Kitabı oku: «"Alles schaukelt, der ganze Bunker schaukelt"», sayfa 6

Yazı tipi:

»Hat sich eine Frau aufgehängt, hat die beiden Kinder unterm Baum sitzen lassen!«
Hilde S.

(Geboren 1934 in Königsberg, Postfachangestellte)

Ich habe nichts, keine Unterlagen, keine Dokumente, gar nichts … Es tut mir leid, aber da müssen Sie sich wirklich darauf verlassen, an was ich mich erinnern kann. Am 28. August 1944 wurden wir ausgebombt. Haben Sie schon mal gesehen, wenn Glas brennt? Das fließt, als ob Wasser die Straße lang läuft … Es war die Hölle! Ich war neun Jahre alt, meine Schwester zwei Jahre jünger. Wir saßen in einem Luftschutzbunker. Der Blockwart kam rein und sagte: »Borchertstraße 26 und 28 brennt.«

Da war für uns klar, es ist aus. (Spricht mit brüchiger Stimme.) Nach der Entwarnung wurden wir auf einen Sportplatz geführt, wo wir für ein paar Tage und Nächte blieben. Wir trugen nur ein Sommerkleidchen, einen Schlüpfer und Sandalen. Sonst nichts – nichts! Unsere Stiefmutter hatte nur die Tasche mit den Papieren dabei. Wir wussten ja nicht – dachten, wir könnten wieder zurück in die Wohnung. Wo sollten sie nun mit uns hin? Sie verfrachteten uns nach Eisenberg in ein Auffanglager. Aber da durften wir auch nicht bleiben. In Zügen wurden wir nach Sachsen gebracht und landeten in Neuwürschnitz, wo wir auf die Familien im Dorf aufgeteilt wurden. Aber auch dort gab es Angriffe. Ich sah, wie Dresden brannte! Sie können sich das nicht vorstellen, wenn der Himmel glutrot ist. (Sie weint.) Sie denken, es ist Abendrot, und dabei brennt alles!

Dann war der Krieg zu Ende. Zuerst kamen die Amerikaner und aßen unsere Erbsensuppe weg, die meine Stiefmutter gerade auf dem Herd stehen hatte. Die Erbsen waren noch gar nicht richtig weich.

Am schwarzen Brett im Ort hing kurz darauf ein Zettel: »Alle Flüchtlinge aus Ostpreußen und Schlesien können wieder zurück.« Meine Stiefmutter wollte zurück. Wir kamen in einem Güterwagen bis zur Oder. Dann war Schluss. Wenn ich zurückdenke, was ich alles durchgemacht habe …

Wir sitzen im Zug, unter uns die Oder, mitten auf der Brücke halten wir an. Russen kommen rein. Einige von ihnen nehmen sich ein paar Frauen vor. Meine Stiefmutter sagt zu mir: »Komm mal schnell auf meinen Schoß, du bist krank.«

Zu einem Russen sagt sie: »Nee, Kind krank, kann nich kommen!«

Der Russe sagt: »Dann Kind aus Waggon schmeißen!«

Die Frauen im Waggon schreien alle auf. Meine Stiefmutter hält dem Russen eine große Büchse mit Tabak hin. Sie raucht. Das ist ihr Glück gewesen.

Als der Zug über die Brücke gefahren war, stiegen wir aus und liefen los. Irgendwohin! Ab dann waren wir von Anfang Mai bis September 45 auf der Landstraße unterwegs. Vier Monate lang! Liefen in einem kilometerlangen Treck mit. Über Hoyerswerda, Cottbus, Seelow und wo wir überall waren – in Altlandsberg und dann auch in Berlin. Was sollten wir denn in Berlin? Da kriegten wir sowieso keine Aufenthaltsgenehmigung und in den anderen Städten auch nicht. Meine Schwester und ich verstanden das alles gar nicht. Wir liefen einfach hinter unserer Stiefmutter her. Im Endeffekt liefen wir einmal um die Welt … Vier Monate auf der Landstraße, was wir da erlebt haben! Oh Gott, oh Gott, oh Gott! Hatte sich eine Frau aufgehängt, hatte die beiden Kinder unterm Baum sitzen lassen. Hatte ihnen eine Tüte Zucker und eine Tüte Salz hingestellt und sich da einfach aufgehängt! Und die Kinder saßen noch da drunter. Sowas vergisst man sein Leben lang nicht! (Sie weint.) Wir saßen nicht weit entfernt, hatten einen Herd aus Ziegelsteinen gebaut, auf dem unsere Stiefmutter eine Sauerampfersuppe kochte.

Die Frau kann sich doch nicht da aufhängen und die Kinder da drunter sitzen lassen! Das wurde meiner Schwester und mir erst ein paar Tage später klar. Ich fragte meine Schwester: »Anneliese, wo sind denn jetzt die Kinder? Sind die mit uns allen mitgelaufen?«

Sie wusste es auch nicht. Unsere Stiefmutter sagte, der große LKW hätte die Kinder mitgenommen. Es kamen häufiger LKWs vorbei, die alleingelassene, verlorene Kinder aufsammelten.

Einmal sahen wir einen alten Mann, er war bestimmt schon achtzig oder neunzig. Er lag in einem großen Handwagen und war mit Kissen zugedeckt. Seine Familie zog weiter und ließ den Mann einfach in dem Wagen zurück. Ich sagte zu meiner Schwester: »Sag, können die das denn machen, das können die doch gar nicht!«

Meine Stiefmutter zog uns weiter. Furchtbar. Und die Frau, die ihre Kinder hat sitzen lassen. Oh Gott, oh Gott, oh Gott. Nee …

Ich weiß gar nicht, wovon wir die ganze Zeit gelebt haben. Irgendwo lag mal ein Pferd auf der Straße. Die Leute standen mit ihren Kübeln davor an, um endlich ein Stück Fleisch zu kriegen. Und ich erinnere mich, dass auf einem verlassenen Bauernhof ein Eimer mit Käse stand. Der wurde genau aufgeteilt, jeder kriegte ein Stück. Mit Brot war es schlecht. Wenn wir in den verlassenen Bauernhäusern noch altes Brot fanden, rösteten wir kleine Stückchen überm Feuer. Wenn Ähren an den Feldrändern lagen, klopften wir die mit einem Stein aus, so hatten wir etwas Mehl. Die Sauerampfersuppe, ach, die hat geschmeckt, das glauben Sie gar nicht. (Sie lacht.) Wenn man sich das heute vorstellt … Oder es gab Brotsuppe, einfach nur mit Wasser gekocht. Auf den Feldern versuchten wir, Kartoffeln auszubuddeln. Die wurden nicht geschält, wir wischten sie nur ab und machten auf Ziegelsteinen ein Feuerchen, wo wir sie gleich kochten. Meine Schwester Anneliese hatte auf einem verlassenen Bauernhof einen Kochtopf gefunden. Das kann sich kein Mensch vorstellen … Wir schliefen auf dem nackten Feld, mit der Jacke zugedeckt. Dass wir nicht krank geworden sind … Meine Schwester und ich hatten ganz lange Zöpfe, aber keine Läuse und keine Krätze. Unsere Stiefmutter achtete immer darauf, dass wir uns regelmäßig wuschen. Wir hatten gar keine Zahnbürste. Wie wir uns da die Zähne geputzt haben? Wenn ich daran denke, was wir zum Anziehen hatten. Heutzutage braucht man jeden Tag einen neuen Schlüpfer, jeden zweiten Tag einen anderen BH. Hatten wir gar nicht. Ich weiß gar nicht, wie ich das als Kind empfunden habe. Das ist wie weggepustet.

Wenn ich an die heutigen Flüchtlinge denke, was die alles haben, die kriegen Geld, die kriegen alles. Da hat uns früher kein Mensch nach gefragt: Wie es uns geht, ob wir was zum Anziehen haben.

Meine Stiefmutter war eine Stiefmutter, wie sie im Buche steht. In Altlandsberg gab es endlich mal wieder Wasser aus einer Pumpe. Sie drückte mir eine Kanne in die Hand: »Hier, stell dich schon mal an! Geh mal Wasser holen!«

Ich war unterdessen schon zehn Jahre. Ich stellte mich mit der Wasserkanne an, pumpte Wasser und kam zurück zu der Stelle – war keiner mehr da! Meine Stiefmutter wollte mich einfach loswerden. Ich heulte wie ein Schlosshund. Irgendwann kam einer von den LKWs, die die Kinder einsammelten. Der Fahrer rief: »Sind hier noch Kinder ohne Eltern?«

Als er mich heulen sah, kam er an und fragte: »Was is denn?«

Ich sagte: »Meine Mutter und meine Schwester sind weg. Ich sollte Wasser holen und jetzt sind die nicht mehr da.«

Er nahm mich mit. Brachte mich und die anderen Kinder nach Berlin-Weißensee in eine alte Schule. Dort fragten sie mich, wo ich denn herkommen würde und wo ich bisher gewesen war. Ich erzählte: »Wir waren zwischendurch schon mal in Berlin. Und da war am Bahnhof ’ne Kirche.«

Sie fuhren mit mir durch halb Berlin, auch am Schlesischen Bahnhof vorbei. Ich rief: »Ja, hier, hier, da war das. Da ist die Kirche!«

In dem Gemeindehaus neben der Kirche war ich ein paar Wochen vorher schon mit meiner Stiefmutter gewesen. Sie musste dort Bekannte gehabt haben. Und tatsächlich waren meine Stiefmutter und meine Schwester inzwischen auch wieder dort gelandet. Meine Stiefmutter freute sich natürlich nicht, dass ich sie wiedergefunden hatte. An der Pumpe hatte meine Schwester zu ihr gesagt: »Wir müssen doch noch auf Hilde warten!«

»Die kommt schon nach! Die kommt schon nach«, hatte meine Stiefmutter zu ihr gesagt. Das war eine Stiefmutter, wie sie im Buche steht …

Nun wissen Sie ein bisschen was von mir. Was ich schon durchgemacht habe. Ach nee, nee … Eins weiß ich: Nie wieder, nie wieder Krieg! Also der liebe Gott möge das erhören. Dass es nie wieder so was gibt – dass meinen Kindern oder meinen Enkelkindern das nicht passiert. Furchtbar …

»Ich kümmerte mich darum, dass meine Schwester beerdigt wurde.«
Margot Rickert

(Geboren 1932 in Berlin, Sekretärin)

Im Krieg … Irgendwann ist niemand mehr da, der sagen kann, wie es war.

Ich habe fast die ganze Kriegszeit im Oderbruch verbracht. Meine Cousine und ich waren auf einen Bauernhof von Bekannten evakuiert. Auf der anderen Seite der Oder, in Güstebiese, wohnten meine Großeltern. Das war ein so bezaubernder Ort! Schon damals war das ein Luftkurort direkt an der Oder. Auf den Hügeln stand überall Wald … überall Wald! Es war eine Luft da! Wenn es den Ort noch so geben würde, wie er damals war, würde ich dort wohnen und nicht in Berlin. Ich würde mir zwei Hühner anschaffen und einen Hund. (Sie lacht.) Ich liebe das Land und die Natur. Wenn ich manchmal die Augen zumache, habe ich immer noch den Geruch von damals in der Nase. Das Oderbruch liebt nicht jeder, wissen Sie, das macht vielleicht ein bisschen schwermütig. Aber mir hat es dort immer gut gefallen.

Meine Mutter kam 44 kurz vor der Geburt meiner Schwester zu uns auf den Hof ins Oderbruch. Das Krankenhaus Neukölln hatte eine Außenstelle in Bärwalde, hinter Güstebiese weiter Richtung Osten rein. Dort entband sie im August meine Schwester. Meine Mutter war schon 38, damals eine Spätgebärende.

Meine Schwester war eine ganz Aufgeweckte. Sie stand schon ganz früh in ihrem Bett und guckte hinter uns her, wenn wir zur Schule gingen. Sie war ein ganz aufgeschlossenes Kind. Alle waren glücklich über Mariannchen! Endlich hatte ich auch eine Schwester! Für mich war es die schönste Zeit, da draußen an der Oder. Ich saß im Kirschbaum in einer Astgabel und schmiss die Kirschsteine runter, oder ich zog bei Oma im Garten die Mohrrüben aus der Erde und aß sie gleich. Meine Oma war ganz pingelig, in ihrem Erdbeerbeet lag jede Erdbeere auf einem eigenen Blatt. Sie wusste immer genau, wenn eine fehlte. (Sie lacht.) Oder ich brach mir Maiskolben ab … Das war zu meiner Zeit alles noch möglich. Ich denke immer: Wie traurig ist es inzwischen für die Kinder heute, die können das gar nicht erleben. Es war wirklich eine schöne Zeit – es gab keine ausgefeilte Technik. Die Technik macht uns kaputt!

Wenn in Berlin Angriffe waren, standen wir vorm Hof und guckten, wie die »Weihnachtsbäume« über der Stadt am Himmel standen … Zu Weihnachten 44 kamen dann immer mehr Trecks mit Pferdefuhrwerken aus Ostpreußen, die bei uns übernachteten und am nächsten Tag weiterfuhren. Wohin? Weiß ich nicht. Die Front rückte langsam näher. Meine Mutter bekam Bedenken, meine Schwester war noch so klein, deswegen wollte sie zurück nach Berlin, wo mein Vater lebenswichtige Güter fuhr und deshalb von der Armee befreit war. An Wochenenden kam er oft zu Besuch. Aber Vater sagte: »Nein, kommt nicht infrage, bleibt da. An der Oder gehen die Russen durch und dann ist es vorbei, aber in Berlin wird gekämpft!«

Also blieben wir … Am 27. Januar kamen die Russen. Wir saßen mit den Nachbarn im Keller, hatten uns zusammengetan, damit wir nicht alleine waren. Der Hof geriet mitten in die Front! Den einen Tag waren die Russen auf dem Hof und den anderen Tag die Deutschen. Es ging immer hin und her. Aus dem Keller hörten wir die Schüsse fallen. Die Gehöfte lagen weit auseinander, waren aber mit einem losen Steig verbunden. Einmal liefen wir über den Steig von einem Keller zum nächsten, dabei sausten uns die Geschosse um die Ohren. Ich hatte große Angst, obwohl ich gar nicht ahnte, was mir wirklich passieren konnte. Aber wir hatten großes Glück, niemand wurde getroffen.

Und dann fing es mit den Russen schon ein bisschen an … Sie holten sich mehrere Frauen aus dem Keller, die Bäuerin und ihre Tochter und auch Tante Maria, die Freundin von meiner Mutter. Meine Mutter hatte Glück, aber die anderen Frauen nicht. Die Russen nahmen alles mit. Uri Uri natürlich – einer hatte bis oben am Arm alles voller Uhren. Damals haben wir das alles nicht verstanden. Heute weiß man, warum das so mit den Vergewaltigungen war. Die russischen Soldaten hatten ja nie Urlaub. Das waren ganz einfache Leute. Die Ersten, die kamen, die an der Front waren, waren noch anders als die, die nachher kamen. Das wussten wir damals alles nicht.

Nach einer knappen Woche befahlen uns die Russen, das Haus zu verlassen. Die Nachbarn aus den umliegenden Gehöften waren alle schon weg. Wir liefen zusammen mit dem Bauern und seiner Familie sowie Tante Maria und ihrer Tochter Ursel, die so alt war wie ich, zur Oder runter. Links ging es zur Bahn Richtung Berlin – mittlerweile Frontgebiet – und rechts nach’m Osten. Wir wollten nach links Richtung Berlin, aber die Russen ließen uns nicht durch. Wir mussten nach rechts über die zugefrorene Oder. Auf dem Eis war ein Weg abgesteckt. Durch die andauernden Kämpfe war der Weg teilweise zerstört, große Löcher befanden sich im Eis. Es war nicht leicht, den Kinderwagen um die Löcher zu schieben. Das Eis türmte sich an manchen Stellen hoch auf. Überall lagen tote Pferde, kaputte Fuhrwerke und viele tote Soldaten. Meine Mutter sagte zu mir: »Wenn das nächste Eisloch kommt, dann gehen wir da rein.« Ich fing an zu weinen und sagte: »Das will ich nicht!« Mutter schob den Kinderwagen mit meiner Schwester, die in eine dicke Decke gewickelt war, weiter. Auf dem Wagen lag noch ein Koffer. Mit einem Seil half ich Mutter, den Wagen über das Eis zu ziehen. Wir erreichten Großmutters Haus, aber sie war schon weg, weiter nach’m Osten geflüchtet. Wir blieben für ein paar Tage, dann kamen wieder die Russen. Die Belästigungen gingen weiter. Immer hieß es: »Frau komm!« Sie befahlen uns wieder, weiterzuziehen. Wir liefen weiter Richtung Osten, manchmal übernachteten wir im Wald, manchmal fanden wir Unterschlupf in verlassenen Wohnungen. Wir Kinder durchstöberten die leeren Häuser, suchten immer nach Essen. Für meine Schwester wurde es schlimm, die war ein Baby und hatte keine Milch. Es gab nichts mehr.

Irgendwann landeten wir auf einem Bauernhof bei einer christlichen Familie. Sie hatten schon viele Flüchtlinge aufgenommen. Das Erdgeschoss war leergeräumt, alle Möbel standen in der Scheune. Der Boden war mit Stroh bedeckt, wo die Flüchtlinge in Reihen lagen, nur in der Mitte des Raumes war ein Gang freigelassen worden. Weiß ich, wie viele Leute da waren? Hundert reicht bestimmt nicht. Jeden Tag kochten die drei Schwestern, denen der Hof gehörte, in einem großen Kessel Sojabohnensuppe. Davon bekam jeder ein Tässchen voll. Was Warmes! Wir hatten doch solchen Hunger! Bevor sie die Suppe verteilten, beteten sie mit uns, und alle machten mit! In einer solchen Situation machen alle mit. Ob einer wirklich glaubt oder nicht glaubt – in so einer Situation ist es anders. Tagsüber trieben wir Kinder uns draußen rum und suchten nach Essen. Mal spielte auch jemand von den Erwachsenen Mundharmonika oder wir spielten auch mal Farben raten. Es gab sonst nichts zu tun.

Wissen Sie, ich habe manchmal ein bisschen Schwierigkeiten, wenn ich lese, welche Ansprüche von den Flüchtlingen heute gestellt werden. Da denke ich manchmal: Meine Güte, Kinder, Kinder! Das verstehe ich nicht. Dieses Tässchen Sojabohnensuppe, ich sage Ihnen, das war was Warmes und darauf freute ich mich den ganzen Tag! Weil die Toilette für die vielen Menschen nicht reichte, war hinter der Scheune ein Donnerbalken gebaut. Natürlich hatten alle Durchfall mit der Zeit.

Nachts kamen die Russen und holten sich Frauen. Sobald sie »Frau komm!« riefen, lief eins von uns Kindern schnell rauf in den ersten Stock und holte den Offizier, der sich dort mit seiner Freundin einquartiert hatte. Er sorgte dann für Ordnung. Ich erinnere mich noch an einen Russen, den kannten wir nachher schon. Er stand mit einer Fackel in der Hand im Türrahmen und guckte sich eine Frau aus. Dann sprang er direkt zwischen die liegenden Frauen. Nachher wurden die Frauen ein bisschen kesser und schubsten ihn weiter. Ja, da waren ein paar mutige Frauen dabei. Jeden Abend kamen neue russische Panjewagen mit kleinen Pferden vorgespannt. Sie brachten Verpflegung für die Front, säckeweise Zucker und Mehl, übernachteten auf dem Hof und zogen am nächsten Tag weiter. Uns Kindern gaben die Mongolen manchmal eine Handvoll Zucker. Das war toll!

Mensch, der Krieg damals … Die Soldaten kamen mit Fuhrwerken, vor die Ponypferde gespannt waren. Damit fuhren sie an die Front und brachten Lebensmittel. Wenn man sich das heute vorstellt!

Nach ein paar Wochen zog ein neuer Offizier ein. Der kam nicht runter, wenn wir Kinder ihn riefen. Er sagte, deutsche Soldaten hätten das auch gemacht. Wenn der Offizier runterkam, kamen die Frauen freiwillig mit. Aber dann hatte er eine feste Freundin und benutzte keine andere mehr. Benutzt kann man so sagen. (Sie lacht.) Die anderen Soldaten nahmen sich, was es gab. Egal wie alt oder jung. Ob das Omas waren, war denen völlig wurscht. Ob da Kinder dabei waren, war für die uninteressant. Wahrscheinlich hatten die so viele Bedürfnisse und kannten das vielleicht auch nicht anders. Die Soldaten waren teilweise sehr einfache Menschen. Sehr einfach! Die wussten zum Teil nicht, was Klobecken sind. Heute ist alles anders, aber als die damals aus dem tiefen Russland kamen, wussten sie gar nicht, was das alles ist. Darum waren sie auch so verrückt nach den Uhren.

Wir Kinder hielten immer nur nach Essen Ausschau. Liefen durch die Häuser, guckten, wo noch etwas zu finden war. Ursel und ich freundeten uns mit zwei Jungs an, Helmut und Günther. Oft waren wir zu viert unterwegs. Einmal hatten die Jungs zwei kleine Pferde eingefangen. Jeweils zu zweit ritten wir auf ihnen bis zu einem Wäldchen. Aber auch da waren Russen, und wir mussten vorsichtig sein. Wir mussten immer Angst haben. Ursel und ich trugen Zöpfe und eine Mütze, damit wir wie Kinder aussahen. Bei schönem Wetter aßen die Russen an langen Tischen im Hof der nahe gelegenen Kaserne. Wir Kinder standen mit unseren Töpfen abseits und warteten, bis sie das übrig gebliebene Essen in eine Kuhle warfen. Wenn wir Glück hatten, sammelte vorher einer der Russen die Reste ein und goss sie uns in den Topf. Wenn wir Pech hatten, kam einer, guckte uns an, lachte und kippte die Reste in die Kuhle. Dann holten wir uns die Reste von dort. Wir hatten ja Hunger! Manchmal fanden wir noch Kartoffeln auf den Feldern, die eingemietet worden waren. In den Häusern fanden wir oft überhaupt nichts mehr. Vor uns hatten schon so viele nach Essen gesucht, die Häuser standen ja alle offen. Einmal hatten wir Vitamintabletten gefunden. Wir aßen sie sofort wie Bonbons auf. Davon bekamen wir mächtigen Durchfall. Das Viehzeug war weg, es gab keine Kühe, Schafe und Ziegen mehr. Einmal lag eine Kuh im Graben, die wohl bei einem Angriff getötet worden war. Was meinen Sie, was da los war! Alle kamen und schnitten sich ein Stück raus. (Sie lacht.) Die Frauen bauten direkt daneben eine Kochstelle, stellten einen Topf drauf und endlich gab es wieder etwas zu essen. Ich werde nie vergessen, wie ich mit Ursel den Pansen saubergemacht habe. Es gab ja nichts zu Essen … Und ich werde nie vergessen, wie die Russen im Haus Bratkartoffeln aus rohen Kartoffeln machten, dass kannte ich nicht. Probieren durfte ich nicht.

Irgendwann zogen wir mit einem Treck weiter. Es waren nur noch alte Leute, Frauen und Kinder unterwegs. Kurz vor Landsberg wurden wir von Tieffliegern beschossen. Wir warfen uns in den Graben … Wir hatten immer Glück, immer Glück! Vielleicht haben sie auch gar nicht auf uns gezielt, wollten uns nur einen Schreck einjagen. Keine Ahnung. Ob wir Angst hatten? Na, und wie! Aber es ist ja Gott sei Dank nichts passiert …

Von einem Ort zogen wir zum anderen, übernachteten in verlassenen Häusern und Wohnungen, wo gerade etwas frei wurde. Mal hieß es, wir könnten nach Hause, also liefen wir wieder zurück Richtung Westen. Dann war dort wieder kein Durchkommen, also mussten wir wieder nach Osten laufen.

Wir wussten nie, wann das nächste Dorf kommt. Wenn vorne im Treck jemand sagte, jetzt machen wir Pause, liefen alle in den Wald, wo wir auf Holzstämmen übernachteten. Doll schlafen konnten wir nicht, wir ruhten uns aus. Mutter hatte meine Füße in ihrem Schoß. Es lag noch Schnee und war kalt. Mutter auf einem Baumstamm im Schnee … Dann ging es wieder weiter. Jeder zog einen Karren hinter sich her oder schob einen Kinderwagen. Es war schwierig – die Toilettengänge im Winter … Gott sei Dank wurde es schnell wärmer. Es war ein Jahr, wo das Frühjahr zeitig kam. Die Sonne wärmte uns. Kinder, was war das bloß für eine Zeit …

Wir waren im Winter losgelaufen. Was wir am Körper trugen, hatten wir seitdem nicht ausgezogen. Wir konnten uns nicht waschen, es gab keine Gelegenheit – höchstens mal das Gesicht oder die Hände. Darum hatten wir auch alle Kleiderläuse. Die sitzen nur in den Kleidern. Ich sage Ihnen, in jeder Naht sitzen die drin. In jeder Naht. Sehr unangenehm!

Als wir für einige Wochen wieder in einem verlassenen Haus unterkamen, meldeten Ursel und ich uns bei den Russen, um bei ihnen sauberzumachen. Dafür bekamen wir einen großen Sack voller Brotreste. Endlich hatten wir was zu essen! Das war wirklich schön, als wir endlich wieder etwas hatten.

Meine Mutter wurde krank. Sie hatte von einer toten Gans, die auf der Straße gelegen hatte, gegessen und eine Fleischvergiftung bekommen. Nun lag sie krank auf dem Heuboden, zu dem man entweder über die Küche hochsteigen konnte oder über eine Treppe von außen. Ich war unten in der Küche, als ich hörte, dass die Russen auf den Boden raufgehen würden und keinen mehr raufließen. Schnell rannte ich bei einem der Russen zwischen den Beinen durch hoch zu meiner Mutter. Die Russen hatten alle vom Boden geschickt, nur meine kranke Mutter und eine Frau, die vor Kurzem entbunden hatte, waren noch oben. Neben der Frau lag ihr Neugeborenes. Ja, und da hatte ich dann Sexunterricht. (Sie lacht traurig auf.) Ein Russe kam durch die Küche rauf, vergewaltigte die Frau und ging über die Hühnerleiter wieder runter. Dann kam der Nächste. Ich glaube, acht waren es. Bei dem Baby krochen die Läuse am Ärmchen lang. (Sie lacht traurig.) Ach wissen Sie, nee … Die Frau sagte immer: »Was denn, noch einer?«

Ich werde das nie vergessen – so als Kind. Ich saß neben meiner Mutter und sie sagte immer: »Guck da nicht hin!« Ich hab trotzdem nicht genau gewusst, was da passierte.

Diese Vergewaltigungen! In einem Haus, wo wir kurz zum Händewaschen gehalten hatten, lag im Nebenraum eine alte Frau im Bett. Die Russen stießen sie runter und warfen oben eine andere Frau rauf. Also diese Vergewaltigungen waren schon … Mit meinen Zöpfen und der Mütze sah ich aus wie ein Kind. Trotzdem musste ich immer aufpassen. Tante Maria und meine Mutter gaben sich vor den Russen als »alte Madga« aus. Meine Mutter hatte schon mit 38 eine Prothese. Wenn die Russen kamen, nahm sie immer die Zähne raus und band sich ein Kopftuch um. Meine Mutter hatte Glück, Tante Maria nicht. Sie war schon von den ersten Russen etliche Male vergewaltigt worden. Und viele andere Frauen auch. Einmal, meine Mutter hatte das Baby auf dem Arm und mich im anderen, sagte ein Russe zu ihr: »Frau komm!« Er wurde immer böser und drohte mit der Pistole. Mutter sagte: »Schieß doch!«

Ob der das verstanden hat oder nicht – er hat nicht geschossen. Das sind alles Erlebnisse …

Ich muss Ihnen sagen, ich war sehr verwachsen mit meiner Mutter. Sie wurde 96 Jahre alt. Wir waren nicht nur Mutter und Tochter, sondern Freundinnen. Nach Rücksprache mit meinen Kindern habe ich mit sechzig aufgehört zu arbeiten, um mich um meine Mutter kümmern zu können. Nicht, weil es ihr schlecht ging, sondern um ihr die Hilfestellung geben zu können, die ein alter Mensch braucht. Sie war damals 86 Jahre alt. Ich hänge heute noch an ihr. Das muss ich sagen. (Sie weint.) Meine Mutter, die war … ja … eine ganz Liebe.

Meine Schwester ist dann auch verhungert. Wir hatten sie mit dem gefüttert, was wir gerade hatten. Hatten es mit der Sojabohnensuppe versucht. Milch war überhaupt nicht zu kriegen. Wenn wir ein paar Haferflocken bekommen hatten, rührten wir sie mit Wasser an. Aber dann war wieder kein Zucker da. Und da mein Vater in der Lebensmittelbranche arbeitete, hatten wir während des Krieges nie Mangel an Zucker gehabt. Da war Mariannchen verwöhnt. Irgendwann hatte meine Mutter nichts mehr zu essen für Mariannchen. Ich hatte schon einige von ihren Babykleidern bei einer Frau eingetauscht, die einen russischen Freund hatte. Sie hatte auch ein Baby und gab uns etwas Essen für die Kleider. Aber dann hatte sie gesagt: »Mehr Sachen brauch ich nich. Wenn deine Mutter für euer Baby was zu essen haben will, dann soll sie kommen. Mein Freund hat einen Freund, soll sie sich den Russen anschaffen hier.«

Um ihr Kind zu retten, ging Mutter los, aber sie kam schnell wieder, sie konnte es nicht. Sie konnte das nicht machen. Als sie das später meinem Vater erzählte, das mal nur nebenbei, beschuldigte er sie, sie hätte das Kind sterben lassen. Ja ja ja ja ja ja … Ich glaube, meine Eltern wären auch nicht zusammengeblieben. Mein Vater starb 54 mit 55 an Leukämie. Nach dem Krieg hatte sich meine Mutter sehr verändert, war nicht mehr die kleine ruhige Maus. Sie wusste dann, was sie wollte. Das hat sie mir später gesagt.

Meine Schwester starb über Nacht. Die Kleine lag neben uns. Ich wurde morgens wach und weiß noch, wie ich ihren Arm hochgehoben habe … Der war ganz steif. Ihr Jäckchen war vorne ganz nass. Mutter hatte Mariannchen nachts noch ein paar Löffel Wasser gegeben. Ich hatte den Eindruck, Mutter wusste gar nicht, was sie tat. Und ich, ich wollte immer Geschwister haben … Ich hatte ja keine. (Sie kämpft mit den Tränen.) Meine Freundinnen in Berlin hatten alle eine Schwester – ich nicht. Und dann kriegte ich mit zwölf Jahren eine Schwester! Sie war mein Ein und Alles! So eine Süße! Ich kümmerte mich ausschließlich um die Kleine! Und nun … An dem Morgen kam auch noch zu allem Unglück wieder ein Offizier rein und rief: »Raus! Räumen!« Und nun das tote Baby. Ich kümmerte mich darum, dass meine Schwester beerdigt wurde. Meine Mutter war dazu nicht in der Lage. Sie wirkte abwesend. Die Hilfe ist dann groß, gerade wenn ein Kind gestorben ist. Wir legten die Kleine in einen Koffer. Neben dem Haus lag ein kleiner Teich. Daneben stand ein großer Baum, unter dem schon ein Baby und ein älterer Mann begraben waren. In dieser Nacht war in dem Haus noch ein alter Mann gestorben. Wir beerdigten meine Schwester und den alten Mann neben den anderen beiden unter dem Baum. Ein paar alte Männer buddelten ein Loch, die Erde war schon aufgetaut. Dort legten wir den Koffer rein und das war’s. Wir mussten ja raus, wir mussten ja weg! Ich würde den Teich heute noch finden. Der würde bestimmt noch da sein. Da drüben hat sich ja nicht viel verändert. Ja, dann war Mariannchen auch weg …

Meine Schwester starb am 11. April. Und 22 Jahre später ist meine Tochter am 11. April geboren. Es ist manchmal kurios …

Wir kehrten zu dem Hof der drei christlichen Schwestern zurück. Dort hieß es, die Gegend wird polnisch, wer möchte, kann bleiben. Die Schwestern wollten bleiben, aber wir wollten endlich nach Berlin und liefen los. Aber wir kamen nicht weit, ich wurde sehr krank. Wir fanden eine leere Wohnung, wo ich mich hinlegen konnte. Die Sonne kam schon häufiger raus, sie wärmte mich ein bisschen. Wir waren jetzt nur noch mit Tante Maria und ihrer Tochter Ursel unterwegs. Die anderen waren alle verstreut. Tante Maria wurde auch krank. Wieder kamen Russen in die Wohnung. Ein russischer Offizier war dabei, der sah, dass ich krank war. Er sagte: »Ich Arzt.« Das hatten schon viele gesagt, aber dieser war wirklich einer und er hat mich gesund gemacht! Jeden Tag brachte er mir Medizin. Tante Maria, die neben mir auf der Erde lag, es gab keine Betten, behandelte er nicht. Nee, nur mich. Mit gebrochenem Deutsch erzählte er uns von seinem Kind in Russland. Für die Kinder hatten die Russen immer ein bisschen Mitleid, weil sie vielleicht selber Kinder hatten. Es gab, wie üblich, gute und weniger gute Menschen. Es war halt Krieg – Ausnahmezustand – und es kommt wohl immer darauf an, was jeder selbst erlebt hat. Ich habe erst später erfahren, was die Deutschen in Polen gemacht haben. Das nimmt sich alles nichts, bloß damals haben wir es ja nicht verstanden!

Als es mir besser ging, wollte mich der russische Arzt mit ins Lazarett nehmen, damit ich zu Kräften komme. Aber nun kriegte meine Mutter Angst und wir zogen nachts wieder los. Ich habe immer ein schlechtes Gewissen gegenüber dem Russen gehabt. Aber ich kann verstehen, dass meine Mutter so reagierte. Es wurden ja auch Kinder vergewaltigt. Tante Maria war immer noch krank, wir zogen sie mit dem Handwagen über die Landstraße. Plötzlich kamen Russenautos durch die Dunkelheit gefahren. Sie fuhren sehr unvorsichtig, der Handwagen kippte um und wir lagen alle im Graben. (Sie lacht.) Kurze Zeit später kamen andere Russen vorbeigefahren, hielten an und nahmen uns ein Stück mit. Dafür mussten wir aber einen Schnaps aus der Pulle trinken. Inzwischen hatten wir gelernt: Den Schnaps durfte man nicht ablehnen.

Als wir endlich Großmutters Haus an der Oder erreicht hatten, erfuhren wir, dass auch sie inzwischen gestorben war. Sie hatte es noch zurück bis nach Hause geschafft und konnte dort beerdigt werden. Wir hatten sie kurz auf der Flucht getroffen, mit zwei ihrer Enkelkinder, sieben und acht Jahre alt. Deren Mütter hatten die Russen weggeholt. Mein Opa war auch dabei. Er lahmte und war blind, hatte sich am Karren festgehalten und war nebenhergelaufen. Eines Tages, als Oma gerade den Karren gepackt hatte, um weiterzuziehen, hatte sich Opa aufgehängt. Er hat es wohl nicht mehr ertragen. Aber Oma, die damals schon 75 war, lief mit ihren Enkeln wieder zurück. Sie hatte ganz dicke Füße und Wassereinlagerungen, aber sie hat’s zurück geschafft. Oma ist eine kleine Frau gewesen. Die hat am Vormittag ihr Kind gekriegt und nachmittags war sie schon wieder im Wald Holz holen. Hatte zwölf Kinder! Und das Verdienstkreuz … Den Bruder meines Vaters, der Käptn war, haben die Russen mitgenommen. Wir haben nie wieder was gehört. Eine Cousine ist in Berlin bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen. Ich glaube, wir hatten sieben in der Verwandtschaft, die im Krieg verstorben sind.

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