Kitabı oku: «Donaumelodien - Totentaufe», sayfa 2
III
»Alsdann, was soll er mir da zeigen?«
Der hochgewachsene Mann mit Halbglatze und gediegenem schneeweißen Backenbart hatte die Frage intoniert, als ginge es um Leben und Tod. Leben und Tod des Gefragten, wohlgemerkt. Wilhelm Marx, Präsident der Wiener Polizei, hatte schon als junger Praktikant beim Stiftsgericht des Schottenstiftes gelernt, dass Freundlichkeit nur ausgenutzt und als Schwäche interpretiert wurde. Selbstbewusstes Auftreten mit einem Hang zur Überheblichkeit hingegen brachte einem zumindest Respekt ein. Im besten Falle schüchterte man sein Gegenüber ein, das einem dann zumeist mit vorauseilender Freundlichkeit begegnete. Das erhob einen selbst in die Position, diese Freundlichkeit als Schwäche des anderen zu nützen. Und um unmissverständlich deutlich zu machen, in welcher hierarchischen Position der andere sich befand, sprach Wilhelm Marx alle ihm Untergebenen sowie Fremde grundsätzlich in der dritten Person an.
»Hat er einen Frosch verschluckt oder ist er stumm?«, setzte Marx nach.
Der junge Mann der Sicherheitswache wurde hochrot im Gesicht, nahm eine noch steifere Haltung an und wies auf den Haufen Unrat, der sich in der Ecke türmte. »Es … der Tote liegt dort im Dreck, Herr Präsident.«
Marx sah den Polizisten im dunkelgrünen Waffenrock scharf an. Dann klopfte er ihm väterlich auf den Oberarm. »Beruhig er sich, ist schon recht.«
Der Polizeipräsident trat näher an die Stelle heran, auf die die Sicherheitswache gedeutet hatte, beugte sich vorn über. Inmitten von verwitterten Lumpen, Essensabfällen, abgenagten Tierknochen und vermoderten Holzbrettern lag ein Mann, die rechte Hand Hilfe suchend in die Höhe gereckt. Das Hemd blutbefleckt und zerrissen, das Haupt voller Blutergüsse. Anstatt der Augen nur klaffende Höhlen, in denen sich Maden verköstigten.
Marx betrachtete den Toten genauer. Jedem Finger war das letzte Glied abgetrennt worden, genau im Gelenk, dem glatten Schnitt durch die Haut nach zu urteilen vermutlich mit einem scharfen Messer oder einer Zange. Der Mörder hatte sich also Zeit genommen, den Schmerz des Malträtierten wohlfeil ausgekostet, denn eine solche Tortur nimmt gut und gerne ihre zehn Minuten in Anspruch. Zehn Minuten für den Täter – eine gefühlte Ewigkeit für das Opfer.
Der Präsident verzog das Gesicht. Allerdings war es nicht der faulig-beißende Gestank nach Verwesung, der ihn dazu veranlasste, sondern die Überzeugung, dass es sich hier weder um einen Raufhandel noch um das jähe Ende einer Liebelei handelte. Dieser Mann war förmlich hingerichtet worden – und der Mörder hegte nicht die Intention, dies zu verschleiern.
»Mensch, der arme Tölpel liegt hier noch keine vierundzwanzig Stunden«, tönte die näselnde Stimme eines Mannes hinter Marx, die einen unüberhörbaren norddeutschen Akzent aufwies. »Und lassen Sie sich von den Maden nicht ins Bockshorn jagen. Die sind nicht in den Wunden geschlüpft. Die kommen von den Essensresten und suchen sich was Nahrhafteres.«
Der Polizeipräsident wandte sich um und sah sich einem hageren Mann Mitte dreißig gegenüber, der mit seinem schwarzen Frack und der Nickelbrille auf der Nase wirkte, als wollte er in die Oper oder zu einer Soiree gehen.
Marx’ Brauen zogen sich zusammen. »Und wer bitte ist er?«
Der junge Mann schlug die Hacken zusammen. »Gestatten Sie: Salomon Stricker mein Name.«
Pause. Die Augen des Polizeipräsidenten verengten sich, sodass er wirkte, als wollte er dem anderen jeden Moment einen Schlag mit der Faust verpassen.
»Ich war einst Schüler der Pathologischen Anatomie des geschätzten Herrn Rokitansky«, fügte Salomon eiligst hinzu.
»Freiherr von Rokitansky«, korrigierte ihn Marx scharf. »Mein lieber Freund wurde vor zwei Jahren von Kaiser Franz Josef persönlich in den Adelsstand erhoben.«
»Natürlich«, meinte Salomon mit mildem Lächeln, das sein ohnehin schon scharfkantiges Gesicht eigenartigerweise noch härter wirken ließ. Seine grünen Augen blitzten auf, als wollten sie das Lächeln Lügen strafen, sein schwarzer Oberlippenbart, der zu einer präzisen Linie rasiert war, stand in krassem Gegensatz zur ausufernden Gesichtsbehaarung des Polizeipräsidenten.
»Auch war es Herr von Rokitansky, der mich hierhergeschickt hat«, fuhr Salomon ruhig fort. »Er meinte, ich könne Ihnen behilflich sein.«
»Ah geh. Und wobei soll er mir behilflich sein?«
»Den Mörder zu finden, natürlich.« Salomon rückte irritiert seine Brille zurecht.
»Und warum –«
»Ich habe die Totenbeschau von Michael Jaritz durchgeführt.«
Marx kratzte sich den Backenbart und dachte an die Meldung über jenen Mann, den man vor drei Tagen gefunden hatte – Michael Jaritz, ein einfacher Gehilfe in einem Spezereien- und Delikatessengeschäft in der Karmelitergasse. »Dann hab ich also ihm das Konvolut an Beschreibungen und Mutmaßungen zu verdanken?«
Salomon nahm stolz Haltung an. »Präzision bis ins kleinste Detail kann oftmals entscheiden, ob eine Missetat aufgeklärt wird oder eben nicht.«
»Na, da hat er nicht unrecht«, stimmte Marx versöhnlichere Töne an und sah erneut zu dem Toten. »Was kann er mir aus dem Stegreif über unsere Leiche sagen?«
Salomon machte einen Schritt auf den Toten zu, hob die Brauen und spitzte den Mund, als wollte er einen besonders edlen Wein verkosten. Sein Blick schnellte zwischen den unterschiedlichsten Anhaltspunkten hin und her, als müsste er ein komplexes Muster im Geiste verinnerlichen, um es später nachzeichnen zu können. Schließlich schien er genug gesehen zu haben und wandte sich wieder seinem Vorgesetzten zu.
Der schwieg erwartungsvoll.
»Ein Mann Mitte, Ende vierzig, würde ich aufgrund seines leicht schütteren Haares und dem Zustand seiner Schneidezähne vermuten. Ein Arbeiter, wie sein wuchtiger Körperbau im Allgemeinen und Schwielen und Hornhaut an seinen Händen im Besonderen bezeugen. Unverheiratet, da ihm sowohl ein Ehering fehlt als auch die typische Verjüngung am Ringfinger, hätte er stets einen getragen und man ihn dessen beraubt. Er wurde mit einem harten, stumpfen Gegenstand geschlagen. Und sämtliche Verstümmelungen hat man ihm ante mortem zugefügt, sonst wäre das Blut nicht in alle Richtungen gespritzt.«
Wilhelm Marx wartete einen Augenblick, ob der andere noch etwas hinzuzufügen gedachte. Dann rang er sich ein Lächeln ab. »Rokitansky hat ihn viel gelehrt.«
Salomon schwieg stolz.
»Allerdings ist ihm das eine oder andere entgangen. Den Blutergüssen an den Handgelenken nach zu urteilen war der Mann während seiner Tortur gefesselt, wohl mit Gurten. Ich wette, dass sich an seinen Beinen identische Male finden. Seine grobporige Nase lässt vermuten, dass er dem Wein nicht abgeneigt war, und ich meine in größeren, weniger bekömmlichen Dosen. Und der Mann wurde nicht an diesem Ort ermordet.«
Salomon wirkte verunsichert, suchte nach Schleifspuren oder Ähnlichem. »Bei allem Respekt, woher wollen Sie das wissen?«
»Da braucht es eben jenen Spürsinn, der nicht allen Menschen eigen ist. Oder nur eine klare Sicht.« Marx sah an der Fassade hoch. »Na, das Fenster im dritten Stock über uns ist sperrangelweit offen. Bei dem Gestank, der von hier aufsteigt, lüftet niemand so lange freiwillig seine Behausung.«
Der junge Mann prüfte mit einem schnellen Blick die Richtigkeit der Behauptung, schniefte dann, als wäre er erkältet. »Man kann Ihnen schwer etwas vormachen, Herr Präsident.«
Marx blieb ernst. »Einer wie er mit Sicherheit nicht.«
»Ach, Sie … halten wohl nicht viel von mir?«
»Aber! Wie kommt er denn auf so was?«
»Ist es mein deutscher Akzent? Ich habe durchaus bereits die Erfahrung gemacht, dass dieser in Wien nicht gerade beliebt ist.«
Marx schwieg genüsslich.
»Oder …« Salomon zögerte verunsichert. »Womöglich stört es Sie, dass ich Jude bin?«
»Ein Jud! Na, da irrt er sich gewaltig«, sagte Marx und wandte sich ab. »Ich mag einfach generell die Menschen nicht.«
IV
Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, als der Schindelwagen die Residenzstadt hinter sich ließ. Vorbei an den k.k. Stallungen und der k.k. Infanteriekaserne war er durch die Mariahilfer Straße gezogen, auf die Gürtelstraße abgebogen und erreichte nun die Vorstadt, deren Behausungen sich im Schatten der Metropole schuldbewusst zu ducken schienen.
So auch jenes schiefwinkelige Haus, in dem Hieronymus und Franz seit mehr als einem halben Jahr Quartier bezogen hatten. Das Grundstück war von einem niedrigen Zaun umgeben, in der Mitte des Vorplatzes stand ein Brunnen.
Im Hof angekommen hielt Hieronymus den Wagen an und spannte Roswitha ab, während Franz die sechs Kinder der Quartiergeberin begrüßte, die ihn, wie jeden Tag, laut krakeelend empfingen. Von ihrer Mutter jedoch fehlte jede Spur.
Hieronymus kam auf Franz zu, der gerade Jaroslav, den Zweitjüngsten der Rasselbande, in die Luft warf und wieder auffing. »Warum werden wir heute von Anezka gar nicht angefäult6, weil wir den Wagen drei Fuß zu weit von was auch immer abstellen?« Er sah zu Tereza, der Ältesten. »Ist deine Mutter nicht hier?«
Die nickte und runzelte die Stirn. Dann deutete sie hinters Haus.
Hieronymus und Franz warfen sich einen besorgten Blick zu und machten sich in die gewiesene Richtung auf.
»Holt uns doch bittschön einen Kübel frisches Wasser und stellt ihn in die Stube«, rief Franz den Kindern zu, die sogleich zum Brunnen liefen.
Hinter dem Haus hockte eine Frau, das Haupt gesenkt, der Blick starr. Ihre braunen Haare bildeten einen geflochtenen Knoten, ihr Kittel wies eine Vielzahl von Flicken auf. Als sich Hieronymus und Franz näherten, zeigte sie keine Regung.
»Anezka?«, begann Franz und kniete sich ungelenk zu ihr. »Was bekümmert dich?« Er legte ihr die rechte Hand auf die Schulter, was wirkte, als würde ein Riese ein Kind tätscheln.
Sie schüttelte wortlos den Kopf.
»Na komm«, versuchte er es noch einmal, als sein Blick auf die halbleere Flasche Sliwowitz fiel, die neben der Frau an der Bretterwand lehnte.
»Leoš«, flüsterte Anezka schließlich mit hartem böhmischem Akzent. »Leoš ist weg.«
Hieronymus runzelte die Stirn. »Was heißt das: Er ist weg?«
Die Frau funkelte ihn wütend an. »Wie soll Anezka wissen, was das heißt? Seit vier Wochen hat uns Leoš nicht mehr besucht.« Sie wischte sich Tränen aus den Augen. »Und Geld hat er uns auch keines mehr gebracht. Kein Leoš. Kein Geld. Rozumíš?«
Franz schüttelte den Kopf. »Nein, wir verstehen nicht.« Er legte seine Hand auf ihre. »Vielleicht … hat er sich nur wieder einmal versoffen? Du weißt, wie er sein kann.«
»Vier Wochen lang versoffen?« Sie entzog ihm ihre Hand. »Anezka ist kein dummes Weib. Wenn ein Mann so lange nicht mehr in sein Zuhause kommt, sich nicht um seine Kinder schert, hat er entweder eine andere, oder er ist tot.«
Franz sah mit sorgenvollem Blick zu Hieronymus hoch, der nur mit den Schultern zuckte.
Anezka griff sich die Flasche, nahm einen tiefen Schluck daraus. »Wenn Leoš tot ist, dann sei der Herrgott seiner Seele gnädig. Wenn er eine andere hat, ist er so gut wie tot.«
»Wir könnten zu den Ziegelwerken fahren und nach Leoš fragen«, schlug Franz vor und sah erneut zu Hieronymus. Der schien unschlüssig zu sein. »Wir kriegen raus, wo der Kerl geblieben ist, das verspreche ich dir.«
Anezka nickte bedächtig. »Děkuji.« Dann hielt sie Franz die Flasche Sliwowitz hin. »Schluckerl Sliwo?«
Der nahm sie, trank und reichte sie an Hieronymus weiter.
»Eigentlich wollte ich keinen –«
Dann trank er doch. Spürte, wie ihm der scharfe Zwetschkenschnaps die Kehle hinabbrannte und den Magen wärmte.
Anezka erhob sich. »Wann fahrt ihr hin? Morgen?«
Franz richtete sich ebenfalls auf, wenn auch wesentlich ungelenker ob seines verkrüppelten Rückens. »Ja, morgen.«
Zum ersten Mal, seit die beiden Männer angekommen waren, zeichnete sich so etwas wie ein zuversichtliches Lächeln im verlebten Gesicht der Frau ab.
Eine Burg, die über einer Stadt thront. Eine Tür, die eingetreten wird. Ein kleines Beil, das hinabsaust. Das unwirkliche Bild eines kleinen Fingers, der abgehoben neben der Hand liegt. Ein stechender, alles beherrschender Schmerz.
Karolína!
Hieronymus öffnete die Augen. Er blickte auf einen geschwärzten Plafond, der wie eine Öffnung ins Nichts wirkte. Wo war er –?
Instinktiv hob er seine rechte Hand, betrachtete sie im kalten Licht des Mondes. Er hatte also nicht geträumt, er hatte sich nur erinnert. Der kleine Finger fehlte, seit jener schicksalhaften Nacht, in der er so viel mehr verloren hatte als bloß dieses unbedeutende Körperteil. Den Grund zu leben. Karolína …
»Na«, tönte es zu seiner Linken. »Wieder mal den Geistern der Vergangenheit hinterhergejagt?«
Hieronymus wandte den Kopf, sah die dunklen Umrisse seines Weggefährten auf dem anderen Nachtlager. Er und Franz lagen auf ihren mit Stroh gefüllten Säcken, die Leiber nur mit dünnen Laken aus Leinen bedeckt. Das Mondlicht schnitt durch das kleine Fenster im Erdgeschoss, ließ die Dunkelheit der Schatten noch undurchdringlicher wirken. Ein zarter Geruch nach Zwetschke lag in der Luft.
»Irgendwie lassen mich diese Geister nicht los«, meinte Hieronymus resigniert. »Und einerlei, wie oft oder lange ich am Schlickplatz vor der Rudolf-Kaserne wartete, an der ich sie im Juli erspäht hatte, sie kam nie wieder.«
»Du weißt, ich bin der Letzte, der dir deine Träume entreißen will. Aber glaubst du nicht, dass zumindest die Möglichkeit besteht, dass es nicht Karolína war, sondern –«
»Sie war es.« Der Ton in Hieronymus’ Stimme duldete keinen Widerspruch. Nicht von seinem Freund und schon gar nicht von seiner eigenen, inneren Stimme.
»Ich glaub dir ja.« Franz beugte sich ächzend zu ihm, hielt ihm eine Flasche hin. »Schlafmedizin gefällig?«
Der nahm das Angebot an, trank mehrere Schlucke des scharfen Obstbrandes. Dann fiel sein Blick auf die geschlossene Tür zu seiner Rechten, hinter der das Schlafgemach ihrer Vermieterin lag.
»Anezka wirkte schon in den letzten Tagen gedrückt.«
»Du meinst mehr als sonst?« Kaum hatte Franz die Worte ausgesprochen, kamen sie ihm bereits unpassend vor. »Ich weiß, was du meinst«, fügte er rasch hinzu. »Und du hast recht.«
»Mit einem Gemahl wie Leoš hat man eben nicht viel zu lachen. Mich hat es nur immer gewundert, wie er seine Blechmarken, mit denen er in der Ziegelei entlohnt wird, in Gulden umtauschen konnte. Soweit ich weiß, wird jeder gekündigt, der seinen Lohn nicht ausschließlich in die Werkskantine trägt. Findig ist er, das muss man ihm lassen.«
»Und wo glaubst du, steckt dieser findige Pfeifenstierer7?« Der abfällige Ton in Franz’ Stimme ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, was auch er von Anezkas Gemahl hielt.
Hieronymus zuckte mit den Schultern. »Wäre er bei der Arbeit verunglückt, hätte man seine Frau schon verständigt.«
Franz raunte seine Zustimmung. Dann schwiegen beide.
»Morgen Nachmittag muss ich mich um die Fotografie des Kindes ohne Mutter kümmern«, meinte Hieronymus schließlich nachdenklich.
»Hast du eine Ahnung, wie du das bewerkstelligen willst?«
»Nein. Ist aber noch ein bisschen Zeit bis dahin.«
Franz schnaubte. »Oder auch nicht. Wir müssen für Anezka morgen früh aus den Federn. Wir haben es versprochen.«
»Wir?«
»Du hättest doch niemals einen alten Krüppel wie mich alleine zum Ziegelwerk geschickt. Wenn ich mich dort reinschleiche, spannen die mich noch vor einen Karren.«
»Das Fabriksgelände ist mit Sicherheit streng bewacht«, sagte Hieronymus leise. »Da müssen wir uns was einfallen lassen, wie wir dort reinkommen.«
»So gefällt mir das schon besser.«
»Freu dich bloß nicht zu früh«, mahnte Hieronymus. »Ich fürchte nur, wir werden keine erfreulichen Neuigkeiten erfahren.«
»Das fürchte ich allerdings auch, mein Freund. Das fürchte ich auch.«
6 Wienerisch: anschnauzen.
7 Taugenichts.
V
Unweit jener Stelle, an der sich auf dem weitläufigen Wienerfeld neben Wirtshäusern Leim- und Beinsiedereien angesiedelt hatten, wo die Pottendorfer Bahn in die West-Donaulände-Bahn mündete und sich der Liesingbach idyllisch durch das Blumenthal schlängelte, ragten mehr als drei Dutzend Rauchfänge in den Morgenhimmel. Die Rauchwolken, die sie ausstießen, verdunkelten zuweilen die Sonne, die Fassaden der umliegenden Häuser waren rußgeschwärzt. Selbst das Regenwasser, das sich in Lacken und in Fahrrinnen gesammelt hatte, schimmerte so schwarz wie Erdöl. Ein brandiger Geruch war allgegenwärtig, gleich so, als könnte jeden Augenblick alles um einen herum in Flammen aufgehen. Ein Moloch im Süden der Kaiserstadt …
Und doch wurde hier das Herzstück dessen hergestellt, ohne das es keine Stadterweiterung Wiens und keine Prachtbauten an der neuen Ringstraße geben konnte – der Ziegel.
Nach dem Tod des patriarchalen Unternehmers Alois Miesbach, der 1820 den alten k.k. Fortifikations-Ziegelschlag gepachtet hatte, übernahm dessen Neffe Heinrich Drasche 1857 die Geschäfte. Dank der regen Bautätigkeit, die eine schiere Unmenge an Ziegeln verschlang, erweiterte er kontinuierlich die Fabrik und steigerte die Jahresproduktion auf weit über einhundert Millionen Stück des Baumaterials, was ihm im Volksmund den Spitznamen »Ziegelbaron« einbrachte. Europas nunmehr größte Ziegelfabrik warf enorme Profite ab – mit den Aktien allein vermehrte Drasche sein Vermögen um fast eine halbe Million Gulden pro Jahr. Dennoch ließ er für seine Arbeiter Wohnhäuser erbauen, für die er gar bei der Pariser Weltausstellung 1867 ausgezeichnet wurde, gründete eine werkseigene Versicherung für Invaliden und Pensionisten und spendete große Summen für humanitäre Stiftungen. 1870 wurde er zum Ritter von Wartinberg ernannt.
Trotzdem war die Lage der Arbeiter äußerst prekär. Sie kamen hauptsächlich aus den östlichen Kronländern des Kaiserreiches mitsamt ihren Familien – die »Ziegelbehm«. So säumten einige Kinder die Straße, auf der eine Kutsche mit zwei Fahrgästen unterwegs war, und erbettelten sich ein Zubrot für ihre Familien.
Franz seufzte ob des traurigen Anblicks, dann schnäuzte er sich in die Hand und besah das Ergebnis: ein dunkler, stellenweise schwarzer Schleim.
»Früher haben wir Kathedralen erbaut, um näher am Herrgott zu sein. Heute sind es diese verdammten Schornsteine.«
Hieronymus, der in der Kutsche neben ihm saß, maß ihn argwöhnisch. »Vom Beten allein kommt kein Fortschritt«, und spielte damit auf dessen früheres Leben als Mönch an.
Franz wischte sich die Hand mit einem Fetzen sauber. »Vom Beten allein kam noch nie etwas. Aber mit mehr Respekt gegenüber Mensch und Natur ließe sich etwas erschaffen, was nicht zulasten des einen oder anderen ginge.«
»Du solltest bei der nächsten Aktionärsversammlung als Redner auftreten. Ich bin sicher, die geschätzten Herren verzichten ob solch hehrer Ansinnen gerne auf ihre dicken Dividenden.«
Franz schnaubte verächtlich. »Die würden auf keinen Gulden verzichten, selbst wenn sie daran ersticken würden.«
Hieronymus’ Tonfall wurde lakonisch. »Wo ist die gute alte Zeit, wenn man sie braucht?«
Er griff in seine Westentasche, holte einige Kronen heraus und warf sie Richtung der bettelnden Kinder, die sie kreischend vor Freude einsammelten.
»Füttern S’ doch nicht die Gschropp’n«, echauffierte sich der Kutscher. »Sonst bing’ ma die Böhm gar nicht mehr an! Sie wissen doch, wie’s so schön heißt: Es gibt nur a Kaiserstadt. Es gibt nur a Wien. Die Wiener san draußen, die Böhm, die san drin.«
Hieronymus lachte schallend auf. »Da haben S’ wohl recht«, meinte er und machte eine kurze ernste Pause. »Ich komm übrigens aus Prag.«
Der Kutscher zuckte zusammen, als hätte er einen Schlag auf den Kopf bekommen.
»Und ich aus Königsberg in Ostpreußen«, setzte Franz nach. »Aber das macht bei Ihnen wahrscheinlich keinen Unterschied, weil ich eh nur ein Krüppel bin.«
»Entschuldigen S’, die Herrschaften, ich wollte nicht –«
»Fahren S’ einfach und halten S’ den Mund«, sagte Hieronymus in scharfem Ton. »Und hoffen S’, dass die Böhm nicht auch noch lernen, wie man eine Kutsche lenkt, sonst sind das bald Ihre Gschropp’n, die um Almosen betteln. Denn im Gegensatz zu Ihnen sind die Böhm fleißig und freundlich.«
Der Kutscher nickte mehrmals und murmelte ein »Sehr wohl, der Herr.«
Die Kutsche bahnte sich ihren Weg durch den kleinen Vorort Inzersdorf am Wienerberg, dessen schmutzig wirkende Häuser sich an die Hauptstraße reihten. Im Osten lag die vor vier Jahren gegründete private »Heilanstalt für Nerven- und Gemüthskranke«, im Westen das Drasche-Schloss mit einer prächtigen Parkanlage. Am Ende der Hauptstraße bog die Kutsche rechts in die Triester Straße ein, wo sie, nachdem sie den Liesingbach und den Gleiskörper der West-Donaulände-Bahn überquert hatte, vor dem schmiedeeisernen Portal der Ziegelwerke anhielt.
Hieronymus entlohnte den Kutscher, nicht ohne sich mit einem freundlichen »Děkuju« zu bedanken. Dann fegte er mit der Handfläche den Staub der Straße von seinem Raglanmantel, setzte sich einen steifen Hut auf, zog sich weiße Handschuhe an und klemmte sich ein Monokel vor das rechte Auge. Mit einer zu allem entschlossenen Miene deutete er mit seinem Flanierstock auf die Einfahrt.
»Wohl an, mein treuer buckliger Gefährte!«
Franz unterdrückte ein Grinsen. »Wen stellen wir denn heute dar?«
»Lass dich überraschen!«
Die beiden Männer durchschritten das schmiedeeiserne Portal, wo sie sogleich von einem dicklichen Portier lautstark in Empfang genommen wurden.
»Habe die Ehre, die Herren! Wen darf ich untertänigst melden?«
Franz sah Hieronymus erwartungsvoll an.
»Vojtěch von Martinic, mein Bester«, schmetterte Hieronymus ohne jede Scham hinaus, einen böhmischen Dialekt intonierend. »Nachlassverwalter derer von Rosenberg. Ich komme, um einen Ihrer Arbeiter aufzusuchen, einen gewissen Leoš Svoboda.«
Der Portier nickte ernst, als wären ihm die genannten Personen von Begriff. »Sehr wohl, Herr von Martinic. So darf ich Sie davon in Kenntnis setzen, dass ich keine derartige davon habe, ob der genannte Böhm – ich meine, ob der genannte Herr bei uns unter Lohn steht«, sagte er und beendete die unnötig komplizierte Wortaneinanderreihung samt Korrektur mit einem knechtischen Lächeln, gefolgt von beharrlichem Schweigen.
Hieronymus wartete einen Augenblick, ob er den Portier richtig einschätzte. Dann griff er in die Tasche seines Mantels, holte einen Gulden hervor und drückte diesen dem Mann in die Hand.
»Wohl aber«, fuhr der Portier fort, als wäre nichts gewesen, »führt unsere Schreibstube genauestens über alle Angestellten Buch. Wenn S’ bittschön da nach vorn gehen, ins dritte Gebäude zu Ihrer Rechten, in den zweiten Stock.«
Hieronymus tippte an den Rand seines Hutes und machte sich auf den Weg zum Werksgelände. Franz folgte ihm, ohne dem Portier einen Blick zu schenken.
Je näher sie den Verwaltungsgebäuden der Ziegelfabrik kamen, umso lauter wurde der Lärm, der von den Hallen und Öfen her dröhnte, und umso stickiger wurde die Luft. Doch nun, da Hieronymus und Franz in dem sauber weiß ausgekalkten dritten Gebäude im zweiten Stock standen, drängte sich ihnen der Eindruck auf, sie befänden sich mehr in einem Sanatorium denn auf einem Fabriksgelände. Junge Männer in sauberer dunkler Kleidung eilten die Gänge entlang, schweigend und dienstbeflissen.
»Ich wart besser hier«, meinte Franz mit gedämpfter Stimme. »Die sollen sich auf das besinnen, was du ihnen anschaffst, und nicht auf einen hübschen Lackl8 wie mich.«
Hieronymus nickte knapp. Ohne anzuklopfen, öffnete er die erstbeste Tür und trat in den hellen Raum, in dem sich vier Schreibschränke befanden. An ihnen arbeiteten vier Angestellte emsig, jeder eine Feder in der Hand.
Alle Blicke richteten sich auf ihn.
»Gestatten: Vojtěch von Martinic, Nachlassverwalter derer von Rosenberg«, sprach er in gleicher Manier wie zum Portier und mit dem gleichen böhmischen Dialekt. »Ich bin auf der Suche nach einem Ihrer geschätzten Arbeiter, Leoš Svoboda.«
Die vier Männer wirkten verunsichert. Schließlich stand einer von ihnen auf. »Wissen der Herr zufällig, welche Position der Genannte innehat?«
»Lehmscheiber, wie mir zu Ohren gekommen ist«, antwortete Hieronymus.
»Bitte um einen Augenblick Geduld.« Mit diesen Worten eilte der junge Mann aus dem Raum.
Daraufhin nahmen die restlichen drei Männer ihre Schreibtätigkeiten wieder auf. Alle waren in dunkle Hosen gekleidet, wie Hieronymus bemerkte, in weiße Hemden und dunkle Westen, das Haar mit Pomade gescheitelt. Einer wie der andere, kam ihm in den Sinn, wie Zahnräder in einem Uhrwerk. Funktionierend und austauschbar.
Als einziger Schmuck hingen an einer Wand zwei Bilder, mit kräftigen Farben gemalt. Eines zeigte den Wienerberg, wie er vor einhundert Jahren ausgesehen haben musste, überzogen von üppiger Vegetation. Das zweite zeigte die Ziegelfabrik, umringt von geschönter Flora. Ein eigentlich trauriger Vergleich, sinnierte Hieronymus, vorher und nachher. Und doch erzeugten die beiden Bilder in ihm eine plötzliche Erkenntnis –
In dem Moment kam der junge Mann wieder. Ihm folgte ein vierschrötiger Kerl, der wirkte, als würde er an den Ringöfen arbeiten, nicht in der Verwaltung.
»Konrad Feigl mein Name«, sagte er ohne Umschweife, »Sie suchen einen unserer Arbeiter?«
Hieronymus nickte und wollte gerade Anstalten machen, sich ebenfalls vorzustellen, als der andere bereits wieder sprach. »In welcher Angelegenheit suchen S’ ihn?«
»In einer, die eine gewisse Form der Diskretion erfordert«, antwortete Hieronymus mit Blick auf die vier Schreiberlinge im Raum.
»Folgen S’ mir.«
Nachdem die beiden Männer mehrere Räume durchschritten hatten, die völlig ident wirkten, kamen sie schließlich in ein kleines Zimmer, in dem dicke Bücher in Regalen bis zur Decke gestapelt waren, alle am Rücken mit handschriftlichen Kürzeln versehen. Feigl wies seinem Gast einen Stuhl zu und suchte dann die Regale ab. Irgendwann zog er einen Wälzer heraus, setzte sich an seinen Sekretär und überflog die Seiten darin.
»Svoboda, Svoboda … ah! Hier ist er. Leoš Svoboda, fein säuberlich gelistet im Beschäftigtenverzeichnis. Hat bei uns als Sandler angefangen.« Er blätterte mehrmals vor und zurück, überflog die Spalten voll handschriftlicher Eintragungen. »Mhm … mhm.«
Feigl runzelte die Stirn. Wortlos stand er auf und verließ den Raum.
Hieronymus nahm das Monokel ab und versuchte zu lesen, was die Einträge besagten, konnte aber nicht viel erkennen.
Gleich darauf kam Feigl zurück, ein kleines Buch in der Hand.
»Sie sind mir noch eine Antwort schuldig«, sagte er, während er wieder beim Sekretär Platz nahm. »Was wollen Sie von unserem Arbeiter?«
Hieronymus klemmte sich das Monokel wieder vor das Auge. »Zunächst einmal: Mein Name ist Vojtěch von Martinic, meines Zeichens Genealoge und Nachlassverwalter derer von Rosenberg. Fürst Zdeněk von Rosenberg, Gott möge seiner Seele gnädig sein, ist erst vor Kurzem von uns gegangen. Die Syphilis kannte leider kein Erbarmen. Da er selbst keine Nachkommen hatte, obliegt es nun mir, etwaige Berechtigte bezüglich einer Erbschaft ausfindig zu machen. Und da tauchte, via mütterliche Linie, Leoš Svobodas Name auf.«
Hieronymus machte ein feierliches Gesicht, als hätte er die Bundeslade entdeckt.
Feigl teilte zwar nicht die Begeisterung des anderen, jedoch schien er die Geschichte zu glauben. »Ich wünschte, ich könnte nun sagen, dass ich mich für den Herrn Svoboda freue –« Er machte eine unnötig lange Pause. »Aber das wäre schlicht gelogen.«
Er schlug das mitgebrachte Buch auf, blätterte wieder darin. »Das ist das Arbeitsbuch des besagten Herrn. Hier wird auch jedwedes Vergehen penibel dokumentiert. Und meiner Seel’, das sind derer viele.«
Hieronymus versuchte, überrascht zu wirken, auch wenn er es nicht war.
»Ein Raufbold war er und ein Trangler9.« Feigl schüttelte verständnislos den Kopf. »Manchmal sogar ein Aufrührer.«
»Er war?«
Der Angestellte nickte und las den Eintrag, während er sprach. »Am Ersten des letzten Monats haben wir uns von ihm getrennt. Er war zum wiederholten Male dermaßen trunken, dass er seine Scheibtruhe10 samt Ziegel umkippen ließ, wobei viele der Werkstücke zu Bruch gingen. Ein solches Verhalten ist unentschuldbar.«
Innerlich seufzte Hieronymus tief und schwer. Etwas in der Art hatte er bereits befürchtet. Und nachdem Leoš nicht zu seiner Frau zurückgekehrt war, konnte er Gott weiß wo sein. Äußerlich jedoch war er um Räson bemüht.
»Sie wissen nicht, wo ich den Herrn Svoboda finden könnte?«
Feigl blätterte das Arbeitsbuch durch, schlug es schließlich zu. »Laut eigener Angabe ist er verheiratet, jedoch wohnt seine Familie nicht am Werksgelände. Fragen S’ in der Werkskantine nach. Mehr fällt mir dazu nicht ein.«
Hieronymus erhob sich. »Verbindlichsten Dank, Herr Feigl. Wenn Sie mir das Buch aushändigen könnten, dann –«
»Ist Werkseigentum«, knurrte der Angestellte und gab damit zu verstehen, dass sein Entgegenkommen hier endete.
»Dann danke ich für Ihre Zeit und empfehle mich.« Hieronymus schritt zur Tür, hoffend, dass dem anderen nicht noch die eine oder andere tiefschürfende Frage einfiel.
Die stickige Luft der Werkskantine raubte Hieronymus und Franz beinahe den Atem. Ein Gemisch aus Schweiß und Moder, aus abgestandenem Wein und Ausdünstungen jeglicher Art paarte sich mit dem Brandgeruch aus den Brennöfen. Die Lehmarbeiter, die in der Kantine mehr herumlungerten denn saßen oder standen, wirkten wie Schatten ihrer selbst – ausgelaugt, müde und bar jeder Hoffnung. Ihre Arbeitskleidung, blaue Hose und Janker, schienen sie im Frühjahr angezogen und seither nicht mehr ausgezogen zu haben.
Franz seufzte. »Du bleibst besser draußen. Ich denke nicht, dass auch nur eine Seele hier mit einem Frackträger wie dir sprechen will.«
Hieronymus machte einen Schritt zurück. »Dann werde ich zu Anna Rebiczek fahren, das Foto ihrer Lucie machen.«