Kitabı oku: «Chronik von Eden», sayfa 10

Yazı tipi:

Lange Zeit hockte er einfach nur da. Seine Haare hingen ihm in fettigen Strähnen ins Gesicht. Dann begannen seine Schultern unkontrolliert zu zucken. Ein leises Kichern drang durch den Vorhang aus Haaren, wurde lauter und lauter. Ein hysterisches Lachen brach aus Martin heraus.

»ICH LEBE! HABT IHR GEHÖRT? ICH LEBE UND ICH WERDE WEITERLEBEN!«

Das Echo seines Schreis hallte über den Flur. Die Toten nahmen den Ausbruch gelassen zur Kenntnis.

Schön für dich, alter Junge.

Kapitel IV - Draußen

Martin stand in der Eingangshalle des Gebäudes und starrte aus der Glastüre in die Dämmerung hinaus. Es hatte angefangen zu regnen. In der Scheibe spiegelte sich das Chaos, das hinter ihm herrschte. Eine Reflektion seiner Gefühle.

Dieses Gebäude war kein Krankenhaus, wie Martin zuerst geglaubt hatte. Es war eine Schule, die man in Windeseile in ein Feldlazarett verwandelt hatte. Wo früher Kinder über die Flure gehastet waren, stapelten sich jetzt leere Munitionskisten. Tüten gefriergetrockneter Nahrungsmittel und Trinkwasserbehälter lagen verstreut zwischen Leichen. Vor dem Gebäude war das Kinderlachen befestigten Schützenstellungen gewichen. In den Klassenzimmern hatte man notdürftige OP-Säle und Laboratorien eingerichtet. Im ehemaligen Lehrerzimmer hatte Martin eine Art Kommandozentrale entdeckt. Dort hatte er ein dumpfes Brummen und Rattern gehört. Bei seinem vorsichtigen Blick aus dem Fenster hatte er einen militärischen Notstromgenerator entdeckt, der an einen großen Tank angeschlossen war. Eines von den Ungetümen, die mehrere Tage ein Haus wie dieses mit Energie versorgen konnten. So wie der Generator geklungen hatte, würde er aber nicht mehr lange durchhalten. Mit einem dumpfen Gefühl der Hoffnungslosigkeit war Martin aus dem Lehrerzimmer gegangen. Die Vitrine mit den Pokalen der Schulmannschaft lag zertrümmert am Boden der Eingangshalle. Zwischen den Scherben lagen selbst gemalte Bilder von Kindern neben Patronenhülsen und fallen gelassenen Ausrüstungsgegenständen. Hier eine Feldflasche, dort ein Feldbesteck.

Martin atmete zitternd tief durch und starrte in den Regen. Er versuchte das, was ihm das Chaos in seinem Rücken sagen wollte, irgendwie zu verstehen. Was war geschehen? Wie lange war er weg gewesen? Er legte seine Stirn gegen die Eingangstür. Seine Augen brannten. Entweder war die Menschheit tatsächlich untergegangen, oder es hatte eine Evakuierung gegeben.

Und ihn hatte man vergessen.

Aber warum war er hier?

Wer hatte ihn betäubt und warum?

Die Stimmen aus der Dunkelheit kamen Martin in Erinnerung. Langsam hob er seine Arme und besah sich die Einstiche an den Ellenbeugen.

Hatte man ihn als Versuchskaninchen missbraucht? Martin verdrängte mit einer bewussten Anstrengung diesen dunklen Gedanken, der ihn mit seiner zersetzenden Kraft lähmen wollte. Wenn das wirklich so gewesen wäre, dann würde er jetzt bestimmt nicht hier herumlaufen. Und vom Jammern würde er weder Antworten bekommen, noch würde sich sein knurrender Magen beruhigen.

Er musste zuerst an sich denken. Der Rest der Welt konnte ihm jetzt scheißegal sein. Nur sein knurrender Magen und seine eigene Haut waren ab jetzt wichtig. Mit einer trotzigen Geste wischte er sich über das Gesicht. Zuerst müsste er ...

In der Glasscheibe spiegelte sich eine Bewegung. Martin fuhr herum, riss die Waffe hoch und blickte in das blasse Gesicht eines Jungen. Die Sekunden dehnten sich wie zähflüssiges Glas, während Martin und der Junge sich einander taxierten und zu entscheiden versuchten, ob der jeweils andere eine Gefahr darstellte. Der Junge sah sauber und gesund aus. Seine Kleidung hätte eine Wäsche vertragen können, doch unter den gegebenen Umständen erschien Martin die Erscheinung von beruhigender Normalität. Er ließ die Waffe sinken.

»Hi.«

Keine Reaktion. Der Junge starrte ihn an. In seinem Blick lag keine Angst, eher Misstrauen. Martin schätzte sein Alter auf zehn Jahre. Langsam streckte er dem Jungen eine Hand entgegen.

»Ich dachte, hier würde keiner mehr leben. Ich heiße Martin. Und du?«

Der Junge wich einen Schritt zurück. Ein Lichtreflex tanzte auf seinem blonden Haar.

»Ich tue dir nichts. Du brauchst keine Angst vor mir zu haben.«

Der Junge runzelte die Stirn, als würde er angestrengt auf etwas lauschen, das Martin nicht hören konnte. Für einen Augenblick glaubte er zu sehen, dass sich die Augen des Jungen verdunkelten. Kälte ging von dem Kind aus. Martin taumelte und griff sich an den Kopf. Er verzog das Gesicht und stöhnte leise auf. Blut tröpfelte aus seiner Nase. Dann verflog der Augenblick. Martin blies den angestauten Atem durch seine gespitzten Lippen und hob den Blick.

Der Junge war weg.

»Na Klasse«, murmelte er in die Stille.

»Der erste Mensch, der mir in diesem Irrenhaus begegnet, ist Copperfield Junior.«

Er schaute sich um. Wohin war der Kleine verschwunden? Ein leises Knarren gab ihm die Antwort. Direkt unter der nach oben führenden Treppe sah Martin eine schwere Eisentür zuschwingen. Ein Schild wies darauf hin, dass es hier zum Heizungskeller ging und Unbefugten der Zutritt strengstens untersagt sei.

Martin wischte mit sich etwas Blut von seiner Oberlippe und nickte.

»Wo würde ich mich am liebsten verstecken, wenn die Welt untergeht? Im Keller, wo sonst.«

*

Wenige Augenblicke später stand Martin wie eine Statue in der Tür zum Heizungskeller. Das leise Surren einer Heizungs- und Belüftungsanlage hallte von den Wänden wider. Am Ende der Treppe führten zwei Gänge nach links und rechts, tiefer in den Keller hinein. Martin zitterte und auf seiner Oberlippe bildeten sich feine Schweißperlen.

Der Junge war der erste lebende Mensch, dem er nach seinem Erwachen begegnet war. Er musste ihm folgen, wenn er erfahren wollte, was geschehen war. Aber ein Wächter, mit dem Martin niemals gerechnet hätte, bewachte die Treppe. Geduldig auf Beute lauernd hing er auf Höhe der dritten Stufe von der Decke.

Eine Spinne.

Wenn Martin etwas hasste, dann waren es die diese kleinen, haarigen Monster auf acht Beinen. Und dieses Exemplar hier, war ein besonders dickes. Sie schwang leicht an ihrem Faden hin und her und schien ihn dabei zu verspotten. Wie war der Junge an ihr vorbeigekommen? Hatte er durch den Luftzug seiner Bewegung dieses Monster dazu gebracht, aus ihrem Netz zu kommen und sich auf die Lauer zu legen?

Martin holte zitternd Luft.

»Okay. Ich tue dir nichts, wenn du mich auch in Ruhe lässt.«

Mit Beinen, die nicht zu seinem Körper gehörten, drückte Martin sich rücklings an das Geländer. Vorsichtig betrat er die erste Stufe. Sein Atem kam in harten Stößen und Schweiß brannte in seinen Augen. Dann erreichte er die dritte Stufe und stand Auge in Auge mit der Spinne. Sein Atem verstärkte ihr Schwingen. Mit jedem Atemzug kam sie näher an sein Gesicht. Martin wollte die nächste Stufe betreten, aber der Befehl an seine Beine ging auf dem Weg durch seine Nervenbahnen verloren. Mit grausiger Faszination bemerkte Martin, wie die Spinne sich an ihrem Faden lässig in seine Richtung drehte. Der kalte Glanz der Neonröhren spiegelte sich in ihren Augen. Ein weiterer Atemzug ließ die feinen Haare auf ihrem Körper erzittern, gab ihr nochmals einen Schwung und unaufhaltsam kam sie mit jeder Amplitude ihrer Schwingung seinem Gesicht näher. Ein unartikulierter Laut kroch in Martins Hals hoch. Das Zittern erreichte seinen ganzen Körper. Gleich würde dieses handtellergroße Ungeheuer in seinem Gesicht landen, sich mit seinen Beinen an seinen Wangen festklammern und –

»Kommst du endlich?«

Mit einem entsetztem Aufschrei fuhr Martin herum. Seine Beine verhedderten sich im Riemen der Maschinenpistole. Laut polternd fiel Martin die letzen Stufen der Treppe hinunter.

Unten angekommen rappelte er sich auf, tastete mit hastigen Bewegungen seinen Körper ab.

»IstsiewegistsieirgendwoanmirsiehstdudasVieh?«

»Maximilian ist kein Vieh.«

Schwer atmend schaute Martin die Treppe herauf. Die Spinne hing an Ort und Stelle. Dann wandte er sich zu der Stimme um. Der blonde Junge blickte ihm grinsend ins Gesicht. Martin besann sich auf dessen Alter und versuchte, erwachsen zu klingen.

»Wenn du es sagst. Ich finde aber trotzdem, dass es ein Ungeheuer ist. Eine Vogelspinne ist kein Haustier, sondern eine giftige Waffe auf acht Beinen.«

Der Junge schüttelte den Kopf und das Grinsen verschwand aus seinem Gesicht.

»Wenn Max dich gebissen hätte, wäre es nicht schlimmer als ein Bienen- oder Wespenstich geworden.«

»Und woher willst das wissen, du kleiner Klugscheißer?«

»Max ist keine asiatische Vogelspinne. Bei denen kann ein Biss in manchen Fällen zu Muskelkrämpfen führen.« Der Junge wandte sich von Martin ab. »Und wenn hier einer ein Klugscheißer ist, dann doch wohl du. Vogelspinnen bauen keine Netze und können deshalb auch nicht an Fäden von der Decke baumeln.«

Martin blickte dem Jungen mit offenem Mund hinterher.

»He«, rief Martin. Der Junge blieb an der Ecke stehen und drehte sich zu Martin um.

»Ich heiße Tom. Und du bist Martin Martinsen.«

»Woher weißt du meinen Namen?«

»Was glaubst du, wer die ganze Zeit nach dir gesehen hat, seit sich hier alle gegenseitig umgebracht haben?«

Tom griff in seine Hosentasche und holte ein gigantisches Schlüsselbund hervor. Martin schüttelte ungläubig den Kopf. Der Junge holte Luft, als wolle er noch etwas hinzufügen, als er plötzlich erstarrte und den Kopf zur Seite neigte. Sein Blick wandte sich nach innen und wieder bemerkte Martin, dass die Augen des Jungen sich verdunkelten. Martin hatte plötzlich das Gefühl in einem dicken Sirup zu liegen. Seine Wahrnehmung veränderte sich. Eine Staubfluse am Boden wuchs zur Größe eines Dornenbuschs, das leise Surren der Maschinen schwoll zu einem dumpfen Grollen heran. Martin bemerkte, das Toms linker Arm eine Prothese war. Ihm wurde schwindelig. Ein merkwürdiges, knisterndes Geräusch wurde allmählich lauter und drängender. Es klang entfernt nach Speck, der in einer Pfanne brutzelte. Martin wollte sich an den Kopf fassen, wollte sich davon überzeugen, dass er noch er selber war, als der Moment verflog.

Tom blickte besorgt auf.

»Martin. An deiner Stelle würde ich jetzt mitkommen.«

Martin rappelte sich schwankend auf und versuchte sich zu orientieren. Der Gang schien Wellen zu schlagen und der Boden fühlte sich an, wie das Deck eine Schiffs auf hoher See.

»Was?«

»Ein Unwetter zieht auf und es wird dunkel. SIE kommen. SIE kommen immer, wenn es dunkel wird.«

»Wer sind SIE?«

»SIE?« Ein leichtes Lächeln legte sich auf Toms Züge, erreichte aber seine Augen nicht. Er fasste mit seiner gesunden Hand nach Martins Arm. »Wenn du schon Angst vor einer ausgestopften Vogelspinne hast, möchtest du die Knirscher bestimmt nicht kennen lernen.«

Ein Gefühl der Hilflosigkeit stieg in Martin auf. Die Welt war für ihn innerhalb eines Augenblicks zu einem Ort geworden, in dem er sich ohne fremde Hilfe nicht mehr zurecht fand. Er blickte in Toms Augen und sah darin eine Härte, die nicht in die Augen eines Kindes gehörte. Martin nickte ergeben und ließ sich von Tom in die Tiefen des Kellers führen.

Und das Knistern und Knirschen wurde immer lauter.

*

Martin hastete hinter Tom durch ein Labyrinth aus schmalen Gängen. Graue Türen zogen an ihm vorbei, dann ging es durch einen Maschinenraum. Das Tosen einer Anlage, ob Heizung oder Klima, vermochte er nicht zu erkennen, unterdrückte das Knistern und Knirschen. Martin fragte sich, wie groß die Schule sein mochte und machte eine entsprechende Bemerkung.

»Dies ist keine Schule«, sagte Tom, während er eine der Türen öffnete und Martin in einen dunklen Gang lotste, an dessen Ende eine Treppe nach unten führte. »Wir sind hier in einem Teil der Sporthochschule Köln.«

Martin legte Tom eine Hand auf die Schulter.

»Warte bitte. Ich kann nicht mehr.«

Er stützte seine Hände auf die Knie und atmete schwer. Seine Beine zitterten und sein Blick verschwamm. Ungeduldig trat Tom von einem Fuß auf den anderen. Das Knirschen und Knistern war zu einem ständigen Begleiter der beiden geworden. Martin kam ein Gedanke.

»Du sagtest vorhin, ich würde die ... Knirscher nicht kennen lernen wollen, wenn ich vor einer ausgestopften Spinne Angst hätte. Was meintest du damit?«

Ein Lächeln huschte über Toms Gesicht und Martin bemerkte zum ersten Mal einen Anflug kindlichen Vergnügens in seinen Augen.

»Ich sagte doch schon, das Vogelspinnen keine Netze bauen. Sie sind Jäger.«

»Aber warum dann dieses Monster an der Treppe?«

»Abschreckung. Machen viele Amazonasstämme heute noch. Sie stecken die Köpfe ihrer Feinde auf Pfähle und markieren somit die Grenzen ihres Stammesgebiets.«

Das Lächeln in Toms Gesicht wuchs in die Breite und das abgeklärte Verhalten eines Erwachsenen fiel endgültig von ihm ab. Das Kind kam zum Vorschein.

»Bei dir hat es doch geklappt, oder? Wer weiß denn genug über Vogelspinnen, um unsere Abschreckung zu durchschauen? Jetzt müssen wir aber weiter. Es ist nicht mehr weit. Dann kannst du etwas essen und dich ausruhen, während ich dir die anderen vorstelle.«

»Haben noch mehr dieses Massaker überlebt?«

»Ja. Aber jetzt komm. Schnell.«

Auf hölzernen Beinen stakste Martin hinter Tom die Treppe herunter. Die Wände wechselten von grauem Verputz zu rotem Backstein. Martin stützte sich beim Abstieg schwer auf das Geländer und verzog das Gesicht. Seine Hand wanderte an seine rechte Seite und er stöhnte unterdrückt auf. Seitenstiche bohrten sich wie ein stumpfes Messer durch seinen Bauch. Tom führte ihn zu einer weiteren grauen Eisentür. Martin keuchte und stützte sich an der Wand ab. Tom öffnete die Tür und Martin fühlte, wie er mit einer ungeduldigen Bewegung in einen schmalen Gang geschoben wurde. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Das Knirschen verstummte abrupt. Martin sah sich verwirrt um.

»Was ist los? Warum höre ich nichts mehr?«

»Weil wir da sind. Wenn wir alle nah beieinander sind, können wir IHRE ...« Tom zögerte. Dann zuckte er mit den Schultern. »Es wird ruhiger, wenn wir alle zusammen sind. Vertrau mir.«

Tom fasste Martin am Arm und führte in zu einer Biegung am Ende des Ganges. Sie kamen um die Ecke und betraten eine runde Halle mit einer kuppelförmigen Decke. Mehrere Gänge führten aus diesem unterirdischen Dom hinaus. An den Wänden standen Kisten mit Lebensmitteln und Trinkwasserbehältern im typischen Farbton des Militärs, mit gelber Aufschrift. Neonröhren an der Decke tauchten die Halle in kaltes Licht. Zwischen zwei Gängen sah Martin ein Schlagzeug. Direkt daneben mehrere Ständer mit Gitarren. Rechts von ihm stand ein kleiner Tisch mit einer Funkanlage. Eine Karte Kölns hing an einer der Wände. In der Mitte der Halle hatten sich fünf Kinder zusammengekauert. Martin bemerkte an den Sweatshirts und Pullovern aller Kinder ein rundes Emblem, das wie das Ergebnis einer Handarbeitsstunde der vierten Klasse aussah. Eine schwarze Spinne auf gelben Hintergrund. Tom wandte sich an Martin. Sein Blick verriet Stolz.

»Martin. Darf ich dir die Spider-X vorstellen?«

Kapitel V - Flucht

Die Kinder saßen im Halbkreis vor Martin, der einen Müsliriegel aß. Im Hintergrund rauschte und knisterte das Funkgerät. Er versuchte, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Draußen herrschten offenbar Krieg und Chaos. Wenn es hart auf hart käme, wären die Kinder für ihn schlimmstenfalls ein Klotz am Bein. Wie würde er reagieren, wenn es für ihn ums nackte Überleben ginge? Martin wusste darauf keine vernünftige Antwort. Zumindest ließen ihn die Kids in Ruhe essen, ohne ihn sofort mit Fragen, Gejammer und Tränen zu bestürmen.

Martin blickte auf und Tom begann ihm mit leiser Stimme die anderen vorzustellen. Ein blondes Mädchen mit einfältigen Gesichtszügen stellte Tom als Gabi vor. Sie kicherte und wurde rot, als Martin ihr mit prallen Wangen und gespielt fröhlich zublinzelte. Karl und Kurt waren eineiige Zwillinge. Tom erklärte ihm, das Karl stumm und Kurt taub sei.

»Wenn du Karl ansprichst, gibt er Kurt ein Zeichen, damit er dich ansieht und von deinen Lippen ablesen kann.«

Ritchie, einen verwachsenen Jungen in einem elektrischen Rollstuhl, nannte Tom The Brain.

»Die Idee, Maximilian an der Treppe aufzuhängen, stammt von ihm«, sagte er. Martin bemerkte mit Erstaunen in Toms Stimme einen Hauch von Heldenverehrung. Bisher hätte er Tom eher als Anführer der kleinen Gruppe eingeschätzt. Ritchie grinste und griff mit seiner verkrümmten Rechten an einen Hebel an seinem Rollstuhl. Ein kleiner Metallarm mit einem Kehlkopfmikrofon fuhr ihm vor das Gesicht.

»Und?«, schnarrte seine künstliche Stimme. »Hat es gewirkt?«

Martin spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. In einer verlegenen Geste zuckte er mit den Schultern und nickte leicht. Tom deutete auf die Letzte der Gruppe.

»Das ist Melanie. Sie ist die älteste von uns und Gabis Schwester. Sie ist taubstumm, kann aber von deinen Lippen lesen.«

»Okay. Und wie seid ihr hierher gekommen? Was ist passiert, während ich weg war?«, fragte Martin.

Die Kinder blickten sich an und er glaubte für einen Augenblick leise Stimmen zu hören. Aber da war nichts. Keines der Kinder bewegte die Lippen und doch ... es wirkte als würden sie stumme Zwiesprache halten. Einen Dialog, von dem er ausgeschlossen war. Dann verging der Moment, Ritchie nickte, und Tom wandte sich an Martin.

»Vor ein paar Wochen gab es im Fernsehen die ersten Berichte über eine Art Supergrippe.«

Martin winkte Toms Worte ab.

»Das habe ich mitbekommen. Niemand wollte es zugeben, aber dieses Virus mutierte fröhlich weiter und war gegen alle Versuche es zu bekämpfen immun.«

Das Mikrofon fuhr vor Ritchies Hals.

»Ja. Und während die großen Anführer und Lobbyisten sich gegenseitig die Schuld in die Schuhe schoben, ging so richtig die Post ab«, schnarrte seine künstliche Stimme. »Paris, Genf, Zürich, München ... ist eine ziemlich lange Liste mit Totalverlusten geworden.«

Ein schiefes Grinsen verzerrte Ritchies Gesicht noch mehr. Martin vermutete, dass man so wurde, wenn man ständig von der Gnade anderer abhängig war. Trotzdem, einem Kind stand so viel Sarkasmus nicht zu, fand er. Er wandte sich wieder an Tom.

»Das weiß ich alles. Was mich interessiert, ist, was in der Zeit passiert ist, in der ich weg war.«

»Erst wurden die Leute einfach nur krank und starben. Dann kamen SIE«, antwortete Tom.

»SIE? Das sind die ... Knirscher, stimmts?«

Tom nickte. Für einen Augenblick kamen ihm die Worte von Declan Smith in den Sinn. Über die Gerüchte, dass die Toten der Seuche als Zombies wieder auferstehen würden. Aber das konnte nichts anderes sein als die typischen Anzeichen einer Massenhysterie. Martin schob den Gedanken beiseite. Panik und Hysterie waren ganz schlechte Ratgeber, wenn man in der Scheiße saß.

»Wie kam ich hierher?«

»Die Soldaten haben hier ein notdürftiges Krankenhaus eingerichtet. Wann du gekommen bist, weiß keiner von uns. Wir durften unsere Zimmer nicht mehr verlassen. Dann ging da oben plötzlich alles drunter und drüber. Die Soldaten und Ärzte haben sich gegenseitig angeschrien. Dann haben sie sich geprügelt. Einer der Soldaten hat uns hier unten versteckt. Oben wurde plötzlich geschossen und ...« Tom stockte. Martin konnte sich vorstellen, was in dem Jungen vorging. Schließlich holte Tom zitternd Luft und fuhr in seinem Bericht fort. »Wir warteten, bis es ruhiger wurde. Dann sind wir hoch. Kurt, Karl und ich haben dich gefunden. Du warst außer uns der letzte Lebende hier. Wir haben dann jeden Tag nach dir gesehen.«

Toms Lippen bildeten einen blutleeren Strich in seinem blassen Gesicht. Martin glaubte er wolle noch viel mehr sagen, aber der Junge schwieg. Martin versuchte irgendwie einen Sinn hinter den Schleier der vergangenen Tage zu bringen, die er bewusstlos in seinem Zimmer gelegen hatte. Die Kinder standen unter Schock. Kein Wunder, denn selbst für ihn war das Ausmaß dieser Katastrophe nicht endgültig erfassbar. Dann war da noch die Frage, warum man ihn hierhin verschleppt hatte.

Martin schaute seufzend auf. Hier würde er keine Antworten finden. Die Kinder beobachteten ihn schweigend und warteten. Er seufzte erneut und schüttelte den Kopf. Bisher hatten sie sich gut gehalten. Aber sie könnten nicht ewig hier unten hocken. Martin stand ächzend vom Boden auf und ging an den Tisch mit dem Funkgerät.

»Was hast du vor?«

Martin drehte sich um und sah einen der Zwillingsbrüder direkt hinter ihm stehen.

»Wir können nicht ewig hier unten hocken und hoffen, dass sich da oben alles von alleine klärt oder ein himmlischer Retter in unserer Mitte erscheint.«

Der Junge sah ihn zweifelnd an, sagte aber nichts mehr.

»Habt ihr eine bessere Idee?«

»Warum bist du nicht krank?«, schnarrte Ritchie.

»Bitte?«

»Hast du wirklich nichts mitbekommen? Hier war ein Spezialist der Armee. Ein Colonel der Einsatzkräfte, den alle mit Doc ansprachen obwohl er unter seinem Kittel eine Uniform trug. Er hat uns alle ständig untersuchen lassen. Wir bekamen dauernd Spritzen, wurden untersucht ... und dir hat er sogar eine richtige Dröhnung verabreichen lassen. Neben dem Zeug, was du sonst noch nimmst.«

Am liebsten hätte Martin dem verwachsenen Zwerg das Grinsen aus dem Gesicht gehämmert. Woher wussten die Kids von seinem ... speziellen Problem und der Lösung, die er dafür gefunden hatte? Martin beschloss Letzteres einfach im Raum stehen zu lassen. Besser keine schlafenden Hunde wecken. Er atmete tief durch.

»Wie kommst du denn darauf, das mir irgendwas gefährliches injiziert wurde? Ich denke, ihr durftet euer Zimmer nicht verlassen?«

Melanie, Gabis taubstumme Schwester, griff hinter sich und holte einen Injektionsbeutel hervor. Martin sah das Biohazard-Zeichen, das Behälter mit gefährlichen Viren oder Bakterien kennzeichnete.

»Das haben wir in deinem Zimmer gefunden«, sagte Tom. Seine Stimme klang kläglich. Martin schluckte und dachte an die Stimmen.

»Habt ihr das Zeug auch bekommen?«

»Ja.«

»Und? Seid ihr krank geworden?«

Die Kinder schüttelten den Kopf.

»Na also. Alles halb so schlimm. Oder? War bestimmt eines der Gegenmittel für die Seuche.«

Die Kinder sahen skeptisch drein. Für einen Moment fragte Martin sich, warum auch die angeblich Tauben ihn so gut zu verstehen schienen. War es so leicht, von den Lippen abzulesen, selbst wenn der Sprecher –

Eine Stimme aus den Lautsprechern der Funkanlage unterbrach seinen Gedankengang.

»Hier Einheit Sieben an Basis Bonn. Kommen.«

»Basis Bonn hört.«

»Einheit Sieben. Wir sind am ehemaligen Hauptquartier Köln. Das Gebäude ist voll von ihnen. Kein Zutritt möglich, wiederhole, kein Zutritt möglich. Wenn es dort Überlebende gibt, kommen wir nicht an sie heran und sie nicht zu uns.«

Während die Stimme von Einheit Sieben flüsterte, rauschte im Hintergrund wieder dieses verrückte Geräusch. Ein hundertfaches Mahlen und Knirschen, Rascheln und Nöhlen. Es klang, als wäre der Funker der Einheit in einen riesigen Ameisenbau geraten. Eine Gänsehaut lief Martin über den Rücken. Er drehte sich um und hastete an das Funkgerät.

»Einheit Sieben. Bitte wiederholen Sie.«

»Einheit Sieben hier. Ich wiederhole, das Gebäude ist voll mit ihnen. Wir können es nicht betreten. Es sind zu viele. Colonel Wright und seine Männer müssen als Totalverlust angesehen werden.«

»Verstanden, Einheit sieben. Bleiben Sie bedeckt und warten Sie auf weitere Befehle.«

Martin versuchte herauszufinden wo der verdammte Sendeknopf war. Er kannte nur die alten Anlagen, in denen man noch in ein Mikrofon mit Standfuß und Knopf sprach. Und was gab es hier? Ein gottverdammtes Headset aber nirgends einen Sendeknopf! Eine befehlsgewohnte Stimme erklang.

»Einheit Sieben, hier spricht Major Mainhardt im Auftrag von Général Dupont. Sofortiger Rückzug. Ich wiederhole: Sofortiger Rückzug. Die geplante Sterilisation des Bezirks dreiunddreißig beginnt in dreißig Minuten.«

»Sir?«

»Achten Sie auf den Mindestsicherheitsabstand von fünf Meilen.«

Feiner Schweiß perlte über Martins Oberlippe. General Dupont? Baguette und Gauloises? Geplante Sterilisation? Was wurde da gespielt? Was bedeutete das Wort Sterilisation, wenn ein General ... Ein Bild schob sich vor seine Gedanken. Ein Verdacht schwoll in ihm an. Mit zitternden Fingern griff er nach dem Headset. Wenn er die anderen hören konnte, würde man ihn doch auch empfangen, oder?

»Hallo? Hört mich jemand? Wir sind hier unten. Jemand muss uns rausholen. Hallo?«

»Hier Einheit Sieben. Befehl verstanden Sir. Wir ziehen uns zurück.«

Martin schlug mit der flachen Hand gegen das Funkgerät.

»Hallo? Verdammt, hört mich jemand?«

Nur das monotone Rauschen der leeren Frequenz antwortete ihm. Großflächige Sterilisation ... Was hatte dieser General vor? Martin wollte erneut um Hilfe funken, als es ihm wie Schuppen von den Augen fiel. Auf Martins Stirn brach kalter Schweiß aus. Wie säuberte man ein Gebiet, das mit Bakterien oder Viren verseucht war?

Mit Feuer.

Mit sehr viel Feuer.

Mit blassem Gesicht drehte er sich zu den Kindern um. Gabi wimmerte leise in den Armen ihrer Schwester. Karl, Kurt und Tom starrten sich mit bleichen Gesichtern an. Ritchie hatte sein Gesicht an die Decke des Gewölbes gewandt, als könnte er alleine Kraft seines Willens den Stein mit seinem Blick durchdringen. Langsam senkte er den Blick. Ein sarkastisches Grinsen verzerrte sein Gesicht.

»Leute. Ich glaube wir haben ein Problem.«

*

Martin und die Kinder hasteten durch einen der Gänge, die von dem unterirdischen Dom wegführten. Ritchie, der an der Spitze der Gruppe die Geschwindigkeit vorgab, spielte den Reiseführer.

»Wir sind hier unter der ehemaligen Toilettenanlage des Westflügels der Hochschule. Hier wurden früher die Abwässer abgeleitet. Je würziger also die Luft riecht, umso näher kommen wir an das Ende des alten Kacketunnels.«

Martin verzog in einer Mischung aus Schmerz und Abscheu das Gesicht. Konnte der neunmalkluge Zwerg da vorne nicht einmal die Klappe halten? Die Seitenstiche kehrten mit brutaler Gewalt zurück, und Martin stöhnte unterdrückt auf. Er zitterte am ganzen Körper. Seine Beine brannten, als würde er durch ein Meer aus brennendem Kerosin waten. Erschöpft blieb er stehen und stützte sich an einer der Wände ab. Tom leuchtete ihm mit einer der mitgenommenen Taschenlampen ins Gesicht.

»Alles in Ordnung?«

»Ich brauche eine Pause.«

»Wir sind gleich da.«

»Wohin führt der Weg?«

»Immer weiter geradeaus. Der Tunnel macht nur einen leichten Bogen.«

Martin nickte Tom zu.

»Dann geht vor. Ich komme nach.«

Tom blickte Martin zweifelnd an. Schließlich gab er ihm die schwere Maglite und rannte hinter seinen Freunden her, die schon ein ganzes Stück weiter gegangen waren. Martin lehnte sich schwer atmend mit dem Rücken gegen Wand.

Karins Gesicht schob sich vor sein geistiges Auge. Irgendwo in seinem Kopf erklang ihre spöttische Stimme. Martin Martinsen, Retter von Witwen und Waisen.

Ein heiseres Lachen floh aus seinem Mund. Bisher hatte er sich nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Es waren eher die Kinder, die ihn aus der Scheiße zogen. Wohin würden sie ihn führen? Was kam dann? Was sollte er mit einer Horde behinderter Kinder anfangen? Ritchie ging ihm schon jetzt tierisch auf die Nerven. Gabi war ganz offensichtlich nicht ganz klar in der Murmel, und auch der Rest der Truppe war nicht unbedingt seine erste Wahl an Gefährten, für eine Flucht durch unbekanntes Gebiet. Ein metallisches Kreischen und Toms Stimme holten Martin zurück in die Gegenwart.

»Martin?«

Was sollte er tun?

»Martin? Alles in Ordnung?«

Was, wenn er genau wie bei Karin, wieder versagen würde? Schritte kamen näher. Ein Lichtstrahl kam aus dem dunklen Ende des Tunnels auf ihn zu. Martin bemerkte, dass er unbewusst in Tränen ausgebrochen war. Schnell wischte er sie sich aus dem Gesicht und stellte fest, dass er auf dem Boden saß. Hastig richtete er sich auf und stieß sich fast den Kopf an der niedrigen Decke des Tunnels. Toms Gestalt wuchs aus dem Dunkel heraus.

»Martin?«

Seine Muskeln spannten sich. Er atmete tief durch.

»Ich bin hier.«

Seine Stimme zitterte. Aus dem Schatten wurde Tom.

»Alles okay, Martin? Die Tür ist auf. Wir müssen nur noch durch den Gerätekeller, dann können wir versuchen auf den Parkplatz zu gelangen.« Tom runzelte die Stirn und blickte Martin ins Gesicht. »Ist wirklich alles Okay mit dir?«

Martin nickte.

»Ich musste nur gerade an jemand besonderes denken.«

Tom blickte Martin fragend an.

»Meine Verlobte. Ist schon lange tot.« Martin zuckte mit den Schultern und deutete auf den vor ihnen liegenden Weg. »Komm jetzt. Die Zeit wird knapp.«

Tom drehte sich um und hastete zurück. Martin folgte ihm in den Tunnel. Und hoffte auf ein Licht an seinem Ende.

*

Kurze Zeit später starrte Martin auf die graue Metalltür, die den Gerätekeller des Internats vom Tunnel trennte. Die Tür wirkte nur leicht eingebeult. Aber das Schloss und die zugehörige Aussparung im Rahmen, hingen verbogen im grellen Licht der Taschenlampe. Sollten die Kinder gemeinsam soviel Kraft entwickelt haben? Aber wie hatten sie das Schloss derartig zerstören können? Das Knirschen war hier wieder intensiver geworden. Auf subtile Art erinnerte es Martin daran, dass sie nicht gerade ein Vermögen an Zeit auf ihrem Guthabenkonto hatten. Martin riss sich von dem merkwürdigen Anblick los. Vom anderen Ende des Kellers erklang Ritchies Stimme.

»Schön, dass ihr Turteltauben zu uns stoßen konntet.«

Martin beschloss bei nächster Gelegenheit dem Zwerg die Batterie für sein Mikro zu klauen. Er lief durch die Schatten der eingelagerten Geräte auf den Jungen im Rollstuhl zu. Von den anderen war nichts zu sehen und Martin sah auch schnell den Grund dafür.

₺182,61

Türler ve etiketler

Yaş sınırı:
0+
Litres'teki yayın tarihi:
22 aralık 2023
Hacim:
1497 s. 12 illüstrasyon
ISBN:
9783957771285
Sanatçı:
Yayıncı:
Telif hakkı:
Автор
İndirme biçimi:
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre