Kitabı oku: «Chronik von Eden», sayfa 9

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Kapitel II - Angenehm betäubt

Während der restlichen Fahrt schwieg Martin. Sein Denken und sein Fühlen waren in dichte Watte gepackt. Etwa so, als hätte ihm ein Zahnarzt die Doppelte Dosis Novokain direkt ins Gehirn injiziert. Das waren bei ihm die typischen Anzeichen dafür, dass er bald wieder etwas brauchte, um die Stimmen in seinem Kopf zu dämpfen. Die Intervalle wurden immer kürzer, wenn er unter Stress stand oder sich unter vielen Menschen befand. Martin tauchte erst aus seiner dumpfen Erstarrung auf, als der Laster anhielt und die Soldaten ihn und Declan Smith von der Ladefläche zogen. Erstaunt blickte er sich um.

Sie standen mitten auf den Jahnwiesen, unmittelbar vor dem Rheinenergie Stadion. Etwa ein Drittel der Rasenfläche diente als Start- und Landefläche für Hubschrauber. In unmittelbarer Nähe sah er eine bunte Mischung aus den verschiedensten Fahrzeugen. Militärische Jeeps und Laster, zwei Feuerwehrwagen, mindestens vier große Kühllaster, Einsatzfahrzeuge der Polizei und mittendrin die vollgepackten Familienkutschen von Menschen, die auf der Flucht vor der Seuche waren. Zwischen all den Autos hasteten Menschen umher. Dort wurde ein Wagen beladen, hier einer mit einer Handpumpe aufgetankt und daneben ein Motor mit farbenprächtigen Beschimpfungen dazu überredet, endlich anzuspringen. Über allem wehte ein undefinierbarer Gestank. Etwa so, wie Schweinefleisch riecht, wenn es zu lange auf dem Grill liegt.

Das Chaos hatte etwas von einem Rockfestival an sich. Aber da waren die Gesichter der Menschen. Hart, verschlossen und manch eines wirkte, als wären eben noch Tränen daran heruntergelaufen. Ein Soldat nahm Martin am Ellenbogen und zog ihn in die andere Richtung, einer behelfsmäßigen Zeltstadt entgegen.

Martin sah Kinder. Leise vor sich hin weinend oder mit erloschenem Blick in eine nicht fassbare Ferne starrend. Einige hielten ein kaputtes Spielzeug so fest in den kleinen Händen, als wäre es ein Anker in diesem Albtraum. Er sah ein Zelt, vor dem eine Gulaschkanone aufgebaut war. Nach dem zu urteilen, was der Koch den hungrigen Menschen auf die schmutzigen Teller klatschte, war es wohl nicht mehr, als heißes Wasser, das man an einer ordentlichen Portion Suppengrün und Gemüse vorbeigeschossen hatte. Ein alter Mann mit Anzug und Hut irrte suchend in den matschigen Gassen der Zeltstadt umher. Er fragte jeden in erreichbarer Nähe, ob denn niemand seine Vera gefunden hätte. Sie müsste ihre Medikamente nehmen, und ohne ihn wäre sie doch so hilflos. Ein Soldat packte den alten Mann grob an der Schulter und zog ihn weg, bevor er Martin erreichen konnte. Eine Nonne kam mit abschätzigem Blick den matschigen Weg auf ihn zu. Sie musterte erst Martin und dann Declan.

»Welche Blutgruppe haben Sie?«, fragte die Nonne Martin.

»Ich wollte nur meine Verlobte hier abgeben. Sie ...«

»Welche Blutgruppe haben Sie?«, fiel ihm die Nonne ins Wort. »Wir haben einen akuten Notstand an Blutkonserven. Also?«

»Null negativ.«

»Sehr gut.«

»Hören Sie ...«

Die Nonne nickte. Martin hörte hinter sich ein metallisches Knacken. Er drehte sich langsam um. Der Soldat hatte sein Gewehr auf ihn angelegt. Declan starrte mit blassem Gesicht und großen Augen auf das Schauspiel. Martin kniff die Lippen zusammen. Der Prophet, den sie auf dem Weg hierher gesehen hatten, kam ihm in den Sinn. Der Soldat winkte mit dem Lauf des Gewehrs und Martin ging in die angegebene Richtung. Hinter sich hörte er die Nonne Declan die gleiche Frage stellen.

»Und welche Blutgruppe haben Sie?«

Karins Leiche sah er nie mehr.

*

Zwei Stunden später saß Martin auf einem notdürftig aufgestellten Bett. Man hatte ihn in ein Zimmer gebracht, das zum ehemaligen VIP-Bereich des Stadions gehörte. Eine breite Fensterfront bot ihm einen Ausblick auf das Notlager. Von hier aus konnte er den Rauch des Leichenfeuers sehen. Ob Karin schon ...

Er verdrängte den Gedanken. Er griff in seine Hosentasche und fingerte seinen Verlobungsring hervor. Gedankenverloren drehte er ihn in den Fingern. Sein Blick fiel auf die Innenseiten seiner Arme.

»Du siehst aus wie ein typischer Junkie«, murmelte er. Hier eine Ampulle Blut, dort eine Injektion. Und dann die Fragen. Endlose Fragen, die ihn einfach nur ermüdeten, weil sie nach einer Weile alle gleich klangen. Nur die Gesichter hatten ständig gewechselt.

Wie alt sind Sie?

Welche Krankheiten hatten Sie bisher?

Kinderkrankheiten?

Erbkrankheiten?

Welche Krankheiten hatten Ihre Eltern?

Ihre Großeltern?

Er hatte die ganze Zeit darauf gewartet, dass ihn endlich jemand zu dem Blutspendezelt des Roten Kreuzes brachte. Aber je länger er hin und her geschoben wurde, je mehr Fragen und Nadeln und Untersuchungen auf ihn eingestürmt waren, umso weniger hatte er noch daran geglaubt, dass er jemals dieses Zelt von innen sehen würde. Auf seine schwachen Fragen, was denn jetzt los sei und was mit ihm geschehen würde, hatte man ihm keine Antwort gegeben. Nur die Blicke, die man ihm zugeworfen hatte, die waren merkwürdig gewesen. Die Ärzte und Schwestern hatten ihn gemustert, wie man ein besonders seltenes Insekt unter dem Mikroskop betrachten mochte. Statt einem Soldaten, der ihn zum Untersuchungszelt gebracht hatte, hatte er plötzlich drei bewaffnete Begleiter bekommen. Alle trugen ABC-Schutzmasken, so dass er sie nicht unterscheiden konnte. Aber Martin hatte ihnen im Geiste die Namen Tick, Trick und Track gegeben. Karin hätte zu dieser Namensgebung bestimmt wieder etwas sagen können. Von wegen Kindsköpfigkeit und so. Aber Karin ... war nicht mehr da.

Martin ignorierte den Schmerz, der sich wie ein Eisenring um seine Brust legte. Er verdrängte jeden Gedanken an sie.

Besser so.

Sonst würde er vielleicht weinend zusammenbrechen, sich auf dem Bett zusammenkrümmen, wie ein Kind mit schlimmen Bauchschmerzen. So ein Bild des Elends wollte er niemandem bieten. Herrgottnochmal, er war ein Mann. Zeit, sich endlich wie ein solcher zu benehmen. Er holte mehrmals tief Luft. Seine Hand ballte sich um den Ring zur Faust. Der Affe in seinem Nacken kam zurück. Und er hatte seinen Bruder mitgebracht. Unruhig wippte Martin mit den Füßen, zitterte und begann zu schwitzen, als das Murmeln und Summen in seinem Kopf wieder zunahm.

Martin würde so gerne Zippeln und zappeln, sich kratzen und streicheln, seine Finger fingern und seine Knöchel knöcheln lassen ... Um sich abzulenken rief er sich noch einmal das Bild der drei Soldaten in Erinnerung.

Tick hatte in seinem Schutzanzug wie ein zu klein geratenes Michelin-Männchen gewirkt. Er war auch der aggressivste der Gruppe gewesen und hatte an der Spitze der kleinen Prozession von seinem Gewehrkolben reichlich Gebrauch gemacht, um Platz zu schaffen. Trick und Track hatten auf ihn wie zwei Kleiderschränke gewirkt, die man für die Wintermonate im Sommerhaus mit einer Plastikplane abgedeckt hatte. Die beiden hatten auch vor der Tür seines Zimmers Posten bezogen. Ob sie immer noch dort standen? Martin seufzte und beschloss es nicht auszukundschaften. Ihm war nicht nach Streit zumute. Sollten sie doch mit ihm machen, was sie wollten. Ihm egal. Karin war tot, was kümmerte es ihn, wenn der Rest der Scheißwelt vor die Hunde ging.

Der Affe in seinem Nacken rüttelte ihn für einen kurzen Moment besonders heftig durch.

Nur ein kleiner Sniff, das wäre doch machbar, oder?

Die Tür ging auf. Martin sah zwei Männer hereinkommen. Beide trugen nur Gesichtsmasken, aber keine Schutzanzüge. Einer trug einen weißen Kittel, der andere eine Uniform mit unzähligen Ordensspangen auf der Brust. Seine Augen waren rotgerändert, so als hätte er vor kurzem noch geweint. Hinter den beiden kamen Trick und Track in den Raum. Der Weißkittel stellte sich neben Martin an das Bett, als wolle er das Ergebnis jahrelanger Forschung präsentieren. Der Uniformierte mit den roten Augen musterte Martin mit unverhohlener Neugier. Seine Augen funkelten kalt. Trick und Track flankierten den Uniformierten.

Einige Augenblicke vergingen schweigend. Martin wollte gerade zu einer Frage ansetzen, als Uniform sich an den Arzt wandte.

»Ist er das?«

Ein leichter Akzent, in dem für Martins Empfinden ein Hauch Baguette und Gauloises mitschwang. Belgier? Franzose?

»Ja, mon Général. Er scheint absolut immun zu sein. Alle Tests verliefen negativ.«

Martin runzelte die Stirn. Was wurde hier gespielt? War also doch etwas an den Gerüchten, dass die NATO inzwischen das militärische Oberkommando über Köln übernommen hatte? Uniform nickte und etwas stach Martin in den Arm. Er zuckte heftig zurück. Weißkittel kannte keine Gnade und drückte ihm irgendeine klare Flüssigkeit in den Muskel seines Oberarms.

»Autsch! Verdammt was soll ...«

Martins Zunge wurde schwer. Das Zimmer verzerrte sich und die Wirklichkeit schlug Wellen. Seine Kopf summte. Er drehte sich zu dem Arzt um.

»Was hamse mirda geschpritzt?«, nuschelte Martin. Die Silben purzelten haltlos aus seinem Mund. Sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Uniform wandte sich an Trick und Track.

»Bringt ihn weg. Vielleicht ist er ein Ansatz für die Lösung.«

Die Lösung? Für was sollte er die ...

Der Gedanke ertrank, bevor Martin ihn vollenden konnte. Das Bettlaken fiel ihm entgegen. Dann kam die Dunkelheit.

Kapitel III - Erwachen

Die Welt war zeitlose Schwärze. Langsam wuchsen Geräusche und Stimmen aus dem Nichts.

»Immer noch keine Reaktion?«

Eine verschwommene Gestalt zeichnete sich hell aus dem Nichts heraus ab.

»Nein Sir. Wir haben ihm sogar eine doppelte Dosis intravenös verabreicht. Sein Immunsystem spült alle Erreger sofort wieder aus.«

Die Gestalt sah aus wie ein Astronaut.

»Wie kann das sein? Ab sofort ist dieser Mann wie ein Patient Null zu behandeln. Halten Sie ihn ruhig. Vielleicht ist er die Lösung.«

Ein Stich in den Arm.

Dann wieder zeitlose Dunkelheit.

In der Dunkelheit eine Gestalt, heller als tausend Sonnen und doch nicht blendend, heißer als es ein Mensch ertragen konnte und doch nicht verbrennend. In die zeitlose Dunkelheit kam das Gefühl von Frieden und Liebe.

Und damit die vage Ahnung einer Aufgabe.

Nach einer nicht messbaren Zeitspanne schwamm das Bewusstsein erneut an die Grenze zum Licht. Ein Name tauchte aus dem Nichts auf.

Martin.

Mit dem Namen kamen Schmerzen. Druck auf der Brust, der das Atmen erschwerte. Ein brennendes Stechen im Arm. In der Schwärze hinter seinen Lidern ein Piepsen. Ein gleichmäßiges, elektronisches Geräusch, das mit entnervender Gleichgültigkeit in sein Bewusstsein tropfte. Die Stimmen murmelten unverständliche Worte. Dann verstummten sie. Martin öffnete die Augen und blickte verständnislos umher.

Wo war er?

Das gelbliche Licht eines späten Nachmittags flutete ins Zimmer, stach mit heißen Nadeln in seinen Augen. Mit einem leisen Stöhnen kniff er sie zusammen. Vorsichtig wandte er den Kopf. Stille hinter dem Metronom des Piepens.

Ein Krankenhausbett?

Seine trockene Zunge fuhr über die Lippen. Sie fühlten sich wie zwei taube Wülste in seinem Gesicht an. Langsam öffnete er die Augen ein kleines Stück. In seinen Armen steckten Infusionsnadeln. Über seiner Brust lag ein umgekippter Galgenständer. Mühsam verfolgte er mit seinem Blick einen Schlauch, der aus seinem Arm wuchs. Ein Gefühl, als müsste er sich wie ein antiker Held einen Weg aus einem Labyrinth suchen. Seinen eigenen Weg zurück in die Realität.

Er sah neben dem Bett einen Monitor und einen weiteren Galgenständer mit einer Infusionsflasche. Ein Blick auf die Flasche. Leer und zerknüllt wie eine Coladose am Haken.

Okay, du liegst in einem Krankenhaus, dachte Martin. Wie zum Teufel bist du hierhin geraten? Ich war doch eben noch im Stadion, wo ...

Er schloss die Augen, als die Bilder der Erinnerung auf ihn einstürmten.

Karin, das Feuer, Baguette und Gauloises ... der Stich in den Arm.

Langsam erwachte Martin endgültig aus dem Dämmerzustand. Ein Gefühl wie durch ein Meer aus Watte zu schwimmen. Er öffnete seine Augen erneut, diesmal vorsichtiger, und blickte sich um. Stumpfes Licht fiel in sein Zimmer. Ein Einzelzimmer, während draußen die Menschen in Massen starben? Über das Piepsen des Monitors hinweg bemerkte er etwas Ungewöhnliches.

Ruhe.

Nicht nur Ruhe, sondern das absolute Fehlen jeden Geräuschs. Selbst in einem ländlichen Krankenhaus würde man die üblichen Geräusche hören.

Nichts.

Absolutes Nichts.

Keine Autos draußen, keine Schritte auf dem Flur. Kein Türenknallen, keine Lautsprecherdurchsagen, die nach irgendeinem Doktor riefen ... die Welt begrüßte Martin mit eisigem Schweigen. Ächzend hob er den Kopf und stützte sich auf die Ellenbogen. Einer der Galgenständer fiel laut scheppernd zu Boden. Martin verzog das Gesicht und kniff die Augen zu. Er holte tief Luft, um das Summen im Kopf unter Kontrolle zu bekommen.

Zu viel Anstrengung, alter Junge. Gehs langsamer an.

Martin lächelte müde. Mit Hilfe des dreieckigen Plastikgriffs über dem Bett setzte er sich ganz auf. Schweißgebadet hielt er einen Moment inne. Außer dem Echo des Herzschlags in seinen Ohren hörte er nichts. In seinem Kopf hämmerte es furchtbar. Was war das hier für ein Laden? Martin fand den Rufknopf für die Schwester. Ein Griff, ein Druck mit dem Daumen, und im Schwesternzimmer würde jetzt eine rote Lampe blinken und allen mitteilen, dass Martin wieder unter den Lebenden weilte.

Soweit die Theorie.

Nichts tat sich.

»Hallo?«

Seine Stimme war ein heiseres Krächzen. Ein schmerzhaftes Schlucken.

»Hallooho?«

Der einsame Ruf verblutete in der Stille. Martin saß in seinem Bett und hypnotisierte die Tür. Der gleichgültige Gesang des Monitors hallte durch die Stille.

Keine Schritte.

Keine Stimmen.

Keine Autos ... und draußen dämmerte der Morgen.

*

Martin vergaß die Zeit und erst als seine Pobacken einschliefen, kam wieder Leben in ihn. Mit einer fahrigen Geste griff er an seine Arme und zog die inzwischen nutzlosen Infusionsnadeln heraus. Dann waren die Pflaster an der Reihe, die die Elektroden an seine Brust klebten. Der Monitor bekam eine Herzattacke und pfiff wie ein heiserer Dampfkessel. Jetzt würde man im Schwesternzimmer aber bestimmt Alarm schlagen.

Zehn Minuten später war immer noch niemand da, um nach dem Rechten zu sehen. Aus dem mulmigen Gefühl in Martins Bauchhöhle wurde langsam ein Eisklumpen. Wer hatte ihn aus welchen Gründen hierhin verschleppt? Vorsichtig schwang er die Beine aus dem Bett und wankte ans Waschbecken.

Wasser! Schnell, viel und kalt.

Sein Körper schrie nach Flüssigkeit. Der Wasserhahn röchelte und ein Strahl dunkelbrauner Brühe schoss hervor, der nur langsam klarer wurde. Martin fragte sich, wie lange es her war, dass hier jemand den Wasserhahn benutzt hatte. Ein oder zwei Tage reichten normalerweise, damit die Leitungen sich mit Rost belegten. Sollte so lange niemand nach ihm gesehen haben?

Nachdem er seinen Durst gestillt hatte, wagte er einen Rundblick durch sein Zimmer. Nach einem normalen Krankenzimmer sah es nicht aus. Sein Bett, der Monitor ... alles wirkte auf Martin wie notdürftig aufgestellt. Und über allem diese nervtötende Stille. Sein Blick schwankte zwischen Fenster und Tür hin und her. Er entschied sich für das Fenster. Bei jedem schlurfenden Schritt schwappte es gefährlich in seinem Bauch und seiner Blase. Ein unangenehmes Gefühl, jedoch nichts im Vergleich zu dem, das ihn überrollte, als er aus dem Fenster blickte.

Ein schiefergrauer Himmel, auf dem die Wolken wie dicke, nasse Wäschebündel lagen. Darunter im Zwielicht ein Grünstreifen, hinter dem sich im Dämmerlicht die Umrisse der Kölner Innenstadt als noch dunklere Scherenschnitte abhoben. Vereinzelt sah Martin den hellen Schein ungezügelter Feuer. Das musste auf der anderen Rheinseite sein. Über den verwaisten Parkplatz unter seinem Fenster segelte ein Blatt Papier im Wind. Niemand bereitete die Aufnahme unzähliger Notfälle vor. Im Gegenteil. Aus einem der abgestellten Krankenwagen baumelten zwei Füße mit weißen Socken und billigen Turnschuhen. Blass, und mit ängstlich aufgerissenen Augen, wankte Martin zur Tür.

Drei Schritte und einige ungläubige Momente später plumpste er kraftlos auf das Bett.

Die Tür zu seinem Zimmer war abgeschlossen.

*

Die Erschöpfung hatte Martin trotz seines bohrenden Hungergefühls erneut einschlafen lassen. Dazu kam eine ordentliche Prise Nasenzucker aus seinem Jackenvorrat, der sich bedenklich dem Ende näherte.

Als er die Augen öffnete, lag er eingerollt wie ein Embryo auf den zerwühlten Bettlaken. Seine Augen waren verklebt, er fühlte sich schwach und zittrig. Draußen war es heller geworden. Das Pochen zwischen seinen Schläfen war zu einem beständigen Begleiter geworden, der im Rhythmus seines Herzschlags den Takt eines unhörbaren Lieds vorgab. Vorsichtig setzte er sich auf und schaute sich um. Alles unverändert. Sein Gesicht verzog sich. Wütend griff er hinter den Monitor und riss das Stromkabel aus der Wand.

»Schickt mir ruhig die Rechnung«, flüsterte er in die Stille.

Keine Antwort.

»Wenn ich mit euch fertig bin, ist das da nur noch ...«, er deutete hilflos auf das Kabel in seiner Hand. Sein Atem wurde schneller und seine Hände begannen zu zittern. Schließlich brüllte er mit aller verbliebenen Kraft in das Schweigen der Welt.

»DANN IST DAS HIER NUR EINE LAPPALIE! HÖRT IHR?«

Seine Stimme brach, wurde zum heiseren Flüstern eines verängstigten Kindes. Tränen brannten heiß in seinen Augen.

»Gottverdammt noch mal, was ist hier los?«

Sein Hals tat weh von der ungewohnten Anstrengung. Das Piepen des toten Monitors hallte als totes Echo in seinen Ohren nach. Die Stille sprang ihn an wie ein wildes Tier. Martin stand auf und ging an das Fenster. Er versuchte auf dem Parkplatz etwas zu erkennen.

Alles unverändert.

Der Schein der Feuer, der Ambulanzwagen mit offenen Türen stand immer noch am selben Fleck, und die weißen Socken mit den billigen Turnschuhen hatten sich nicht bewegt. Die Angst wollte nicht weichen, setzte sich in seinem Denken fest.

Hatte die Seuche die Menschheit ausgerottet?

War dass das Ende der Welt?

Unmöglich!

Informationen.

Er brauchte Informationen, um sich ein Bild der Lage zu machen. Fernsehen? Radio? Fehlanzeige. Im Zimmer gab es weder das eine noch das andere. Martin ballte die Fäuste und starrte zur Tür. Massives Holz, ein einfaches Schloss. Martin holte tief Luft und ging zur Tür. Mit beiden Fäusten und laut brüllend veranstaltete er einen Lärm, der Tote aufgeweckt hätte.

Martin hätte später nicht mehr sagen können, wie lange dieser Anfall von Jähzorn gedauert hatte. In Schweiß gebadet und mit zitternden Muskeln rutschte er an der Tür herunter und setzte sich auf den kalten Boden.

Raus! Ich muss hier raus!

Ein alles beherrschender Gedanke, der wie ein monotones Mantra immer wieder durch sein Denken hallte. Er blickte zum Fenster.

»Ihr habt mich eingesperrt?«, flüsterte er. »Okay, dann eben anders.«

Mühsam richtete er sich auf und wankte zum Schrank. Erst mal anziehen und seine Vorräte an Nasenzucker checken. Ein kleiner Sniff konnte nicht schaden. Selbst wenn dies hier nur ein verrückter Albtraum war, musste er sich nicht unbedingt halb nackt und mit einem beginnenden Turkey am Fenster zeigen. Außerdem war es inzwischen empfindlich kalt geworden. Mühsam streifte er anschließend seine Kleidung über. Der intensive Geruch der Feuer zog durch das geöffnete Fenster ins Zimmer. Martin hörte nichts. Keine Autos, keine Vögel. Die Welt hüllte sich in Schweigen. Eine stumme Botschaft, die er nicht verstand. Aus dem Fenster neben seinem Zimmer wehte ein weißer Vorhang mit einem merkwürdigen, braunen Sprenkelmuster. Die Turnschuhe baumelten immer noch aus dem Rettungswagen. Knapp eine Beinlänge unter dem Fenster zog sich ein schmales Sims an der Wand entlang. Ob seine Füße darauf Platz finden würden? Zumindest die vorderen Fußballen, schätzte er. Die Entfernung zum Nachbarfenster erschien ihm nicht zu groß, und sein Zimmer lag im zweiten Stock. Verlockend breite Fugen zwischen den Platten der Außenwand gaben den Ausschlag. Ein letzter Blick ins Zimmer. Er würde nichts Wichtiges zurücklassen. Beherzt schwang er ein Bein aus dem Fenster und machte sich auf den Weg ins Nachbarzimmer.

*

Martin verfluchte sich, seinen Leichtsinn und das unsichtbare Personal dieses Irrenhauses. Verkrampft hing er zwischen den Fenstern. Seine Finger klammerten sich in die schmalen Fugen zwischen den Platten der Außenwand. Seine Beine zitterten, da sein ganzes Gewicht auf den vorderen Fußballen lastete. Seine Waden verkrampften sich schmerzhaft.

Welcher Teufel hatte ihn da geritten? Er wusste nicht, wie lange er ohne feste Nahrung in seinem Zimmer gelegen hatte, als er zum ersten Mal erwacht war. Und da fiel ihm nichts Besseres ein, als an einer Häuserwand zwischen zwei Zimmern entlang zu klettern? Schweiß lief ihm in die Augen. Seine Beine summten unter der Anstrengung wie zwei Hochspannungsleitungen unter Volllast, und der Wind kühlte seine ohnehin geschwächten Muskeln noch weiter aus. Er hing zwischen den Fenstern. Von beiden Öffnungen etwa eine handbreit entfernt. Er sah zwei Möglichkeiten.

Erstens: Zurück ins Zimmer.

Nichts zu Essen, keine Informationen und eine verschlossene Tür.

Keine gute Wahl.

Zweitens: Er konnte versuchen, sich weiter in Richtung Nachbarzimmer zu hangeln und dabei riskieren abzustürzen.

Karins spöttisch lächelndes Gesicht schob sich vor sein Denken.

»Verschwinde. Du bist tot. Ich kann dich jetzt nicht brauchen«, murmelte er der rauen Fassade zu. Es half. Karin verschwand. Er biss die Zähne zusammen und schob seine Füße ein Stück weiter in Richtung Nachbarfenster. Noch ein Schritt, und er müsste die Finger der rechten Hand von der Wand lösen.

Einen Moment noch, oh Gott bitte nur diesen einen Moment.

Die Angst vor einem Sturz griff mit einer klammen Hand nach seinen Eingeweiden. Der Klammergriff der Rechten löste sich von der Wand, die Fingerkuppen schmirgelten über die raue Haut der Fassade. Martin schob seine Füße weiter nach links und zog gleichzeitig mit seiner linken Hand. Ihr Griff lockerte sich. Jetzt stand er bäuchlings an die Wand gepresst, die Füße eng beisammen auf dem schmalen Sims. Seine Rechte hing nutzlos an der Wand runter. Ein vorsichtiger und tiefer Atemzug und Martin löste den verzweifelten Griff seiner linken Hand, sein Arm schnellte nach links, seine Finger suchten verzweifelt nach dem Fensterrahmen. Ein Windstoß schob sich sanft zwischen Bauch und Wand und riss ein panisches Stöhnen mit sich. Krampfhaft versuchte Martin das Gleichgewicht zu behalten und seine Finger griffen nach einem Halt.

Endlich.

Seine Finger klammerten sich fest an das kalte Metall. Langsam schob er sich weiter in Richtung Nachbarzimmer.

Einen Moment ausruhen.

Seine Stirn lag an der Wand. Der intensive Geruch der Feuer wehte um sein Gesicht. Aber ein anderes Aroma, viel stärker und ekelhaft süßlich, lag nun deutlich in der Luft. Darum würde er sich später kümmern. Jetzt hieß es weitermachen, bevor er kurz vor dem Ziel seiner Träume doch noch auf den Asphalt stürzte. Martin drehte den Kopf vorsichtig nach links. Der Vorhang mit seinem seltsamen Sprenkelmuster wehte wie ein Segel nach draußen.

Auf den musste er aufpassen. Wenn der ihm im falschen Moment die Sicht nahm und er sein Gleichgewicht verlieren würde ...

Martin wollte diesen speziellen Gedankengang nicht weiterverfolgen. Er schob seinen Körper noch dichter an das offene Fenster. Dann war er so nah, dass er es riskieren konnte, sein linkes Bein zaghaft über die Brüstung zu heben und sich rittlings auf den Rahmen zu setzen. Schließlich plumpste Martin auf den Boden des Nachbarzimmers und blieb mit vor Erschöpfung zitternden Gliedern auf dem Rücken liegen. Die Fenster der Zimmer gingen alle nach innen auf. Darüber hatte er nicht nachgedacht! Ein falscher Luftzug, und das zufallende Fenster hätte ihm die Finger abgehackt. Egal, er war drinnen und alles andere zählte jetzt nicht mehr.

Martin betrachtete das Muster des Vorhangs genauer. Etwas an diesem Bild alarmierte ihn. Er erkannte dieses Muster, und der merkwürdige Geruch, draußen schwach und vom Rauchgeruch überlagert, lag hier schwer und deutlich in der Luft. Immer noch auf dem Rücken liegend drehte er den Kopf nach rechts ... und starrte in den Schädel einer Krankenschwester.

*

Saures Wasser kam in harten Stößen aus seinem Magen. Martin keuchte zwischen den Krämpfen nach Luft. Sein Bauch schmerzte und seine Knie schrien. Als das Würgen endlich nachließ, besah er sich das Zimmer und die Tote genauer.

Martin glaubte, in den getrockneten Resten ihrer offenen Schädeldecke blonde Haare zu erkennen. Ihre Augen waren im Tod weit aufgerissen. Das Zimmer hier sah genauso aus wie seines nebenan. Blassgrüne Wände, jede Menge medizinische Apparate. Er hob den Blick, sah auf das Bett und entdeckte eine weitere Leiche. Diesmal ein Mann. Zahllose Kabel führten von medizinischen Geräten zu seinem Körper. Die behaarten Unterarme lagen in einer Schutzgeste auf dem Gesicht des Toten. Hemd und Bettdecke waren voller Blut und zerfetzt. Vielleicht hatte er aufspringen und sich in Sicherheit bringen wollen, als sein Mörder in das Zimmer gestürmt war. Der Monitor neben dem Bett war ein Trümmerhaufen.

Was für ein Massaker! Aber warum das Ganze?

Martin versuchte, alles in einen erklärbaren Zusammenhang zu bringen. Kopfschüttelnd rappelte er sich auf. Wie lange, und vor allem wie tief, mochte er weg gewesen sein, dass er nichts hiervon mitbekommen hatte? Wieso war niemand bei ihm vorbeigekommen, um ihn ebenfalls zu erschießen? Was um Himmels Willen war hier passiert? Er stand auf und ging an das Bett. Irgendetwas an dem Toten kam ihm bekannt vor. Als Martin am Kopfende des Bettes ankam, wusste er warum.

Declan Smith.

Freier Handelsvertreter für Gentronics Pharmaka.

Martin schluckte trocken und wandte sich ab. Sein Blick fiel auf die Hand der toten Krankenschwester. Sie hielt im Tod etwas krampfhaft fest. Mit knackenden Knien ging Martin in die Hocke, öffnete ihre steifen Finger und sah, was ihre Hand im Tod beschützte. Er schluckte das heiße Brennen in seinem Hals herunter. Das ging. Nur die Tränen konnte er nicht zurückhalten.

In ihrer Hand lag ein großer Schlüsselbund.

Martin erwachte aus der Erstarrung und schloss der Toten die Augen. Den Schlüsselbund nahm er an sich. Die Tür zum Zimmer hing halb aus den Angeln. Martin kannte diese Spuren. Einer seiner Pflegeväter war geübt darin gewesen, Türen aufzutreten. Seine Pflegemutter hatte sich oft genug vor ihm in Sicherheit bringen müssen, wenn er Einen oder Zwei über den Durst getrunken hatte.

Sein Blick glitt in den Flur hinaus. Ein Fleisch gewordenes Gemälde von Hieronymus Bosch erwartete ihn hier. Ärzte, Pfleger, Schwestern und Patienten lagen mit verdrehten Gliedmaßen auf dem grünen Linoleum des Bodens. Die Wände waren mit Einschusslöchern übersät und über allem lag das unverwechselbare Parfüm des Todes. Drei Schritte entfernt lag ein Uniformierter. Martin blinzelte verwirrt. Trug der nicht einen Schutzanzug? Merkwürdig nur, dass der Tote keine Maske angelegt hatte. Auf jeden Fall hielt er eine Waffe in der Hand und hatte Ersatzmagazine an seinem Gürtel. Was immer hier passiert war, eine Waffe war in einer Situation wie dieser ein Geschenk Gottes. Martin ging vorsichtig zu der Leiche. Um den Gurt der Waffe zu lösen musste er den Toten drehen. Ein Blick den Flur hinauf und hinab. Niemand zu sehen oder zu hören. Martin fasste die Leiche unter den Schultern, wuchtete sie ächzend an ... und ein jodelndes Stöhnen aus dem Mund des Toten zerriss die Stille.

Martin schrie erschrocken auf, robbte auf dem Hintern rückwärts von der Leiche weg. Sein Herzschlag raste, feiner Schweiß stand auf seiner Stirn und seine Arme zitterten. Die Leiche blieb ruhig liegen. Martin erinnerte sich, irgendwann ein Gerücht aufgeschnappt zu haben das besagte, dass ein Toter, der lange genug liegt, in seinen Därmen jede Menge Gase sammelt. Diese Gase kommen nicht an der erschlafften Zunge vorbei, die wie eine Sperre im Hals eines Toten liegt. Bewegt man eine Leiche, liegt es im Bereich des Möglichen, dass sich diese Gase lautstark ihren Weg nah draußen suchen.

Martin beobachtete den Toten genau.

Hatte er sich nicht gerade bewegt, war da nicht so ein beinahe unmerkliches Zucken der Finger zu sehen gewesen?

Martin atmete tief durch. Seine Angst hatte ihm einen Streich gespielt. Der Tote lag regungslos auf dem Boden vor ihm, wie es sich für einen anständigen Leichnam gehörte. Vorsichtig kroch er zurück zu dem reglos daliegenden Körper, jederzeit bereit, aufzuspringen und abzuhauen, sollte der Tote vielleicht doch auf die Idee kommen, nachzusehen, wer da seine Ruhe störte. Mit zitternden Fingern nahm Martin alles an sich, was ihm brauchbar erschien. Die Waffe, die Magazine und in einer Tasche des Toten fand er einen Schokoriegel. Heißhungrig riss Martin das Papier von diesem Riegel göttlichen Ambrosia. Ein lustvolles Stöhnen quetschte sich zwischen seinen kauenden Zähnen hindurch. Die Schokolade machte Martin auf das laute Grummeln in seinem Bauch aufmerksam. Gierig durchsuchte er die anderen Taschen des Toten und fand nichts mehr. Dann sah er zwei Schritte entfernt eine Dose Cola liegen. Auf allen Vieren robbte er auf den glänzenden Schatz zu. Ein Griff, ein Zischen und Martin erlebte eine ungeahnte Reanimation seiner Geschmacksnerven. Noch nie hatte etwas so gut geschmeckt, wie diese billige, warme Limonade. Die süße und klebrige Flüssigkeit rauschte durch seinen Hals und ein schmales Rinnsal lief an seinem Bart herunter. Martin setzte die Dose erst ab, als nichts mehr herauskam. Schwankend kniete er auf dem Boden. Das Grummeln in seinem Bauch wurde lauter und lauter. Martin riss die Augen auf. Seine Wangen blähten sich und ein lautstarkes Rülpsen donnerte über den Flur der Toten. Martin ließ sich vornüber auf seine Hände fallen. Nur für den Fall, das sein Magen die ungewohnte Ladung per Expresslift zurückschicken würde.

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Yaş sınırı:
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Litres'teki yayın tarihi:
22 aralık 2023
Hacim:
1497 s. 12 illüstrasyon
ISBN:
9783957771285
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