständig die Züge wechselten, hing ich so gut es ging am Rockzipfel meiner Mutter. Auf einem der vielen Bahnsteige, auf denen wir umsteigen mussten, hatte ich ein Schlüsselerlebnis, von dem ich jahrelang noch nachts Albträume hatte. Da meine Mutter das Gepäck trug, sagte sie auf diesem Bahnhof zu mir: »Fass die Anneliese an.«
Meine große Schwester wollte ich aber nicht anfassen. Das war das erste und letzte Mal, dass ich als Kind aufmüpfig war. Auf einmal war ich allein! Ich Kleine sah nur noch Hosenbeine um mich herum, die sich bewegten … nur Hosenbeine. Ich fing an zu weinen. So wurden wohl Leute auf mich aufmerksam und holten eine Rot-Kreuz-Schwester. Die Schwester nahm mich an die Hand und war gerade mit mir losgelaufen, als ich plötzlich meine Schwester die Treppe runterkommen sah. Ich rief: »Da ist meine Schwester!«
Ich wusste damals nur, dass ich Roswitha heiße. Ich wusste nicht meinen Nachnamen, und wo ich wohnte und herkam, wusste ich auch nicht. Ich wäre ein Suchkind geworden. Wieder Glück gehabt … Meine Mutter saß währenddessen wie auf Kohlen mit dem Gepäck im überfüllten Zug, der gleich abfahren sollte. Aber Annie hatte mich geholt, und danach war ich immer artig. (Sie lacht.) Sehr lange hatte ich bildliche Direktträume – immer wieder dasselbe. Ich habe mir von Psychologen sagen lassen, dass solche Träume aufhören, wenn ein Kind sich selbstständig weiß. Geblieben sind Träume – die hatte ich ewig –, in denen ich zu spät komme und die Rücklichter von Zügen sehe. Ist das nicht merkwürdig?
Das war meine Kindheit, die mich geprägt hat. Ich habe mich in meinem Leben immer mitnehmen lassen. Ich habe nicht selber Initiative ergriffen. Ich habe auch nicht gesagt: ›Nee, das will ich nicht, oder das mach ich nicht.‹ Ich hab alles gemacht. Total angepasst. Das war nicht so gut für mich …
Jedenfalls haben wir es überlebt. Die Menschen haben Fürchterliches durchgemacht. Ich kann nur hoffen, dass sowas nie, nie wieder passiert. Es war schon sehr schlimm.
Ich merke, je älter ich werde, desto mehr denke ich an die Zeit zurück. Warum bloß? Merkwürdig …
(Roswitha Weiß, Jg. 1939)
Gerüche sind wandelbar. Zum Schluss des Krieges umgab uns ein ständiger Verwesungsgeruch. Ringsum war Tod. Ja, Tod und Verderben, sagt man immer, aber es war ringsum Tod, und es war ringsum Verwesung. Ich kann mich erinnern, als wir auf Kähnen die Ostsee entlanggeflüchtet waren und auf Rügen lagen und auf die Russen warteten, da starben auch Menschen. Die mussten ja beerdigt werden. Einige Leute waren bereit, Gräber zu schaufeln, wo sie die Toten einfach reinlegten. Ich guckte zu. Als ein toter Soldat nicht in das vorher geschaufelte Grab passte, wurde dem der Kopf abgehackt und danebengelegt. Anstatt das Grab größer zu machen, die Arbeit wollte man sich nicht mehr machen, ja … Das hat natürlich auch gestunken. Es war ja ein Toter, und die Leichenflüssigkeit kam raus und roch entsprechend. Der Geruch ging über das ganze Lager. Auf den Kähnen hatten wir das Problem, wo die Notdurft verrichtet werden konnte. Toiletten hatten wir nicht. Wir mussten es irgendwie über Bord bekommen. Und als wir tagelang im Hafen lagen, wurden auch keine Toiletten aufgestellt. Es wurden Donnerbalken geschaffen, auf die wir raufmussten, oder man hat sich die Hosen vollgemacht. Die Exkremente, die hinter den Donnerbalken fielen, umwehten nachher den ganzen Hafen. Und diesen Geruch haben Sie dann intus. Ich sag das jetzt mal ein bisschen drastisch, es roch nach Scheiße, Dreck und Tod. Und das hat Sie auch verfolgt. Das hat im Grunde genommen angedauert, bis wir wieder einigermaßen normale Verhältnisse hatten. Also bis die Russen im August, September 45 aufhörten, jeden zu erschießen, der ihnen nicht gefiel, oder jede Frau zu vergewaltigen. Dann ging auch der Geruch zurück. Es gab wieder ein bisschen Pflege und Reinlichkeit, obwohl wir gar keine Mittel hatten, keine Seife, nichts. Ich weiß nicht mehr, wie wir das gemacht haben. Wasser hatten wir. Ein Glück! Also, die Gerüche sind tatsächlich andere im Krieg und umwehen dann auch mehr oder minder jedes Tun. Sie werden davon bestimmt. Wenn ich daran denke, als ich die Bahnstrecke von Ueckermünde nach Berlin langlief, weil die Schienen von den Russen rausgerissen worden waren, lagerten auf den Bahnhöfen überall Flüchtlinge. Die waren auch umweht von den Gerüchen. Ich roch schon ein paar Kilometer vorher, dass ich in die Nähe eines Bahnhofs kam. (Er lacht.) Es war wirklich so. Eigentlich auch erklärlich …
(Burkhard C., Jg. 1932)
Ende 44 hörten wir plötzlich Kanonendonner. Die Stadt war in Aufregung. Die Russen! Die Russen kamen langsam näher. Was jetzt machen? Meine Mutter, sehr clever, horchte rum. An einem Vormittag sagte sie plötzlich: »Nimm deine Schultasche und tu das rein, was du gerne möchtest, wir gehen sofort zum Bahnhof und fahren raus aus Ostpreußen.«
Meine Mutter bepackte in höchster Eile den kleinen Kinderwagen mit ein paar Windeln. Wir ließen alles in der Wohnung, hatten nur das Allernötigste bei uns. Am Bahnhof stand ein völlig überfüllter Rot-Kreuz-Zug mit verwundeten Soldaten und Müttern mit Kindern. Man presste in den Zug rein, was reinging. Wir hatten Glück. In unserem Abteil saßen vier oder fünf Familien. Die Kinder lagen in den Betten und die Erwachsenen auf der Erde. Ich auch. Kein Platz. Die Gänge waren voll. Ich hörte die Schreie von den Verwundeten, die in den anderen Abteilen lagen. Der Zug fuhr mit uns nach Dresden. Der Hauptbahnhof lag in Trümmern! Diesen Eindruck habe ich bis heute nicht vergessen. Es war nichts mehr von Dresden da. Mit Bussen wurden wir auf die Dörfer verteilt. Wir bekamen eine kleine Wohnung bei einem Bauern in Friedrichsfelde, eine Küche mit einer kleinen Kammer. Meine Schwester schlief im Kinderwagen und ich mit meiner Mutter im Bett in der Kammer.
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