Kitabı oku: «Die Unbeirrbare», sayfa 3

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Die «gütigen Augen» und das «Dröhtli» der Großtante, ihre aufrechte, distinguierte Haltung, hätten ihr am meisten Eindruck gemacht, sagt Gertrud Heinzelmann. Und weiter hält sie fest: «Mir persönlich hat dies sehr viel bedeutet. Immer. Man hatte ein Qualitätsbewusstsein. Wenn man materiell nicht wählerisch ist, dann fällt man auch im Geist auf eine tiefere Sphäre hinunter. Das lässt sich nicht trennen.» Über sie selber wird es später in Boswil heißen: «Frau Doktor hat es im Köpfli», also aufgepasst, die ist Juristin und die spricht nicht mit jedem. Die Schweizer Schriftstellerin Laure Wyss – sie hatte in den Sechzigerjahren als Journalistin mit Gertrud Heinzelmann oft beruflich zu tun – sagt: «In Boswil war Gertrud Heinzelmann kolossal, und wenn sie in der Gartenlaube ihres Hauses saß, wirkte sie wie eine Gutsherrin.» In der Manier einer Junkerin notiert Gertrud Heinzelmann auf ein altes Foto, auf dem das Haus ihrer Vorfahren zu sehen ist: «Haus Boswil mit Salesia Rietschi + Barbara Christen (‹Magd› lebenslänglich, ‹Familienstück›, sehr geliebt), Mitte Jagdhund ‹Herta›.»

An ihre Großmutter hat Gertrud Heinzelmann keine eigene Erinnerung. Am Arm der Mutter blickt sie als Dreijährige auf das Sterbebett der krebskranken Sophie Heinzelmann, geborene Rietschi. Der Vater wird ihren Nachlass bis auf zwei Fotografien und eine Postkarte aus Brüssel verbrennen, damit nichts an ihr Unglück und das ihrer Söhne erinnere. Eine der beiden Fotografien zeigt sie im mittleren Alter, mit demselben klaren und willensstarken Gesichtsausdruck wie ihre jüngere Schwester Salesia. Auch ihr Blick ist kein bürgerlicher, sondern einer, der von standesbewusster Höhe auf das Gegenüber hinab gerichtet ist. Im Gegensatz zu Salesia zeigen sich in Sophies Gesicht Härte, Resignation und verhaltener Spott.

Sophie Rietschi hatte Charles Maximilian Heinzelmann, einen Deutschen mit Genfer Bürgerrecht, geheiratet. Nach unglücklichen Ehejahren reichte sie als eine der ersten Schweizerinnen die zivile Scheidung ein. Für eine Frau im Jahr 1890 ein kühner Schritt, der mit gesellschaftlichem Abstieg und Ächtung verbunden war. Ihre Großmutter, so Gertrud Heinzelmann, habe es nicht hinnehmen wollen, von ihrem Mann geschlagen zu werden. Nach der Scheidung ließ sie ihre Kinder, Hans war drei und Karl ein Jahr alt, im Freiamt zurück, emigrierte nach Brüssel und arbeitete sich zur Gerantin der königlichen Confiserie hoch. Auf der Treppe zum Geschäft ließ sie sich mit Ladenmädchen und Kundinnen fotografieren und schickte das Bild als Postkarte ihrem ältesten Sohn nach Boswil. Hans wuchs bei Tante Salesia auf, die das Scheidungskind mit dem «Dröhtli» stärkte. Die finanziellen Mittel reichten gerade für eine kaufmännische Ausbildung, und in der königlichen Confiserie in Brüssel absolvierte er ein Praktikum, aber niemand durfte erfahren, dass die Gerantin seine Mutter war.

Karl hingegen traf das schlechtere Los des Zweitgeborenen. Er kommt in ein Kinderheim und ist seither sozial gezeichnet. Die Verwandtschaft bedauert ihn, denn er ist aus demselben Fleisch und Blut, doch gemessen an den familiären Wertvorstellungen schlägt er aus der Art. Er gehört nicht ganz dazu, weil er Liebesaffären hat, die nicht zu geordneten Verhältnissen führen, und weil er trotz Sprachbegabung als Kellner und Straßenwischer durchs Leben vagabundiert. «Er ist nicht ganz geraten, aber auch nicht gefehlt»,10 so Bertha an Bruder Paul. Die familienbewusste Gertrud Heinzelmann besitzt von diesem «armen Tropf» ein einziges Foto, über sein Leben weiß sie fast nichts. Er stirbt im Zweiten Weltkrieg verarmt im Bürgerasyl von Genf.

Im Studium reagiert Gertrud Heinzelmann mit «heisskochender Empörung»11 auf die Benachteiligung der Frauen im damaligen Eherecht. Sie verehrt zeitlebens die Großmutter für ihr Selbstbewusstsein und ihren Unabhängigkeitswillen. In einer ihrer letzten Veröffentlichungen schreibt sie 1991: «Ich bewundere Sophie Rietschi ausserordentlich. Sie hatte den Mut, damals, als es kaum Existenzmöglichkeiten für Frauen gab, sich von ihrem Mann zu befreien und selber für ihre beiden Kinder das Geld zu verdienen.»12 Die Heinzelmanns hätten gerne wieder Rietschi geheißen, aber der verhasste Name ließ sich nicht mehr abstreifen.

Ebenso prägend wie das «Dröhtli» ist in Gertrud Heinzelmanns Jugend die katholische Kirche. Pompöse Kirchenfeste und fromme Volksbräuche prägen ihre Schulzeit. Das Doktorhaus steht in Boswil am Kirchweg, wo die Prozessionen vorüberziehen, und wenn die Großtante mit ihren Nichten Einkäufe tätigt, kommen sie auf ihrem Weg an Bildstöcken und Kruzifixen vorbei. Im Merceriegeschäft, das von zwei Schwestern geführt wird, begutachtet Salesia mit der einen Ladenbesitzerin das Angebot an Stricknadeln, während die andere den Mädchen das kostbarste und selbstverständlich unverkäufliche Stück zeigt: ein langer Metallnagel, der einst im blutigen Fleisch des Gekreuzigten gesteckt haben soll. In ihrem «kindlichen Gemüt», so Gertrud Heinzelmann, habe dieser Nagel einen «unauslöschbaren Eindruck»13 hinterlassen. In Wohlen besucht die Mutter mit ihren Töchtern die Messe, in der an hohen Feiertagen ein Schauspiel geboten wird. An Karsamstagen stehen in der Kirche Felskulissen mit einer Grabnische, und hinter Glaskugeln, die mit gefärbtem Wasser gefüllt sind, brennen Kerzen. Dank Theaterbühnentechnik verschwindet während der Messe Christus mit Getöse in der Grabnische und erscheint wieder von der Kirchendecke hängend als Auferstandener.

Im liberalen Milieu der Heinzelmannschen Familie ist der Umgang mit der Kirche, der Gertrud und Elisabeth vermittelt wird, widersprüchlich. Die Eltern verstehen sich als Katholiken und somit zur Kirche zugehörig, aber ins Private dreinreden lassen sie sich von keinem Geistlichen, am katholischen Vereinsleben nehmen sie nicht teil, von der Konservativen Volkspartei14 distanzieren sie sich, schließlich halten sie es mit den freisinnigen Unternehmern und Industriellen aus dem Wohler Bahnhofsquartier. Wie jeder Rietschi verweigert Hans Heinzelmann den Kirchenbesuch, Bertha hingegen geht wie manche Frau aus liberalen Verhältnissen dennoch zur Messe. Ihr Abseitsstehen demonstrieren die Eltern dem Dorf während der Prozession an Fronleichnam. Die Route führt am großelterlichen Wohnhaus vorbei, der Festumzug hält hier an, der Priester betet an einem eigens aufgestellten Altar, und ein Chor singt. Die Eltern und Großeltern mischen sich nicht unter die Schaulustigen, sondern schließen, für alle sichtbar, die Fensterläden und verschanzen sich im Haus. Trotz dieser Distanzierung setzen die Eltern ihre Tochter der Kirche aus und lassen sie mit ihren Gefühlen allein. Gertrud Heinzelmann beschreibt diese Erfahrung als Erwachsene so:

«Es gehört wohl zu meinen ältesten frühkindlichen Erinnerungen, dass ich am damaligen Wohnsitz meiner Grosseltern zusammen mit dem alten gelähmten Hauseigentümer an einem Fronleichnamstag in den Garten gesetzt wurde, in dem alljährlich ein Altar als Station der volksreichen Prozession aufgebaut war. Die Kunde vom ‹Heiland› (wer hatte mir davon erzählt?) hatte schon lange zuvor mein kindliches Sinnen beschäftigt. Dann – über dem Gartenweg Monstranz, Baldachin, Weihrauch, nie gesehene Gewänder. Allein mit dem gelähmten Greis sass ich in einem von Gebüsch umhegten Chor, einem Geschehen mit überwältigenden Eindrücken preisgegeben, von denen ich nur das Wort ‹Heiland› verstand. Aber diesen mit ungeheurer Gefühlsintensität Erwarteten sah ich nicht trotz aller Anstrengung, aus einer seelischen Spannung fiel ich hoffnungslos in eine nicht zu bewältigende Enttäuschung. Schliesslich löste ein Strom von Tränen Überwältigung und Anspannung. Meine Mutter kam, trug mich in das Haus zurück, in dem die Erwachsenen sich hinter geschlossenen Fensterläden versammelt hatten.»15

Als die Tochter älter ist und ihre Schulklasse an der Fronleichnamsprozession teilnehmen muss, stellt sich der Vater auf die Treppe vor dem großelterlichen Haus, pfeift und ruft seine «Trut» energisch aus der vorbeimarschierenden Menge ins Haus.

Ambivalent muss auch Salesia Rietschis Verhältnis zum Katholizismus gewesen sein. Nach Gutdünken vermittelt die Großtante ihren Nichten frommes Brauchtum, erfindet vor dem Einschlafen lange Gebete, die mehr Gute-Nacht-Geschichten sind. Das Tischgebet spricht sie, während sie der Magd Babeli Christen in der Küche beim Anrichten hilft, mit Schüsseln zum Esstisch kommt und wieder hinaus geht. Für die Kinder, die auf ihren Stühlen warten, ist Folgendes zu hören: «Gib uns unser täglich Brot … Babeli, tüend d’Suppe arichte … Du bist voll der Gnaden … und de no de Schnittlauch dri.»16 Sie liest «Das Vaterland», die federführende Zeitung der Katholisch-Konservativen, doch in Boswil teilt sie jedem, der es wissen will, unmissverständlich mit, dass sie, wie alle Rietschis, eine Freisinnige sei, ergo nichts mit den Rückständigen am Hut habe. Das hört man im Dorf vermutlich nicht allzu gerne, hier dominiert die Konservative Volkspartei, und der H.H. Pfarrer, wie die Dorfchronik «Hochwürden» nennt, ist so einflussreich wie der Gemeindeammann oder der Gemeindeschreiber. Salesia lässt sich in keinem katholischen Dorfverein blicken, weder in der «Marianischen Kongregation» noch im «Katholischen Frauen- und Töchterverein». Sie entzieht sich den Organisationen, die nach verlorenem Kulturkampf von den Katholisch-Konservativen zur Abwehr freisinnigen und liberalen Gedankenguts überall gegründet wurden. Damit nimmt sich die Gemeindelehrerin weltanschaulich Freiheiten heraus, aber nur so weit, als ihr gesellschaftliches Abseitsstehen vom Dorf geduldet wird. Sonntags besucht sie die Messe.


«Salesia Rietschi entstammte einer angesehenen Stadtluzerner Familie mit etwas aristokratischem Einschlag. (…) Sie entschloss sich als begabte Schülerin zur Ausbildung im Lehrerberuf und wurde gleich nach bestandener Abschlussprüfung im Jahre 1879 als Lehrerin an die Mittelschule unserer Gemeinde gewählt.»

Dorfchronik Boswil

Grosstante Salesia Rietschi (1860–1938), Boswil.

Im freisinnigen Elternhaus entgeht Gertrud Heinzelmann nicht der weiblichen Sexualerziehung nach kirchlichem Keuschheitsideal. Abends will Bertha Heinzelmann die Hände ihrer Töchter auf der Bettdecke liegen sehen, ehe sie das Licht löscht und aus dem Mädchenzimmer geht. Ihre körperlichen Entdeckungen und Erfahrungen getraut Gertrud nicht der Mutter anzuvertrauen. Im Religionsunterricht erfährt sie andeutungsweise, dass ihre Entdeckungen ein schlimmes Vergehen sein müssen. Als Achtjährige muss sie mit der Schulklasse beim Religionslehrer, der zugleich Pfarrhelfer ist, zum ersten Mal in die Beichte. Darüber schreibt Gertrud Heinzelmann im Alter:

«Ein nicht ausgesprochener Druck lag auf unserer Mädchenklasse, in den mit violetten Vorhängen verhangenen Beichtstuhl des Pfarrhelfers einzutreten, der uns in die Geheimnisse des vergissmeinnichtblauen Katechismus eingeführt hatte. Aber gerade das wollte ich nicht, unter keinen Umständen, auf keinen Fall. Berührungen am eigenen Körper hatten mich mit den erogenen Zentren, deren Reaktionen und dem schlechten Gewissen vertraut gemacht. Der Beichtspiegel des Katechismus verzeichnete unter den Sünden gegen das 6. Gebot unkeusche Berührungen, verbunden mit der auf eine schwere Sünde schliessenden Frage: Wie oft? Ich weiss nicht mehr, wie der religionslehrende Pfarrhelfer damals (zirka 1922/23) diese Sünde umschrieben hatte. Jedenfalls geriet ich in grosse seelische Nöte.»17

Bevor sie zur Beichte gehen muss, fragt sie die Mutter, ob sie nicht eine Frau wüsste, die an Stelle des Pfarrhelfers hinter dem violetten Vorhang sitzen könnte. Bertha Heinzelmann verneint. Schließlich legt Gertrud wie alle Schülerinnen eine Beichte ab:

«Da ich keinen Ausweg sah, einem Mann meine kindliche Sünde (oder was ich dafür hielt) gebeichtet werden musste, wählte ich den Pfarrer, der mich nicht kannte. Vor dessen mit violetten Vorhängen verhängtem Beichtstuhl kniete kaum ein anderes Kind meiner Klasse. Wie einen Brocken im Erbrechen spuckte ich den Satz aus, den ich wörtlich aus dem Beichtspiegel des vergissmeinnichtblauen ‹Kleinen Katechismus› übernahm.»

Bei der Strohfirma Oskar Bruggisser, wo sich einst Hans Heinzelmann und Bertha Zimmermann von ihren Stehpulten aus verstohlene Blicke zuwarfen und am Lampenschirm zupften, läuft das Auslandgeschäft miserabel. Nach dem Ersten Weltkrieg bringt die Inflation Verlust um Verlust, und der «Strohbaron» verliert beinahe sein ganzes Vermögen. Hans Heinzelmann sieht sich nach einer anderen Arbeit um und wird bei «Zwicky Nähseide und Nähgarn» fündig. Die Familie verlässt 1924 Wohlen und zieht nach Wallisellen bei Zürich. Der Ortswechsel vom katholischen Freiamt in die Umgebung der Stadt, in der einst der Reformator Ulrich Zwingli gewirkt hatte, wird für alle zur Zäsur.

Bertha ist fortan alleinerziehende Mutter, während Hans die meiste Zeit im Jahr für die Nähseidenfabrik unterwegs ist, winters auf Orienttour, sommers auf der Nordreise. Nach Neujahr lässt er Wallisellen jeweils hinter sich, besteigt in Italien das Schiff nach Ägypten, gibt in Kairo, Beirut, Jerusalem und Damaskus für die Kundschaft Einladungen und nimmt Garn- und Fadenbestellungen entgegen, oder weniger angenehm, er muss Schulden eintreiben. Vor Ostern erreicht er die Türkei, wo er sich in Izmir für die Rückreise einschifft. Im Frühsommer folgt eine kurze Kundenfahrt durch Holland, bevor er im Hochsommer zur großen Nordreise durch Dänemark, Schweden und Norwegen aufbricht.

Am ersten Schultag in Wallisellen, als Gertrud Heinzelmann das Zimmer der vierten Klasse betritt, rufen einige Schüler sogleich: «Eine Rothaarige, eine Rothaarige und eine Katholische!» Die sonst so Schlagfertige steht mitten im neuen Schulzimmer und weiß nicht weiter. Alles sei ihr roh und primitiv erschienen, vor allem die Knaben, sagt sie. In Wohlen hatte sie die Mädchenklasse besucht, ein «ruhiges Gewässer», während die Knaben, wie damals in katholischen Gegenden üblich, in die Parallelklasse gingen.

Nach diesem Schultag folgen weitere Erschütterungen, die nächste an einem Sonntag, als Bertha mit ihren Töchtern zur Messe geht. Nichts am Walliseller Gotteshaus erinnert an die Herrschaftlichkeit einer Freiämter Kirche, weder ist der Standort imposant, noch waltet im Innern ein besonderer Glanz: Da ist bloß die Nüchternheit eines Feuerwehrhauses. Das Dorf hatte seine ausgediente Sennerei für die «Zwecke des Feuerlöschwesens» umgebaut und zum Wohl des Gemeinwesens erweitert, mit einem kleinen «Arrestlokal» beispielsweise, das für leichte Fälle wie zur Ausnüchterung von Betrunkenen gedient haben mag. Der einstigen Sennerei wurde, so die Walliseller Gemeindechronik, ein «Schlauch-Tröckneturm» aufgesetzt, und unter diesem Turm, in dem die nassen Feuerwehrschläuche trocknen, beten und beichten sonntags Wallisellens Katholiken. Dies allerdings unterschlägt die Gemeindechronik, denn aus reformierter Sicht ist die katholische Religionsausübung nicht erwähnenswert. In der Gemeinde machen die Katholiken gerade 436 Personen aus, damals knapp ein Fünftel der Einwohnerschaft. Im Stammland des Reformators Zwingli sind die Katholiken einem Briefmarkenclub gleichgestellt, sie dürfen Versammlungen abhalten, aber im öffentlichen Leben sind sie rechtlos. Das wird bis 1963 so bleiben.

Das Feuerwehrhaus dient noch einem anderen Zweck, den die «Geschichte der Gemeinde Wallisellen» ebenfalls unterschlägt. Die Bauern bringen ihr krankes und verunfalltes Vieh hierher. Gertrud Heinzelmann schildert dies an einem Walliseller Seniorennachmittag 1991 so: «Noch heute ist die unterste Türe angeschrieben mit ‹Notschlachtraum›. Das war damals schon so gewesen, die erste Türe war die Notschlachtung. Es kam ab und zu vor, dass gegen Ende der Woche hier sogenanntes Fallvieh oder Versicherungsvieh geschlachtet wurde. Am Samstag oder Sonntag sind dann die Katholiken durch die Türe nebenan zum Gottesdienst.»18 Für die Messe unter dem «Schlauch-Tröckneturm» kommt der Priester aus dem Nachbardorf und improvisiert zwischen notdürftigem Mobiliar: «Die katholische Kirche bestand aus einem Vorraum, von hier gingen ein paar Treppentrittli hinauf. Man kam in einen langgestreckten Raum, ich glaube heute sind hier Garagen, der Boden des Raumes war aus weißgetünchten Backsteinen. Drei Bänke ohne Rückenlehne standen hier, und es gab eine blinde Türe mit einem Gitter. Das war dann bei Bedarf der Beichtstuhl. Man hat die Türe einfach geöffnet, und oh Schreck, ohne Vorhänge, man konnte zuschauen, ad libitum, wenn man im hintersten Bank sass.» Samstags zieht ein Kind durch Wallisellen und sagt an jeder katholischen Haustüre sein Sätzlein auf: «Bitte kaufen Sie einen Backstein für die Kapelle!» Die Katholiken sammeln für den Bau einer eigenen Kirche, ein mühseliges Geldauftreiben, denn viele stammen aus ärmlichen Verhältnissen, zogen vom Hinterland ins industrialisierte, reiche Zürich und haben hier als Fabrikarbeiter, Handwerker oder Dienstmädchen ein mageres Auskommen. Kommt hinzu, dass sie wie alle Einwohner Steuern zahlen, aber als staatlich nicht anerkannte Glaubensgemeinschaft für den Kirchenbau kein Anrecht auf Steuergelder haben. Mit ihrem Geld finanzieren sie die Kirchen der Reformierten.

Der protestantischen Mehrheit sind die katholischen Einwanderer fremd, ob sie nun aus der Innerschweiz oder aus dem Tirol stammen, und weil sie aus wirtschaftlich schwachen Regionen kommen, gelten sie als hinterwäldlerisch, in jeder Hinsicht rückständig und auf alle Fälle «sternehagelsaudumm». Da nützen der Familie Heinzelmann weder liberale Vorfahren, noch hilft ein Tropfen aristokratischen Bluts. Es spielt auch keine Rolle, dass Bertha und ihre Töchter in Wallisellen zu den «besser Frisierten» zählen, sich den Luxus von gepflegten Haaren leisten können und Kleider aus kostspieligerem Stoff tragen als viele Einheimische. Für die Reformierten sind sie schlicht «Katholen», auf die man grundsätzlich hinunterschaut. Gertrud Heinzelmann am Seniorennachmittag: «Wir waren ausgegrenzt gewesen in diesem reformierten Milieu, das sich für rechtdenkend hielt, etwas pietistisch. Wir standen irgendwie in einem Abstand.»

Auf die damalige Zurücksetzung reagiert die elfjährige Gertrud in der Schule mit Leistung. Rückblickend sagt sie: «Ich wollte denen doch klarmachen, dass ich erstens einmal nicht nur gescheit bin, sondern wie sich dann sehr rasch zeigte, die Gescheiteste in der Klasse war.» Dank der traditionellen katholischen Mädchenerziehung kann sie, obwohl dazu wenig talentiert, selbst im Handarbeitsunterricht triumphieren: «In Wohlen hatten wir harten Handarbeitsunterricht, wir mussten lange Strümpfe stricken. Im Kanton Zürich hatten sie erst Waschlappen und solche Sachen genäht.» Zugeknöpft und elitär sei sie in der Schule gewesen, zwischen ihr und der Klasse habe eine Barriere bestanden, sagen einstige Mitschülerinnen übereinstimmend. Sie wird aber auch als auffallend mutig und selbstbewusst beschrieben, als eine, die sich zu Wort meldete und gegenüber dem Lehrer die eigene Meinung vertrat.

Die gesellschaftliche Benachteiligung stärkt Gertrud Heinzelmann, sie lernt sich zu behaupten und wird kämpferisch. In Wallisellen beginnt sie auch, sich gegen die Diskriminierung in der eigenen Konfession aufzulehnen. Im Feuerwehrhaus fasziniert sie dieses geheimnisvolle Geschehen am Altar, das kaum zu sehen ist, weil der Priester und seine Diener dabei den Gläubigen die Rücken zukehren. Sie beneidet die Ministranten, die beim Altar stehen und dem Priester zusehen dürfen. Hingegen ist das Beichten an der blinden Türe, ohne Schutz der violetten Vorgänge, für Gertrud Heinzelmann noch belastender, als es schon in Wohlen war. Als Schülerin zum Religionsunterricht und Messebesuch verpflichtet, tut sie in den höheren Schulklassen, was damals unter Männern weit verbreitet ist. Sie besucht, wenn sie zur Beichte muss, eine andere Kirche, wo der Priester sie nicht kennt, um sich möglichst dem Zugriff auf das eigene Innenleben zu entziehen. Trotz diesen Schwierigkeiten entwickelt sie, je älter sie wird, religiöse Neigungen. An einem Sonntag sieht sie im Feuerwehrhaus unter den Ministranten einen gleichaltrigen Knaben aus der Nachbarschaft: «Ich verachtete ihn, denn er war ein Schlingel, hatte selten eine geputzte Nase und war ziemlich dumm. Ich war überzeugt, dass ich mich am Altar sehr viel besser ausgenommen hätte.»19 Gewillt, einen würdigeren Anblick als der Nachbarsjunge abzugeben, bestürmt sie den Priester, ebenfalls ministrieren zu dürfen. Doch auch in einem Feuerwehrhaus ist in den Zwanzigerjahren ein Mädchen im Ministrantenrock und mit Weihrauchfass am heiligsten Ort unvorstellbar. Gertrud gibt nicht nach, setzt dem Priester zu, bis er ihr erlaubt, als Abfindung gewissermaßen, nach der Messe die Geldspenden einzusammeln. Ein Mädchen mit der Opferbüchse sei damals, so Gertrud Heinzelmann, bereits ein Tabubruch gewesen.


Um nach dem Zürichhorn zu gelangen, mussten wir etwa 3–4 Spalten überqueren. Bei der 1. gab ich nicht besonders Acht, fiel und riss mir stark die Hand auf. Die letzte Spalte war die gefährlichste. Fortwährend gluckste das Wasser hervor und es begann in ihrer Nähe ordentlich zu krosen und krachen. Auf dem Rückweg benutzten wir aber ein Brett, um wieder heimwärts zu gelangen.»

Gertrud Heinzelmann an Paul Zimmermann

Mutter Bertha (2. v. li.), Gertrud (2. v. re.) und Elisabeth auf dem zugefrorenen Zürichsee 1929.

In Wallisellen kennen die Heinzelmanns die anderen katholischen Familien, und Tochter Gertrud weiß genau, welche sie für liberal und welche sie für konservativ zu halten hat. Wohl verkehrt man mit der einen oder anderen, selbstverständlich mit den fortschrittlichen und «besser Frisierten», doch auch in der protestantischen Umklammerung sucht die Familie keine katholische Nähe. Im Dorf gäbe es beispielsweise den «Katholischen Frauen- und Mütterverein» zur Unterstützung in Erziehungs- und Familienfragen oder die «Töchterkongregation» zur Anleitung der Heranwachsenden zu einem christlich-sittlichen Lebenswandel. Gertrud macht eine Zeit lang bei «Iduna» mit, dem konfessionell und politisch neutralen Mädchenverband innerhalb der Antialkoholbewegung, und Bertha weiß auch ohne kirchliche Anleitung, wie sie ihre pubertierenden Töchter zu erziehen hat. Sie, das ehemalige Bürofräulein, besucht 1928 mit ihren Töchtern in Bern die SAFFA, die erste «Schweizerische Ausstellung für Frauenarbeit», zu deren Eröffnung mit einer riesigen Schnecke gegen das vorenthaltene Frauenstimmrecht protestiert wurde. Vehement wehrt sie sich jedoch dagegen, dass Gertrud und Elisabeth, die gerne modische Bubikopf-Frisuren hätten, ihre langen Zöpfe abschneiden und zügelt ihre Sinnlichkeit. Als Onkel Frank aus London schreibt, sein Sohn habe tanzen gelernt und den ersten Ball erlebt, begehrt Gertrud auf, sie müsse hundertjährig werden, bis ihr dies auch erlaubt würde. Berthas Kommentar: «S’stimmt schon!! ha ha ha ha. Mer händ au nid alles gha & sind gliech gross worde! Ich lasse sie lieber Ski fahren als tanzen, da chund nu früeli gnue!»20 Den Töchtern gibt sie unmissverständlich zu verstehen, dass nur Dienstmädchen uneheliche Kinder haben, im Heinzelmannschen Haushalt solches jedoch nicht vorkomme, demnach gebe es einzig Enthaltsamkeit. Als Gertruds reformierte Mitschülerinnen im letzten Schuljahr den Konfirmationsunterricht besuchen, lädt der Pfarrer für den Aufklärungsunterricht Rosa Gutknecht ein. Sie ist die erste Pfarrerin von Zürich, arbeiten darf sie am Großmünster jedoch lediglich als Pfarrhelferin. Im weißen Stehkragen sei sie dagestanden, erinnert sich Gertruds Schulkollegin Hedy Bierter-Würgler, und habe ihnen das Übliche mit etwa diesen Worten geraten: «Wenn Sie unbedingt einen Freund haben müssen, stehen Sie mit ihm nachts immer unter eine Strassenlampe, damit die Passanten sehen können, was passiert.»

Gertrud und Elisabeth haben Berthas Lektion wohl verstanden und verkünden den Mitschülerinnen im Brustton unerschütterlicher Überzeugung, sie seien aus anderem Holz und keineswegs heiratslustig. «Mir sind nöd ghüratig», sagen die Schwestern und machen Gertruds Schul- und Studienkolleginnen derart Eindruck, dass keine diesen Satz vergisst. Doch Bertha scheint ihren Töchtern nicht ganz zu trauen und sorgt dafür, dass jede den erforderlichen Schliff erhält. Die Jüngere wird für mehrere Wochen nach Zürich an den Zeltweg in die Koch- und Haushaltungsschule der Elisabeth Fülscher geschickt, der Älteren wird dieser Schliff nur insofern erlassen, als sie ihn privat erhält. Bertha nimmt Gertruds Kochausbildung systematisch an die Hand, durch jeden Kochgang wird die Tochter «duretrüllet», angefangen beim Suppenkochen, weiter zum Braten, Garen, Schmoren bis zum Backen und Servieren.

Jahre später, Gertrud und Elisabeth sind inzwischen 21 und 19 geworden, betrachtet Bertha befriedigt den Erfolg ihrer Erziehungsmaßnahmen und meldet nach Brasilien: «Die Maitli sind fleissig & lieb, wir können mit den Kindern sehr zufrieden sein! Schon manches Maitli von Trutlis Klasse ist verheiratet & gewöhnl. war ein Muss dabei.»21

Ab Frühling 1931 besucht Gertrud Heinzelmann die «Höhere Töchterschule», das Mädchengymnasium von Zürich. In den Schulbänken sitzen Töchter von hohen Beamten, von Warenhaus- und Fabrikdirektoren, man wohnt in Zürichs besseren Quartieren, verkehrt gesellschaftlich unter seinesgleichen, bevorzugt beim Einkaufen protestantische Läden, und aus Prinzip stellt der eine oder andere Familienvater im Kader seines Betriebes keine Katholiken an. Doch zu Hause lassen sich die Töchter von katholischen Dienstmädchen bedienen, die man wegen mangelnder Manieren und fehlender Bildung und wegen ihrer andersartigen Bräuche belächelt. Nur wenige in der Klasse kommen aus bescheideneren Verhältnissen. Zum Erstaunen der Mitschülerinnen gibt sich Gertrud Heinzelmann als Katholikin zu erkennen, vom «Dröhtli» gefestigt und im stolzen Bewusstsein, einen freisinnig-liberalen Stammbaum zu haben, kurz, eine Herkunft vorweisen zu können, die nichts mit derjenigen von katholischen Dienstmädchen aus armen Landgegenden gemein hat. Im Übrigen ist sie zurückhaltend und gibt wenig Persönliches preis. Und wieder lernt sie für gute Schulnoten und ist stets sattelfest im Abfragewissen. Ihr aussergewöhnliches Gedächtnis beeindruckt, doch für diejenigen Mitschülerinnen, die sich auch für anderes als einzig für Lernstoff interessieren, ist sie keine Kameradin, der man nachgeeifert hätte. Hanny Zimmermann, die sich in der Klasse am besten bei Schlagern auskennt und später Zahnärztin werden wird, charakterisiert Gertrud Heinzelmann so: «Sie konnte sehr fröhlich und lustig sein, sie konnte bei Blödsinn mitmachen, sie war nicht stur, gar nicht. Aber ich hätte sie nie als Rivalin empfunden, wenn es darum gegangen wäre, in einer Tanzstunde mitzumachen. Da hat sie a priori nicht dazugehört.» Und Gerda Zeltner-Neukomm, die sich in der «Neuen Zürcher Zeitung», als Literaturkritikerin und Frankreichkennerin einen Namen machen wird, sagt: «Sie fiel mir damals auf, weil sie überhaupt nicht eitel war. Sie wollte nicht gefallen und hatte eine ganz besondere Sicherheit. Aus ihren Antworten habe ich immer gespürt, dass sie im Gegensatz vielleicht zu allen anderen von sich selbst absehen konnte.»

Als das Abitur näher rückt, und sich Gertrud Heinzelmann für eine Studienrichtung entscheiden muss, nimmt sie auf die finanzielle Situation ihres Vaters Rücksicht und fällt einen Vernunftentscheid:

«Ich habe lange zwischen Jus & Medizin geschwankt, aber das med. Studium geht minimal 13 Semester (Jus 6–8), ist sehr viel teurer als Jus & stellt sehr grosse Anforderungen an die Gesundheit, & nachher sind die Aussichten doch kaum günstiger als für Juristen.»22

Hans Heinzelmanns beruflicher Wechsel hatte sich nicht als ein glücklicher erwiesen. Exporteinbrüche und als neues Phänomen der zunehmend schnellere Wechsel der Kleidermode setzen nicht nur der Strohindustrie, sondern auch dem Faden- und Garnhandel zu. Die goldenen Jahre, in denen zur Damengarderobe Seidenstoffe, Stickereien und Borten gehörten und «Zwicky Nähseide und Nähgarn» in europäischen Metropolen eigene Agenturen und Fabrikationsfilialen eröffnen konnte, sind längst Vergangenheit. Zudem konkurrenziert der Kunstseidenfaden, billiger und zäher als Nähseide, die Fäden aus der Walliseller Zwirnerei. Die Verkaufsresultate, die Hans Heinzelmann auf seinen Reisen erzielt, sind ständigen Schwankungen unterworfen, trotz allem sind sie in seinen ersten Jahren noch zufrieden stellend. Aus Ägypten meldet er im Februar 1924: «Hiermit wieder ein Lebenszeichen. Geschäftlich geht es gut, ebenfalls gesundheitlich.» — Im Juni aus dem niederländischen Nobelbad Scheveningen: «Geschäfte gut, Wetter schlecht, Gesundheit dürfte besser sein, Klimawechsel hat mir zugesetzt.» – Im November aus Kopenhagen: «Bin wohlauf. Geschäft recht.» – Wiederum aus Kopenhagen zwei Jahre später im Juni 1926: «Bin stets wohlauf, mit etwas Rheumatismus zwar, aber glaub’s der Teufel bei diesem Hunde-Wetter. – Geschäftlich ging es in letzter Zeit besser.»23 Dank Umsatzbeteiligung am Auslandgeschäft verdient er überdurchschnittlich, doch dann kommt die Weltwirtschaftskrise, gefolgt von Inflation, Währungsreformen und Einfuhrbeschränkungen. «Wir haben hier wieder elendes Wetter; & die Geschäfte gehen nicht besonders gut», schreibt er im April 1930 aus Schweden und im November aus Finnland: «Bin wohlauf. – Geschäfte dürften besser sein.» Und: «Geschäfte sollten besser sein»,24 meldet er im nächsten Jahr aus Dänemark. In Wallisellen stehen die Zwirnmaschinen still und «Zwicky» muss einen Teil der Belegschaft entlassen. Das Auf und Ab der Verkaufszahlen drückt Bertha aufs Gemüt. Ihre Berichte an Paul zeigen Sorgen und Belastung deutlicher, als dies Hans auf seinen Postkarten an Salesia Rietschi eingesteht. «Er kann sich nicht rühmen übers Geschäft & strengt sich ausserordentl. an, um wenigstens kleine Pöstchen zu ergattern», schreibt Bertha im Frühling 1931, und im Herbst meldet sie erleichtert: «Wir sind zwäg = Vater ist in Kopenhagen. Dadurch, dass die Damenmode länger geworden ist, braucht er gerade das doppelte Quantum wie früher für die Damenconfection & kann dort am Platze ordli arbeiten. Wir haben es so nötig. Wie’s dann weiter nördlich wird, ist fraglich, doch habe ich letzte Woche in der ‹Neue Zürcher Zeitung› gelesen, dass der Streik in Norwegen endlich gebrochen ist.»25 Dann wieder ernüchtert: «Morgen kommt Hans von seiner Holland-Reise zurück, wo er schlecht abgeschnitten hat, es wollte niemand bestellen! Die Leute sind überall so niedergeschlagen!»26

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