Kitabı oku: «Mordsmäßig heilig», sayfa 2

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Kapitel 3


Ein Mensch bemerkt mit bitterem Zorn,

dass keine Rose ohne Dorn.

Doch muss ihn noch viel mehr erbosen,

dass sehr viel Dornen ohne Rosen.

– Eugen Roth –

»Mensch Jan, das war echt eng«, meinte Fredde, nahm seinen Mundschutz ab und blickte rüber zu seinem Zwillingsbruder, der den Rover forsch aus Duderstadt Richtung Herzberg lenkte.

»Heute Morgen ist es besser gelaufen als eben.«

»Das kann man wohl sagen. Nervige Göre. Musste die Frau mit dem Kind gerade jetzt da vorbeigehen? Ich dachte, um diese Zeit ist niemand bei der Kirche.«

Jan schaute in den Rückspiegel. »Bis jetzt ist die Luft rein.«

»Meinst du, die hat was gemerkt und die Polizei gerufen?«, hakte Fredde nach.

»Keine Ahnung. Hättest die Kleine nicht so anschnauzen sollen. Das hat die stutzig gemacht.«

»Ja, ja. Ich, natürlich bin ich wieder schuld. Du hättest vorsichtiger wegfahren können. Hast das Kind ja beinahe platt gedrückt. Deshalb ist die Frau ausgetickt. Hast du gehört, wie hysterisch die gekreischt hat? Oh, Mann. Mit der wollte ich nicht verheiratet sein.«

»Klar. Weißt du, was mir in dem Moment alles durch den Kopf gegangen ist? Ich hab echt die Panik gekriegt. Noch einmal gehe ich nicht in den Knast. Das sage ich dir«, schnauzte Jan und schob dann beschwichtigend hinterher: »Drei Brüche an einem Tag ist einfach zu viel für meine Nerven. Wir haben wohl beide überreagiert. Also lass gut sein. Hauptsache, sie erwischen uns nicht.«

Für Jan kam eine Auseinandersetzung mit seinem Bruder, dem Einzigen, dem er vertraute, nicht in Frage. Er war heilfroh, dass sie nach langen Jahren, die sie in verschiedenen Heimen und Pflegefamilien verbracht hatten, endlich wieder beieinander waren. Sie brauchten sich, waren abhängig voneinander. Ohne den anderen fühlte sich jeder, als wäre er nur halb existent. Zusammen aber waren sie ein Ganzes, einer in zwei Personen: Jan-Fredde. Sie dachten an früher.

* * *

Jahre zuvor

Die Eltern von Jan und Fredde, Ilse und Adelbert Rittmann, hatten in Nesselröden mehr schlecht als recht den kleinen Hof des Vaters Alfred bewirtschaftet, der das Leben der Familie autoritär bestimmte. Ilse litt sehr unter dem strengen und zu Gewalt neigenden Schwiegervater. Sie kam aus dem damaligen Mädchenheim in Wollershausen. Das Jugendamt hatte sie aus ihrem Elternhaus genommen, weil Vater und Mutter an der Nadel hingen und nicht fähig waren, ihre Tochter groß zu ziehen. Ilse aber träumte von einem ganz normalen, glücklichen Leben in einer Familie, ohne Drogen und Alkohol. Als sie mit Adelbert anbändelte, glaubte sie, ihr Glück gefunden zu haben. Es dauerte nicht lange, da wurde sie schwanger und konnte aus dem Käfig des Heimes entfliehen, denn Adelberts Eltern bestanden auf eine schnelle kirchliche Hochzeit. Ihr Sohn sollte zu seiner Verantwortung stehen. Sie selbst übernahmen die Fürsorge für die siebzehnjährige Ilse. Doch schon bald nach der Geburt der Zwillinge Jan und Frederik spürte die junge Frau, dass sie zwar in Adelbert einen guten Mann gefunden hatte, aber fortan eine Gefangene auf dem Rittmannschen Hof sein würde. Nach dem viel zu frühen Tod der Schwiegermutter, mit der sie sich recht gut verstanden und die ihr beigebracht hatte, wie man einen Haushalt führt, wurde es zusehends schlimmer. Ilse nahm sich vor, dass es wenigstens Jan und Fredde einmal besser haben sollten. Sie liebte die Kinder über alles und versuchte, ihnen eine gute Mutter zu sein. Doch Alfred überwachte mit barschem Ton und Schlägen die Erziehung der Jungen, forderte auch von Ilse unbedingten Gehorsam ein. Die Jungen sollten ganze Kerle werden, keine Weicheier, wie er stets betonte. Mit der Zeit gab Ilse ihre eigenen Wünsche und Träume auf. Sie verstummte einfach, nahm jeden Befehl, jede Rüge ihres Schwiegervaters ohne Widerworte hin, wehrte sich nicht. So fand sie einen Weg, das Leben an der Seite des tyrannischen Schwiegervaters zu ertragen. Von ihrem Mann konnte sie nicht viel erwarten. Er war unter der harten Hand des Vaters aufgewachsen, hatte stets nach Anweisung auf dem Hof gearbeitet und nie versucht, sich dagegen aufzulehnen.

Nur des Nachts, wenn Ilse und Adelbert beieinanderlagen, fanden sie stummen Frieden. Immer und immer wieder malten sie sich aus, wegzuziehen, auf eigenen Beinen zu stehen. Doch kam der Morgen, blieben sie. Wo sollten sie hin mit den Zwillingen, ohne Beruf, ohne eigenes Einkommen?

Die Kinder wussten zwischen der unterschiedlichen Behandlung der Eltern und des Großvaters zu unterscheiden. Vater und Mutter liebten sie und waren gut zu ihnen, der Großvater hatte als Oberhaupt der Familie das alleinige Sagen. Sie kannten es nicht anders.

Weil die Jungen kaum voneinander zu unterscheiden waren, bis auf das kleine Muttermal an Jans linkem Auge, nutzten sie die Ähnlichkeit für allerlei Streiche, brachten den cholerischen Großvater an manchen Tagen derart in Rage, dass er sogar mit der Heugabel hinter ihnen her lief, um ... Sie aber waren schnell, ließen sich nicht erwischen. War Großvaters Wut abgeebbt, fiel auch die Strafe milder aus, denn im Grunde war der Alte stolz auf seine Enkel.

So verbrachten sie manche Nacht eingesperrt im Keller, stärkten sich dort unten allerdings an den eingelagerten Vorräten. Erzählten sich die Leute im Dorf von den Streichen der beiden, nannten sie sie Max und Moritz, angelehnt an die Lausbubengeschichten aus Ebergötzen von Wilhelm Busch. Viele von ihnen mutmaßten, dass es, ähnlich wie in der Bildergeschichte, ein schlimmes Ende mit Jan und Fredde nehmen würde.

Zu ihrem zehnten Geburtstag hatten sich die beiden überlegt, dass es an der Zeit wäre, wie die Halbstarken aus dem Dorf mit dem Rauchen anzufangen. Das würde ihnen enorme Achtung unter den Klassenkameraden einbringen.

Schon eine Stunde vor Mitternacht waren sie wieder aufgestanden, hatten sich leise aus dem Zimmer geschlichen und waren über die Holztreppe auf den Dachboden gestiegen, der als Heuboden genutzt wurde. Hier oben wollten sie sozusagen in ihren Geburtstag hineinrauchen. Hinter dem Holzpfeiler lag schon ein ansehnlicher Vorrat von Zigaretten in der alten Zigarrenkiste, die ihnen im Frühling noch als Maikäferbehausung gedient hatte. Darum waren in dem Deckel auch ein paar gebohrte Luftlöcher.

In den letzten Wochen hatten sie mal eine, höchstens aber zwei Zigaretten aus Großvaters Packung stibitzt und in der Kiste deponiert. Zuerst hatten sie überlegt: Ob wir mit den Freunden im Baumhaus die Glimmstängel paffen? Doch dann erinnerte sich Fredde, dass Großvater ihnen einmal erzählt hatte, dass so manch schwacher Junge beim ersten Rauchen in die Hose geschissen hätte. Also beschlossen sie, dass sie ihre erste Zigarette allein rauchen würden, um sich nicht zu blamieren. Mit den anderen konnten sie später noch zusammen qualmen, wenn sie sicher waren, dass sie nicht zu den Schwachen zählten.

Es war eine klare Vollmondnacht. Genug Licht, um sich auf dem Heuboden zurechtzufinden. Neben der großen Luke, durch die der volle Mond schien, hatten sie sich eine Sitzecke aus Strohballen eingerichtet. Kater Maunz war ihnen gefolgt und schnurrte um Freddes Beine. Jan hatte Streichhölzer aus der Hosentasche gezogen und seinem Bruder Feuer gegeben. Der zog an der Zigarette, bekam sofort einen Hustenanfall. Keuchend und mit brennenden Augen gab er den Glimmstängel an seinen Bruder weiter. Auch Jan musste kurz husten, zog aber gleich noch einmal so heftig, dass die Zigarettenspitze rot aufglühte und Asche auf den Boden fiel. Sie lachten, fühlten sich stark, setzten sich paffend ins Heu, bliesen Rauchwölkchen in die Luft, bis ihnen speiübel wurde. Jan schmiss den glimmenden Stummel weg. Er brauchte dringend frische Luft. Taumelnd kletterten sie die Leiter, die von draußen an die Luke gelehnt war, hinunter, stolperten keuchend über den Hof. Fredde übergab sich zuerst. Als Jan ihn würgen hörte, spuckte er gleich in hohem Bogen daneben. Obwohl ihnen schwindelig war und der Magen entsetzlich rebellierte, grinsten sie sich an. Plötzlich sprang Maunz von oben durch die Luke herunter auf den Mist, rannte laut miauend zwischen ihnen hindurch, als wäre der Teufel persönlich hinter ihm her. Erschrocken schauten sie dem Kater nach, konnten sich aber nicht erklären, was der Anlass für die Flucht war. Neugierig liefen sie dem Tier nach, verloren es aber schnell aus den Augen. Sie beschlossen zur Nathe, dem Bach, der sich durch Wiesen und Felder nach Westerode schlängelt, zu gehen. Dort im Baumhaus, das sie in der alten Weide über dem Bach zur Beobachtung ihrer Erzfeinde, den Westeröder Jungen, errichtet hatten, wollten sie auf ihren Geburtstag anstoßen. Eine Flasche mit Nordhäuser Schnaps, die Karl, der Sohn des Gastwirts, letzte Woche mitgebracht hatte, lag dort noch halb voll hinter der Matratze.

Die Uhr aus der Westeröder Kirche schlug zwölf Mal, als sie die Leiter zum Baumhaus hinaufstiegen. Sie fanden den Schnaps und tranken abwechselnd auf Jan-Freddes zwanzigsten Geburtstag. Der Alkohol wirkte schnell in den leeren Mägen. Eine unendliche Müdigkeit überkam sie. Sie schliefen bis in den späten Morgen, hörten nicht das Heulen der Sirenen im Ort, nicht die Duderstädter Feuerwehr, die mit Blaulicht und Martinshorn auf der Straße vorbeieilte. Sie sahen nicht die Flammen und die vielen fleißigen Helfer, die vergeblich versuchten, den Hof und das Leben der Bewohner zu retten. Das Haus brannte bis auf die Grundmauern nieder. Vater, Mutter und Großvater konnten nur noch tot aus den Trümmern geborgen werden.

An ihrem zehnten Geburtstag waren Jan und Frederik Rittmann Waisen geworden. Damit änderte sich ihr Leben schlagartig. In den ersten Wochen fanden sie bei der Nachbarsfamilie Kolle Unterschlupf. Ihr Sohn Jonas war genau so alt wie die Zwillinge. Doch schon bald merkten die Eltern, dass sie der Erziehung drei gleichaltriger Jungen mit einem hohen Potenzial für Unfug jeglicher Art nicht gewachsen waren. Das Jugendamt bestellte einen ehrenamtlichen Betreuer, der die Fürsorge der beiden übernahm. Der steckte sie getrennt in verschiedene Pflegefamilien, später ins Kinderheim. Jan und Fredde sahen sich nur noch selten, schworen sich aber, sobald sie achtzehn wären, wieder zusammenzuziehen.

Beide machten einen Realschulabschluss. Jan wurde Elektrotechniker und bekam einen Job bei einer Göttinger Firma, die Alarmanlagen installiert. Fredde probierte mehrere Berufe aus. Er fing als Maurerlehrling an, brach die Lehre jedoch vor dem Abschluss ab. Dann versuchte er sich als Steinsetzer. Auch diese Arbeit gefiel ihm. Doch kurz vor der Gesellenprüfung scheute er wieder wie ein Pferd vor einem Hindernis. Trotzdem verdiente er gutes Geld, denn genau wie sein Bruder arbeitete er gewissenhaft und sauber, war fleißig und verlässlich und als Handwerker überall einsetzbar.

Vor drei Jahren hatten sie angefangen, ihr Erbe, das Haus in Nesselröden, das als Brandruine jahrelang ein Schandfleck im Dorf gewesen war, wieder aufzubauen. Seit ihrer Volljährigkeit und dem Nachweis, dass sie einer geregelten Arbeit nachgingen, konnten sie darüber verfügen, wussten aber zuerst nicht, wie sie den Wiederaufbau finanzieren sollten. Die Bank bewilligte ihnen einen kleineren Kredit, der allerdings nur knapp für das Baumaterial reichte. Durch ihrer Hände Arbeit wollten sie das neue Heim errichten, das Erbe der Großeltern weiterführen und den Hof zu neuem Leben erwecken. »Wir bauen wieder auf, was wir zerstört haben. So hätten es Großvater und die Eltern gewollt«, sagten sie sich. Ihre Freunde aus dem Dorf halfen mit, so weit es ihnen möglich war. Jonas Kolle, der das Anwesen seiner Eltern nebenan übernommen hatte, war froh, dass aus der Brandruine nun endlich wieder ein schönes Haus wurde. Er war inzwischen Vater einer kleinen Tochter und hoffte, dass Jan und Fredde nach den Sturm- und Drangjahren auch bald Freundinnen finden und Familien gründen würden.

* * *

Mittwoch, später Nachmittag

»Der Chef soll uns endlich das versprochene Geld geben«, meinte Fredde. »Mit der Knete können wir die Fliesen und das Laminat für den Fußboden kaufen. Ich will aus dem Scheiß Wohnwagen raus und das Haus fertig machen. Aber ich schwöre dir: Nochmal klaue ich nichts aus einer Kirche. Meinst du, wir kommen deswegen in die Hölle?«

»Seit wann glaubst du denn so einen Schwachsinn?«

Fassungslos schaute Jan seinen Bruder an.

»Kann doch sein. Ich hatte in Duderstadt in der Kirche so ein komisches Gefühl. Als ob einer von oben guckt und mir sagt, dass ich ein Dieb bin. Weißte, so wie bei Don Camillo.«

»Ehrlich? Ist ja krass. Hast du ´ne Stimme gehört?«

»Nee, nicht wirklich, aber so ein Gefühl eben. Don Camillo ist ja nur ein Film.« Fredde kratzte sich am Kopf.

»Und noch dazu einer aus dem letzten Jahrhundert. So was glaubt doch heute kein Mensch mehr. Nee. Aber wenn ich ehrlich bin ... hatte ich auch Schiss«, gab Jan zu.

»Hab gedacht, dass gleich ein Pfarrer um die Ecke kommt und fragt, was wir da machen. Komisch. In den anderen Kirchen war ich nicht so nervös. Da gibt’s eh keinen Pfarrer mehr und die Betschwestern kochen in der Mittagszeit. Bis auf die uralte zahnlose Oma. Ey, hast du das mitgekriegt, wie sie sich bei uns bedankt hat? Die glaubte echt, dass wir die Mutter Gottes zur Wallfahrt putzen wollen.« Fredde griente.

»Ja! Die war echt cool. Weißt du, warum die Alfred zu uns gesagt hat?«, fragte Jan und schaute belustigt zu seinem Bruder.

»Nee, das war komisch. Vielleicht sehen wir einem Alfred ähnlich. Gab es dort bei den Augustinern im Kloster nicht mal einen Bruder Alfred?«

»Das kann sein. Egal. Jedenfalls wollte sie für uns beten! Irgendwie hat sie mich an Oma erinnert.« Schmunzelnd dachte Fredde an die alte Frau. »Aber in Duderstadt war das ganz anders. Echt kribbelig.« Er schaute rüber zu Jan. »Hast du auch gedacht, dass da gleich ein Pfarrer um die Ecke kommt?«

»Nee. Die machen seit der Coronakrise nix mehr, nur noch Abstand halten. Beim Singen fliegen doch die Viren rum.« Jan zappelte mit den Fingern vor seinem Gesicht, als tummelten sich dort lauter Krankheitskeime. »Jetzt soll jeder zuhause beten. Nix mehr mit Sonntagspflicht. Oma hat das gebeichtet, wenn sie am Sonntag mal nicht zur Messe gehen konnte. Weißt du noch, was die dann für ein schlechtes Gewissen hatte?«

Die Brüder dachten an früher.

»Ja, ich weiß. Ich glaube, die Schwarzröcke sind nicht böse, dass es das Virus gibt. Denen kommt das wie gerufen. Jetzt brauchen sie nicht mal ´ne Predigt vorbereiten. Kirchensteuern einsammeln und gut is.«

»Meinst du ehrlich? Aber vielleicht ist ja doch was dran an dem ganzen Glaubensgedöns. Vielleicht straft Gott die Menschen mit dem Virus, weil sie die Welt kaputt machen?«

»Du redest schon wie Oma!«

»Na, kann doch sein. Selbst der Chef scheint an Gott zu glauben, besonders an die Mutter Maria. Warum mussten wir sonst die Madonna aus Germershausen und das Bild aus der Basilika klauen? Der scheint das für sein Seelenheil zu brauchen«, meinte Fredde und guckte zu seinem Bruder rüber.

»Du spinnst! Der und Seelenheil!« Jan lachte laut auf. »Wenn der an Gott glaubt, würde er uns nichts klauen lassen. Der Chef ist aber ein Studierter. Der glaubt so´n Quatsch nicht, sondern nur, was er sieht. Religion ist ›Opium fürs Volk‹. Hat schon Karl Marx gesagt.«

»Du und dein Karl Marx. Der Papst hat auch studiert. Oder meinst du, der tut nur fromm?«

»Ach, ich weiß nicht. Der Chef macht bestimmt auf Kunsthandel im Darknet. Da kannst du so was zu Spitzenpreisen verhökern. Das sind jahrhundertealte Unikate. Die gibt es nur einmal auf der ganzen Welt. Vielleicht hat der einen Kunstliebhaber an der Hand, der ihm viel Geld dafür bezahlt. Warum sonst musste es auf dem Höherberg ausgerechnet die Figur mit dem Drachen sein? Da standen doch so viele andere. Klauen auf Bestellung. Und wir machen die Drecksarbeit«, überlegte Jan und warf einen Blick auf den Tacho. Im gleichen Moment zuckte er zusammen. Siebzig innerorts! Runter vom Gas! Scheiße. Er trat auf die Bremse. Hier in Pöhlde wird oft geblitzt. Das fehlte uns gerade noch. Sein Herz klopfte. Sämtliche Poren seiner Haut öffneten vor Schreck ihre Schleusen. Schweiß rann ihm den Rücken herunter, tropfte von der Nase. Er wischte sein Gesicht am Hemdärmel ab. »Scheiße! Warum quatschen wir hier blöd rum. Mensch Fredde, wenn sie uns jetzt geblitzt haben, war´s das. Dann kriegen sie uns!«

Fredde wurde blass. Seine Beine begannen zu zittern. Er hielt die Hände auf die Knie. »Hoffentlich nicht.«

Am Ortsausgang atmeten sie erleichtert auf. Kein Blitzer! Jan schaute in den Rückspiegel. Folgte ihnen jemand? Nein. Alles gut. Bleib ruhig. Hinter dem Ortsschild beschleunigte er wieder.

»Da vorn, vor der Brücke, geht ein Feldweg nach rechts. Ich fahr da rein, und wir machen die Holzwürmer ab. Dann erkennt uns keiner mehr. Okay?«

Fredde nickte. »Ja, das ist gut.«

Jan bog in den geschotterten Weg, der neben der Oder entlang verlief. Eine Staubwolke hüllte sie ein. Das Flussbett führte nur wenig Wasser. Seit Wochen hatte es nicht geregnet. Als sie außer Sichtweise zur Straße waren, hielt er an. Sie stiegen aus, sahen sich um. Niemand war zu sehen.

»Das war echt ´ne gute Idee von dir mit dem Firmenzeichen. Wenn sie uns jetzt suchen, suchen sie vergeblich einen Wagen mit Holzwurm«, sagte Fredde, während sie die Folie mit den aufgeklebten Holzwurmemblemen von der Fahrer- und Beifahrertür pulten.

»Benedikt Holzwurm! Ade!«

»Hoffentlich war das Nummernschild dreckig genug und die Frau bei der Oberkirche konnte es nicht entziffern.« Er schaute nach. »Ja, das kann man nicht lesen. Wir sind safe.«

Sie knüllten die Folienreste zusammen, warfen sie ins Gebüsch, stiegen erleichtert wieder ein, fuhren bis zum Kreisel und geradeaus weiter nach Herzberg.

Die Beute sollten sie nach Düna in eine Scheune bringen. So lautete die Anweisung vom Chef.

Kapitel 4


Die Entfernung ist unwichtig.

Nur der erste Schritt ist schwierig.

– Marquise du Defand –

Hauptkommissar Schneider hatte gerade zwei Bahnen vom Rasen gemäht, da vibrierte sein Handy in der Gesäßtasche. Er ließ den Sicherheitsgriff des Mähers los. Der Motor verstummte. Umständlich zog er die Gartenhandschuhe aus, ließ sie auf den Boden fallen und griff eilig nach dem Handy.

»Was gibt’s?«

»Kowalski, Gieboldehausen. Hallo Christian. Du, wir brauchen dich hier. Ich bin in Germershausen. Da ist die ...«

»Ein Mord?«

»Nein. Aber, aus der ...«

»Warum rufst du mich dann an? Wende dich an den Kollegen, der jetzt Schicht hat. Ich hab Feierabend«, würgte Schneider das Gespräch ab, steckte das Handy wieder ein und zog an der Schnur vom Mäher. Der Motor heulte auf.

Wegen jeder Lappalie rufen die mich an. Warum stecke ich das Handy überhaupt ein? Bin ja selbst schuld. Ich muss nicht ständig erreichbar sein. Schniefend mähte er weiter. Doch das ›Wir brauchen dich hier‹ hallte in seinem Kopf nach. Ich habe nicht mal gefragt, was passiert ist. Kowalski ruft eigentlich nicht wegen einer Kleinigkeit an. Sollte es doch was Wichtiges sein? Er blieb stehen und rief zurück.

»Ich bin´s nochmal. Hmpf. Sag mal, ist es wirklich wichtig? Kein Kleinkram?«, fragte er, als Kowalski abnahm.

»Denke schon. Sonst hätte ich dich nicht angerufen. Übrigens: Ich hab mit Marie gewettet, dass du gleich zurückrufst. Bingo! Ich habe gewonnen!«, jubelte Kowalski.

Im Geiste sah Schneider den Kollegen vor sich, wie er Marie Steffen angrinste und den Daumen hob.

»So, so. Scheinst mich ja gut zu kennen. Schieß´ los, was ist passiert?«

»Aus der Wallfahrtskirche wurde die Muttergottesstatue geklaut. Der Schrein ist leer, die Küsterin ist total durch den Wind und das halbe Dorf steht kopf.«

»Haben die keine Alarmanlage?«

»Doch, haben sie. Scheinen Profis gewesen zu sein, die sich mit Elektronik auskennen. Alles ist fein säuberlich ausgeschaltet worden. Dass hier Diebe am Werk waren, erkennt man nicht. Ist aber so. Ich hab überall nachgefragt. Niemand hatte einen Auftrag, die Madonna abzuholen. Und heute Morgen, als Frau Hundeshagen die Kirche aufgeschlossen hat, stand sie, nach ihrer Aussage, noch an ihrem Platz. Der Diebstahl muss um die Mittagszeit passiert sein.«

»Hast du schon die Kriminaltechniker angefordert?«

»Klar. Und alles abgesperrt.«

»Gut, ich guck mir das an. Befrage schon mal die Leute. Vielleicht hat einer ein Auto oder Fremde bei der Kirche gesehen. Am besten, Ihr geht in die Gastwirtschaft vorn an der Straße. Die haben dort sicherlich einen Raum für uns. Bin gleich da.«

»Wird gemacht. Bis dann.« Siegessicher schaute Kowalski zu Marie. »Wusste ich´s doch. Der kann´s nicht lassen. Schneider liebt interessante Fälle, nichts Alltägliches. Am liebsten allerdings Mord, so makaber es auch klingt.«

»Okay. Du hast die Wette gewonnen, leider. Wollen wir wetten, bis wann er den Fall aufgeklärt hat?«

»Jau, bis zum nächsten Wochenende, also nicht dieses, sondern das nächste«, gab Kowalski sein Votum ab.

»Na, na. In zehn Tagen? Das kannste knicken. Ich denke, mindestens doppelt so lang, wenn überhaupt. Hier sind null Spuren. Wie soll er das anstellen?«

Sie schlug siegessicher in Kowalskis hingehaltene Hand ein.

»Und um was wetten wir?«

»Um ´ne Pizza«, meinte Marie.

»Gebongt. Die Pizza bezahlst du, wirst sehen,« grinste Kowalski.

Während er mit Marie in Germershausen die Befragung vorbereitete, schob Hauptkommissar Schneider den Rasenmäher zurück in den Schuppen und ging ins Haus, um sich umzuziehen. Pfeifend lief er die Kellertreppe zur Wohnung hinauf, steckte den Kopf zur Küchentür hinein. Mathilde guckte auf die Uhr und fragte erstaunt: »Bist du im Sturmschritt über den Rasen geprescht?«

»Nein, ich mach morgen weiter. Kowalski hat angerufen. Ich muss noch mal weg. Einsatz!«, jubilierte er und sein Blick fiel auf den Tisch, an dem Elsa saß und malte. In dem Moment fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Kirchenraub auch in Duderstadt? Sollte Mathilde recht haben mit ihrer Vermutung? Oh Gott, hoffentlich nicht. Mit ungutem Gefühl öffnete er die Tür ganz und ging zum Tisch. »Na, Elschen, hast du für den Onkel ein schönes Bild gemalt?« Elsa nickte. Schneider betrachtete das Blatt Papier. »Was ist das? Eine böse Sonne?«, fragte er und seine Hoffnung, etwas Brauchbares zu bekommen, schmolz dahin.

»Nein! Das ist das blöde Virus«, erklärte Elsa. »Co-ro-na!« Mit ihrem Malstift versah sie Corona mit noch mehr Haaren. Oder sollten es Tentakeln sein?

»Ah ja. Das blöde Virus. Genau so sieht es aus«, nickte Schneider und warf Mathilde einen enttäuschten Blick zu.

»Elsa ist noch keine vier Jahre alt, Onkel Christian, und kann schon so schön malen. Wie die Großen«, lobte Mathilde augenzwinkernd.

»Hmpf. Ja, ganz toll.« Er strich über den Kopf seiner Nichte. »Ich bin dann mal weg. Kann sein, dass ich dich nachher nochmal befragen muss, Mathilde«, sagte er zu seiner Frau und verschwand aus der Küche.

Er war noch nicht im Schlafzimmer, da kam seine Angetraute hinter ihm her, bombardierte ihn mit Fragen: »Wieso musst du mich nachher befragen? Was willst du denn wissen?«

Schneider gab keine Antwort. Hätte ich nicht sagen sollen, dachte er schnaufend.

»Warum sagst du nichts?« Er reagierte nicht. »Christian! Rede mit mir! Warum bist du so geheimnisvoll? Was ist denn passiert?« Sie hielt inne, überlegte. »Hatte ich etwa recht? Waren das tatsächlich Diebe in der Kirche? Was haben die denn geklaut?«, fragte Mathilde und triumphierte innerlich.

Schneider zog grummelnd einen Schmollmund. Mathilde, du gehst mir auf den Senkel, knirschte er gereizt, ärgerte sich über sich selbst. Da er aber wusste, dass sie keine Ruhe geben würde, wandte er sich ihr zu und seine Stimme klang strenger, als er es beabsichtigte. »Lass gut sein, Mathilde. Ich muss nach Germershausen. Kümmere dich um Elschen. Wenn ich wiederkomme, reden wir. In Ordnung?«

»Aber das kannst du nicht mit mir machen! Sag doch einfach, was los ist«, eiferte sie.

»Später!« Er hatte keine Lust. Zuerst musste er klären, ob etwas dran war an Mathildes Beobachtung. Wenn ja, hatte er einen Fehler gemacht. Einen Riesenfehler. Dann wäre sinnvolle Zeit verstrichen. Die Diebe wären längst über alle Berge. Inständig wünschte er, dass seine Frau sich irrte, obwohl ...

Er lief zu seinem Wagen, stöpselte sein Handy an die Freisprechanlage und fuhr los. Bis Germershausen würde er eine Viertelstunde brauchen. Während der Fahrt rief er auf der Wache an. Oberwachtmeister Carl-Otto Paschke, sein bester Mann, meldete sich.

»Hör mal Cop, check bitte, ob heute Nachmittag in der Basilika was gestohlen wurde. Mathilde hat Männer beobachtet, die ihr verdächtig vorkamen. Ich hoffe, da ist nichts dran. Bin selbst auf dem Weg nach Germershausen. Da wurde die Muttergottesstatue aus der Wallfahrtskirche geklaut. Kowalski ist vor Ort.«

»Ja, ich weiß. Er hat hier angerufen. Wollte aber unbedingt dich haben. Und du meinst, bei uns in der Kirche fehlt auch was? Ich ruf gleich den Hausmeister an und verabrede mich mit ihm in der Kirche. Melde mich, wenn ich was weiß.«

»In Ordnung. Das ist aber kein Hausmeister. In der Kirche heißt der Küster. Solltest du eigentlich noch wissen. Bis dann«, beendete Schneider das Gespräch und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Kirchendiebe. Hier im verschlafenen Eichsfeld? Unglaublich. Haben die jetzt unsere Gegend entdeckt? Mal was Neues. Kirchenschätze gibt´s hier ja genug. Ihm fielen gleich mehrere Dinge ein, die es sich lohnen würde, aus den Kirchen in seinem Revier zu stehlen. Aber woher kommen die? Aus dem Göttinger Raum? Weiter weg? – Von hier sicher nicht. Bei uns gibt es doch eher Kleinkriminelle. Wer kann Kirchenkunst in klimpernde Münzen umsetzen? – Könnten Clans aus dem Ostblock dahinterstecken? Oder Fanatiker, Sammler, Marienverehrer? Irritiert rieb er sein Kinn. »Heiliger Antonius!, würde Tante Hilde jetzt sagen. Hmpf.«

In Mingerode bog Schneider links ab und fuhr die Abkürzung durch die Feldflur nach Germershausen. Diese schmale Straße war während der Sommermonate sonntags für Autos gesperrt. Inlineskater, Radler und Wanderer nutzen dann die Strecke für eine Tour durchs Untereichsfeld. Zur großen Wallfahrt im Juli war Schneider oftmals hier mit Freunden und der Familie entlanggeradelt. Lange her. Aber er erkannte die Stellen noch wieder, an denen sie damals Pausen eingelegt hatten. Vor sich hinschmunzelnd schwelgte er in Erinnerungen. An der Abzweigung nach Esplingerode fuhr er in eine Staubwolke, verursacht durch einen Mähdrescher, der auf dem großen Acker neben der Straße das Korn mähte. Der Weizen war in diesem Jahr früher gereift durch die Trockenheit.

Es müsste unbedingt regnen. Mal sehen, wie viel Staub ich aufwirbeln muss und wie tief ich graben muss, um meine Ernte einzufahren, wenn ich den Fall löse. Vielleicht ist es ja auch gar kein Diebstahl gewesen und ich freue mich zu früh.

Er stellte die Klimaanlage aus, fuhr achtsam durch den braunen Dunst. In Germershausen hielt er vor der Gaststätte ›Stadt Hannover‹ und schaute überwältigt über die Wiese vor der Wallfahrtskirche.

Donnerwetter. Was ist denn hier los? Menschen sind schon eigenartig. Nimmt man ihnen was weg, was ihnen bis dahin gar nicht mehr so wichtig war, sind sie plötzlich aufgebracht wie aufgescheuchte Hühner! Spüren sie jetzt, dass ihnen die Traditionen und der Glaube doch wichtig sind? Wahrscheinlich sind sie nur sensationshungrig, überlegte er, als er die vielen Menschen sah, die, verstreut über die Wiese in kleinen Gruppen herumstanden und heftig diskutierten. Ihm kam ein Gedanke, der ihn schmunzeln ließ: Wenn ich ihnen die Statue zurückbringe, wird die nächste Wallfahrt der Renner. »Also Christian, ran an die Arbeit! Hmpf«, forderte er sich selbst auf und stieg aus. Im nächsten Moment kam ein Krankenwagen mit Blaulicht vorgefahren. Sanitäter sprangen heraus und eilten zur Kirche. »Ist noch was passiert?«, fragte er irritiert den Wachtmeister, der auf ihn zukam.

»Schön, dich zu sehen«, sagte Kowalski und begrüßte Schneider mit einem Ellenbogenknuff, dem neuen Corona-Begrüßungs-Knigge. »Da saß noch eine alte Frau in der Kirche, ganz versteckt in einer Bank. Wir haben sie erst nicht gesehen. Wachtmeisterin Steffen hat die Leute aus der Kirche ins Gasthaus gebracht, und ich war dabei, alles abzusperren. Plötzlich hat es laut gerummst. Ich hab mich richtig erschrocken. Dann habe ich sie gefunden, mit dem Rosenkranz in der Hand. Kann sein, dass sie beim Beten eingeschlafen ist. Sie ist vorn über auf den Boden gefallen, einfach so. Ich habe versucht, sie zu wecken. Nichts. Puls war da. Hab den Krankenwagen gerufen. Die ist immer noch nicht ansprechbar. Vielleicht hat sie einen Schlaganfall oder Herzinfarkt gekriegt«, mutmaßte Kowalski und verzog das Gesicht.

Schneider wurde hellhörig. »Komm! Ich muss zu der Frau! Wenn sie eingeschlafen war, könnte es sein, dass sie schon in der Kirche saß, als die Mutter Gottes geklaut wurde! Hoffen wir, dass sie bald zu sich kommt.«

Er eilte zur Kirche. Die Sanitäter waren gerade dabei, die alte Frau auf die Trage zu heben. Neben der Bank stand ein Rollator. Wahrscheinlich gehörte er der Frau. Die Helfer hatten ihr Gebetbuch und den Rosenkranz auf den Sitz gelegt. Der Korb des Rollators war leer, aber Schneider entdeckte einen Zettel, der an der Stange festgebunden war.

»Magda Burchardt, Germershäuser Straße«, las er laut.

Der Notarzt, der gerade den Puls der Frau messen wollte, drehte sich zu ihm um, nickte ihm freundlich zu.

»Hallo, Herr Kommissar. Danke für den Namen. Immer erfolgreich im Einsatz! Jetzt kann ich die Frau wenigstens ansprechen.« Er wandte sich der Alten zu: »Frau Burchardt? Hören Sie mich?«

Auf eine Regung wartend, beobachtete Schneider das faltige Gesicht. Sie mag an die neunzig Jahre alt sein, riecht ungepflegt. Gekrauster, eingefallener Mund. Ihr Gebiss liegt sicher zu Hause im Becher. Ob sie allein lebt?

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26 mayıs 2021
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237 s. 12 illüstrasyon
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