Kitabı oku: «Chronik von Eden», sayfa 11
Ritchie stand mit seinem schweren Gefährt vor einer in die Wand eingelassenen Eisenleiter. Martin schaute hoch und sah im Licht seiner Taschenlampe, dass sie in einem senkrechten Schacht nach oben führte. Verwundert schaute er zu Ritchie.
»Für mich ist hier Endstation«, schnarrte die Stimme des Jungen.
»Gibt es keinen anderen Weg?«
»Nein«, warf Tom ein. »Der Schacht führt direkt zu einem Parkplatz. Dort steht noch unser Schulbus, mit dem wir hierher gebracht wurden. Der einzige andere Weg ist der alte Lastenaufzug dort drüben. Aber der führt direkt ins Auditorium.«
Das Geräusch, dass laut Tom von den Knirschern ausging, hallte nervenaufreibend den Schacht herunter.
Also gut.
Keine Fahrt im Aufzug.
Martin schluckte und sah sich suchend um. Hier musste es doch etwas geben, das er für seine Zwecke nutzen konnte. An der Wand stand eine Bühnendekoration, auf die ein Wald gemalt war. Davor standen mehrere schwere Geräte, die Martin unter ihren staubigen Planen nicht erkennen konnte. Unter einer der Planen schaute ein langes Stromkabel hervor. Martin wandte sich an Tom.
»Wo steht der Bus?«
»Was hast du vor?«
»Wo steht der Bus?«, wiederholte Martin seine Frage.
»Wenn du oben ankommst, musst du dich nach links halten. Direkt auf einen Blumenkübel zu. Dahinter beginnt der eigentliche Parkplatz. An der Ecke des Gebäudes steht der Bus. Jedenfalls, wenn die Soldaten ihn nicht weggefahren haben.«
Martin drückte Tom die Taschenlampe in die Hand.
»Schaffst du die Leiter?«
»Ich habe zwar nur einen gesunden Arm, aber ja. Ich schaffe das.«
»Gut. Du gehst vor und sagst den anderen Bescheid. Wenn ich in zehn Minuten nicht da bin, versucht irgendwie von hier wegzukommen. Haltet euch nicht damit auf, den Bus zu starten, sondern lauft.«
»Martin. Was hast du vor?«
»Ja. Das würde ich auch gerne wissen«, schnarrte Ritchie. Martin deutete auf Ritchie.
»Du bist ruhig. Und du«, er zeigte auf Tom. »Du machst dich jetzt auf den Weg. Die Zeit rast. Lauft um euer Leben. Weg von der Innenstadt. Schaut nicht zurück. Wenn ihr irgendwo einen Unterschlupf findet, den ihr richtig dicht machen könnt, dann versteckt euch dort. Aber keine Holzscheune. Hörst du? Es muss ein Gebäude aus Stein sein, dass weit genug weg ist. Und haltet euch von den Fenstern fern.«
Martin ging zu der Ecke, in der das Kabel lag.
»Martin?«
»Was ist? Todessehnsucht?«
Er sah wie Tom Luft holte und zum Reden ansetzte. Aber dann sanken seine Schultern herab und er umarmte Ritchie. Ein letzter Blick zu Martin und er klemmte sich die schwere Taschenlampe in seinen Hosenbund. Vorsichtig begann Tom den Aufstieg. Martin holte das Kabel unter der Plane hervor und stellte sich vor Ritchie. In seiner Hand schwang das Stromkabel, wie das dunkle Seil eines Henkers.
»Was hast du vor?«, fragte Ritchie schnarrend.
Martin grinste und zog das Kehlkopfmikrofon vom Hals des Jungen weg. Dann riss er es mit einem Ruck vom Metallarm des Rollstuhls.
»Weißt du Ritchie, ich kenne dich erst eine knappe Stunde. Aber das hier ...« Er blickte mit einem breiten Grinsen auf die Sprechhilfe in seiner Hand. »Das war mir jetzt ein ehrliches Bedürfnis.«
*
Wenige Minuten später hing Martin in dem nach oben führenden Schacht. Die Zeit verlor für ihn jeden Bezug zur Wirklichkeit. Sie war nur noch ein abstrakter Gedanke zwischen zwei keuchenden Atemzügen. Die Geräusche der Knirscher verloren ihren bedrohlichen Klang und stumpften zum gleichgültigen Rauschen eines weit entfernten Meeres ab. Seine Welt bestand nur noch aus zwei Bezugspunkten.
Die nächste Sprosse.
Der nächste Klimmzug.
Schwer atmend klammerte er sich an das kalte Metall der Leiter und schaute hoch. War der Eingang zum Schacht näher gerückt? Ja. Nicht viel, aber immerhin. Vielleicht noch vierzig Sprossen, dann wäre die Tortour überstanden. Das abgerissene Stromkabel biss sich in das Fleisch seiner Schultern.
»Alles okay, Ritchie?«
Seine Stimme ein atemloses Krächzen. Eine zierliche Hand klopfte schwach an seine Hüfte.
»Gut. Bleib locker. Wir haben es gleich geschafft.«
Martin holte zitternd Luft und griff nach der nächsten Sprosse.
Neununddreißig.
*
Tom, Karl und Kurt starrten aus den Fenstern des Busses auf den Parkplatz. Das helle Licht der Laternen hielt die Knirscher zurück. Doch in den Schatten zwischen den Büschen konnten die Kinder ihr unablässiges Huschen und Wuseln sehen. Tom wandte sich ab.
»Sie werden es nicht schaffen. Wir müssen ihnen helfen.«
Kurt wandte sich verwundert an Tom.
»Wie das? Wir sind nicht vollzählig.«
»Es muss auch so gehen. Du, Karl, Mel und Gabi. Ihr versucht Martin und Ritchie zu helfen. Ich werde mich um den Bus kümmern.«
»Das schaffst du nicht. Das hat noch keiner von uns ohne die gesamte Gruppe geschafft.«
Tom zuckte mit den Schultern.
»Wie würde Ritchie jetzt sagen? Wir haben auch noch nie bis zum Hals in der Scheiße gesteckt.«
Kurt nickte und ging zu den anderen. Tom setzte sich hinter das Steuer des Busses und schloss die Augen. Kurt, Karl, Melanie und Gabi setzen sich auf den Boden im Fahrgastraum und gaben sich die Hände. Auch sie schlossen ihre Augen.
Zuerst rührte sich nichts. Doch dann veränderte sich die Atmosphäre um die Kinder. Das Licht der Straßenlaternen wurde dumpfer, die Geräusche der Knirscher gedämpfter. Die Wirklichkeit verdichtete sich zu einem Ball aus kritischer Masse.
Und etwas Unfassbares griff nach ihren Freunden im Schacht.
*
Martin zitterte am ganzen Körper. Wie lange kletterte er schon mit seinem lebenden Gepäck diesen verdammten Schacht hoch? Wie lange noch, bis der Befehl des Generals alles in ein Feuer tauchen würde, gegen dass die Fegefeuer sämtlicher Höllen wie ein Samstagnachmittagsbarbecue in Nachbars Garten wirkten? Seine Beine gehörten nicht mehr ihm selber, seine Schultern waren zwei taube Anhängsel eines fremden Körpers. Erschöpft schloss er die Augen und lehnte seine Stirn gegen eine Sprosse. Ein Bild schob sich vor sein Denken.
Luke Skywalker, sein Lieblingsheld aus der Star Wars Saga, wie er mit seinem Jedi-Meister auf dem Rücken durch einen Dschungel turnte. Unbekümmert schlug er Salti, landete auf seinen Füßen und rannte weiter, während Meister Joda auf seinem Rücken weise Sprüche abließ.
Ein Kichern rollte Martins Brust hoch, verdrängte die Angst und den Schmerz.
Oh ja! Möge die Macht mit mir sein.
Aus dem Kichern wurde ein unterdrücktes Lachen. Ritchies Hand klopfte drängend gegen seine Hüfte.
Schon gut, Meister Joda. Ich werde die Prüfung mit Bravour bestehen.
Martin versuchte diese kindischen Gedanken zu verdrängen, sich wieder auf das vor ihm Liegende zu konzentrieren. Doch wenn König Lachen bei ihm anklopfte, konnte er nicht widerstehen. Er musste ihm einfach die Tür öffnen. Immer wieder sah er diese alte Filmszene vor seinem geistigen Auge, und allmählich wurde aus der Filmkulisse eines Dschungels ein dunkler Schacht. Das Gesicht Luke Skywalkers veränderte sich und bekam seine Gesichtszüge. Aus der Puppe auf seinem Rücken wurde die verkrümmte Gestalt Ritchies.
Martins Schultern zuckten unkontrolliert.
Martin Martinsen.
Jedi-Meister im Dienste seiner Majestät.
Karin wäre von ihm begeistert gewesen.
Das Gefühl, durch das Lachen eine geheime Kraftreserve in seinem Inneren geöffnet zu haben, durchströmte ihn. Immer noch dieses Lachen im Gesicht hob er den Blick.
Zwanzig Sprossen?
Lächerlich, für einen Meister der Macht.
Martin holte tief Luft, zog sich hoch und glaubte plötzlich zu fliegen.
*
Tom saß mit geschlossenen Augen auf dem viel zu großen Fahrersitz des Busses. Seine Augen rollten hinter den geschlossenen Lidern. Seine Finger zuckten. Feiner Schweiß perlte auf seiner Stirn. Hinter ihm ertönte ein leises Stöhnen. Ein sanfter Druck gegen seinen Rücken, dann erklang ein leises Plumpsen.
Tom widerstand dem Drang die Augen zu öffnen und sich nach seinen Freunden umzusehen. Ein Zucken durchfuhr ihn. Er runzelte die Stirn und der Motor des Busses erwachte rumpelnd zum Leben. Aufseufzend ließ er sich in den Sitz zurückfallen. Dann rutschte er soweit wie möglich nach vorne und versuchte mit seinen Füßen die Pedale zu erreichen. Wie ging das noch mal? Er rief sich das Bild des Soldaten in Erinnerung, der sie hierher gebracht hatte. Wie er in seiner grauen Uniform hinter dem Steuer dieses Ungetüms saß und das Fahrzeug scheinbar mühelos durch den Verkehr führte.
Kupplung treten, Gang einlegen, Gas geben und Kupplung kommen lassen. Tom blickte auf und atmete tief durch. Na, das konnte ja auch mit anderthalb gesunden Armen nicht so schwer sein. Mit einem gewaltigen Ruck setzte sich der Bus in Bewegung.
*
Martin lag bäuchlings halb im Schacht und halb draußen. Es goss wie aus Eimern. Seine Finger suchten auf dem nassen Asphalt nach einem Halt. Er schwang sein rechtes Bein hoch, und durch den Ruck rutschte er soweit aus dem Schacht, dass er sich endgültig herausziehen konnte. Keuchend ließ er seinen Kopf auf den Boden sinken. Aus dem Augenwinkel sah er, wie die Turnschuhe und die weißen Socken, die er aus seinem Zimmer in dem offenen Krankenwagen bemerkt hatte, in die Schatten eines Gebüschs gezogen wurden.
Ein rumpelndes Geräusch ließ den Boden unter seiner Wange erzittern und verdrängte die Frage, die sich in seinem Denken formte. Alarmiert, aber zu erschöpft, um angemessen zu reagieren, drehte er den Kopf und sah einen gigantischen schwarzen Reifen auf sein Gesicht zuhalten. Martin kniff die Augen zu. Ein schrilles Aufkreischen, dicht gefolgt vom erschöpften Schnaufen einer Luftdruckbremse, hallte über den Parkplatz. Vorsichtig blinzelte Martin durch ein halb geöffnetes Auge. Der Reifen stand etwa eine handbreit von seinem Gesicht entfernt. Die Rillen des Reifenprofils waren tiefe Täler.
»Martin? Alles in Ordnung?«
Toms Stimme.
»Ja«, brummte Martin in den Asphalt. »Was habe ich dir gesagt? Du sollst den Bus in Ruhe lassen, verdammt noch mal.«
Tom murmelte etwas Unverständliches. Martin holte tief Luft und versuchte im Liegen den Knoten für das behelfsmäßige Geschirr auf seiner Brust zu lösen. Es klappte und er drehte sich sacht zur Seite. Vorsichtig ließ er Ritchie von seinem Rücken auf den Asphalt rollen. Dann stand er schwankend auf. Hier draußen klang das Knirschen und Knistern in seinem Kopf, als würde er in einer riesigen Bratpfanne stehen. Dazu kam unablässiges ein Stöhnen, das in ihm eine kreatürliche Angst auslöste.
Was zur Hölle war das?
»Fass mit an. Wir müssen Ritchie in den Bus bekommen und dann nichts wie weg hier.«
Tom griff nach Ritchies Beinen. Martin sah Tränen in den Augen des verwachsenen Jungen schimmern.
»Hast du etwa geglaubt, nur weil du nervst, würde ich dich zurücklassen?«, fragte er. Ritchie nickte leicht. Tom und Martin ächzten, als sie Ritchie über die Stufen in den Innenraum trugen. Vorsichtig legten sie ihn neben die anderen Kinder, die Martin mit erschöpftem Blick anschauten. Unsicher erhob er sich und wankte zum Fahrersitz.
»Bleibt da unten. Ich hab keine Ahnung, wo´s langgeht. Aber es dürfte ein verdammt heißer Ritt werden.«
*
Martin reagierte nur noch auf der Ebene eines vererbten Instinktes, der schon seine Urahnen zu Zeiten des Säbelzahntigers am Leben erhalten hatte. Der Gedanke an Flucht tobte übermächtig durch sein Denken und peitschte Adrenalin durch seinen erschöpften Körper. Er wollte weg. Raus aus diesem Albtraum, weg von dem Feuer, das bald vom Himmel regnen würde.
Aber wohin?
Hinweisschilder, Autowracks und verlassene Häuser flogen vorbei. Ein Huschen im Augenwinkel. Weiter vorne sah Martin im Licht der Scheinwerfer eine T-Kreuzung und ein weiteres Schild. Die Dürener Straße? Die führte doch stadtauswärts, oder? Martin bremste den Bus brutal ab und zog ihn nach rechts. Das große Fahrzeug neigte sich bedenklich. Ausrufe der Angst hinter ihm. Dann fiel der Bus mit einem harten Ruck zurück in die Waagerechte. Martin grinste schwach vor sich hin. Die Kurve hatte er wortwörtlich gekratzt. Sein Blick verschwamm allmählich. Die Anstrengung der letzten Minuten hatten ihm auch die letzten Kraftreserven abverlangt. Seine Augenlider flatterten. Er hob den Arm und hieb sich die Faust auf den Schenkel. Zwecklos. Er war längst über den Punkt hinaus, an dem er noch so etwas wie Schmerz empfinden könnte. Wie weit waren sie schon gekommen? Reichte der Abstand? Schwankend hob er den Blick und sah in den Rückspiegel. Ein Schatten huschte über den verregneten Himmel.
»Scheiße«, fiel Martin ein atemloser Fluch wie ein abgebrochenes Stück Zahn aus dem Mund.
Dann öffnete die Hölle ihre Pforten.
Ein Blitz zeriss den regengrauen Himmel. Er erbrach mit einem dumpfen Grollen einen Schwall aus flüssigem Feuer. Eine gigantische Druckwelle raste vor der brennenden Wand her. Bäume zerplatzten unter der Wucht und brannten in Sekundenschnelle ab, Fenster explodierten und Martin sah im Rückspiegel eine menschliche Gestalt, die in von den Flammen überrollt wurde. Er konnte den Blick nicht vom Rückspiegel wenden. Ein unmenschlicher Laut der Angst kroch in Martins Hals hoch. Ein Schlag riss ihm das Lenkrad aus den Händen. Der Bus neigte sich zur Seite. Die Kinder schrien auf. Die ersten Ausläufer der Druckwelle erreichten den Bus. Die Welt war nur noch ein heißes Fauchen, die Realität kippte. Mit einem lauten Krachen und dem hellen Geräusch von splitterndem Glas fiel der Bus auf die Seite. Funkensprühend rutschte er über den Asphalt. Aus dem Grollen wurde ein Fauchen. Der Bus rutschte unaufhaltsam weiter. Martin lag auf der Seite und sah den Pfeiler einer Brücke auf sie zurasen. Etwas saugte ihm die Atemluft aus den Lungen. Die Schreie der Kinder verblassten.
Zu langsam, schoss es Martin durch den Kopf. Ich war zu langsam und habe wieder versagt.
Ein heftiger Stoß erschütterte den Bus.
Dann Dunkelheit.
Kapitel VI - Ritchies Traum
Ein leises Weinen im Dunkeln. Ein Bezugspunkt im Nichts. Martin konzentrierte sich darauf, zog sich an diesem Geräusch zurück in die Realität, heraus aus der Finsternis der Bewusstlosigkeit.
»Er ist bestimmt tot. T-O-T. So buchstabiert man das.«
Gabi?
»Nein. Er ist nicht tot, er schläft.«
Tom?
»Aber warum höre ich seinen Kopf nicht? Ich kann doch sonst seinen Kopf hören. Aber da ist nichts. N-I-C-”
»Gabi. Bitte.«
Trotz der Schmerzen und des allumfassenden Gefühls der Erschöpfung stahl sich ein Lächeln in Martins Mundwinkel. Die Kinder. Sie lebten. Sie hatten die Hölle überlebt. Waren alle unverletzt? Er musste aufstehen und nach ihnen sehen. Keine Zeit zum Ausruhen. Eine Hand auf seiner Brust hielt ihn zurück, bevor er den Gedanken in die Tat umsetzen konnte.
»Nein Martin, du musst nichts«, sagte Tom.
Hatte er laut gesprochen?
»Er lebt, er lebt. Martin lebt. L-E-B-T.«
Eine Hand tastete unbeholfen nach seiner Wange. Martin öffnete die Augen zu schmalen Schlitzen und sah Gabis rundliches Gesicht nah an seinem. Ihre Augen strahlten und Martin bemerkte Tränenspuren auf ihren Wangen. Sie wurde knallrot, als sie Martins Blick bemerkte. Ihre Hand zuckte zurück, als wäre Martin eine giftige Schlange. Er lächelte leicht und griff nach ihrer Hand.
»Hallo Gabi.«
Sie zog ihre Hand aus seinem Griff und schaute ihn mit einem Blick an, den er als erschrockenes Misstrauen deutete. Martin ließ es auf sich beruhen und drehte den Kopf zur Seite.
»He Tom. Alles klar? Wie geht es den anderen?«
»Alle sind soweit wohlauf. Ritchie hat sich ordentlich den Kopf angeschlagen. Aber ich glaube, er ist wieder fit.«
Martin bemerkte, dass er aus einem Seitenfenster den Himmel sehen konnte, obwohl er auf dem Rücken lag. Die Morgendämmerung zeichnete sich schwach zwischen dichten Wolken dunklen Rauchs ab. Tom bemerkte Martins fragenden Blick.
»Ich weiß nicht wie, aber du hast den Bus zur Seite gekippt. Wir liegen mit dem Boden des Busses in Richtung Stadt. Das hat uns offenbar das Leben gerettet, weil er die Hitze soweit abgehalten hat.«
»Keiner hat Verbrennungen?«
»Nein. Es ist trotzdem ziemlich heiß geworden. Ich glaube, die Reifen unseres Busses sind angeschmolzen.«
Martin pfiff leise.
»Dann haben wir verdammtes Glück gehabt.«
Tom blickte ihn zweifelnd an.
»Bist du sicher?«
Martin nickte.
»Ich weiß, was du meinst. Hätten die einen atomaren Sprengsatz gezündet, wären wir jetzt ein Häufchen qualmende Schlacke.«
Tom nickte beruhigt und wandte sich ab. Die Gesichter von Karl und Kurt schoben sich in Martins Blickfeld. Beide hatten die Mienen von Ringrichtern, die sich über den geschlagenen Champion beugten, um ihn auszuzählen. Sie schauten sich kurz an. Karl nickte heftig und Kurt wandte sich an Martin.
»Also, Martin. Mein Bruder und ich sind uns einig. Egal wo es jetzt hingeht, du solltest ab sofort kein motorisiertes Fahrzeug mehr anfassen.«
Martin schloss seufzend die Augen.
Diese kleinen Klugscheißer.
Dann richtete er sich ächzend auf und sah aus der zerborstenen Windschutzscheibe. Der Bus musste den Brückenpfeiler mit dem Heck erwischt haben. Das hatte ihre unfreiwillige Rutschpartie aufgehalten. Er kletterte aus dem Wrack und pfiff leise. Etwa zehn Meter vor ihnen begann ein Stau. Eine endlose Schlange aus Blech und Plastik, die sich auf allen Fahrspuren bis zum Horizont dahinschlängelte. Er vermutete, dass dies die Reste der Massenflucht aus Köln waren.
»Martin? Ich glaube Ritchie geht es nicht gut«, rief Tom. Martin runzelte die Stirn. Ritchie hatte sich doch angeblich nur den Kopf angeschlagen? Es würde sowieso noch ein Heidenspaß werden, mit Ritchie ohne seinen Rollstuhl irgendwo Hilfe zu finden. Vorsichtig stieg er über die Trümmer des Armaturenbretts zurück.
Ritchie lag zwischen zwei Fenstern in verkrümmter Haltung auf dem Boden. Die anderen Kinder hockten vor ihm. Mit fragenden Gesichtern sahen sie Martin an. Er kniete sich hin und legte eine Hand auf Ritchies Schulter. Vorsichtig drehte er ihn auf den Rücken. Sein Gesicht sah friedlich aus. Zu friedlich. Erstaunt bemerkte Martin dunkle Ringe um Ritchies Augen. Es sah aus, als hätte er sich die Augen wie ein Soldat hinter feindlichen Linien mit einem Fettstift unterstrichen. Dann sah er die merkwürdige Pfütze unter Ritchies Kopf. Es war kein Blut. Vorsichtig drehte Martin Ritchies Kopf noch ein Stück weiter. Die Flüssigkeit kam aus dem rechten Ohr. Martin keuchte auf. Einblutungen unter den Augen, klare Flüssigkeit, die aus den Ohren lief ... Ritchie hatte einen Schädelbruch! Ein wimmernder Laut kroch seinen Hals hoch.
»Ritchie?«
Martins Hände zitterten. Angst lähmte seine Bewegungen und ließ jeden Gedanken durch einen dicken Sirup schwimmen. Je verzweifelter er versuchte einen klaren Gedanken zu fassen, umso schlimmer wurde dieses Gefühl. Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Eine andere Hand legte sich auf Ritchies Kopf. Eine Pipeline aus einer anderen Welt. Martin blickte auf. Melanie hockte neben ihm. Eine Hand auf seiner Schulter, die andere auf Ritchies Stirn. Ihre Augen schwammen in Tränen.
Schließ die Augen und mache deinen Kopf frei, Martin.
Martin runzelte die Stirn. Diese Stimme ... kam aus seinem Kopf?
Ja. Ich bin es, Martin. Melanie. Für Erklärungen ist jetzt keine Zeit. Ritchie will mit dir reden.
Ritchie wollte mit ihm reden? Martin schaute zu dem Jungen herunter und sah, dass er ihm schwach zublinzelte.
Martin. Bitte!
Das konnte alles nicht wahr sein!
Ein Schock?
Ja, das musste es sein. Er stand unter Schock und halluzinierte. Er schüttelte den Kopf und schloss die Augen, um sich die Tränen abzuwischen ... und verschwand aus dieser Welt.
*
Martin kniff geblendet die Augen zusammen. Er stand auf einer sonnenüberfluteten Wiese. Das leise Summen von Insekten untermalte den Gesang von Vögeln. Zu seinen Füßen erstreckte sich ein Meer aus Blumen in voller Blüte. In der Luft lag ein süßer Hauch, der ihn an die Frühlingstage seiner Kindheit erinnerte. An eine Zeit, als seine Eltern noch lebten. Martin hob schützend einen Arm vor das Gesicht. Ein strahlendes Licht erstreckte sich über den ganzen Horizont. Alles war in ein Meer aus Gras, Blumen und Friedfertigkeit gehüllt. Suchend drehte Martin sich im Kreis.
Wo war er?
Wo war der Bus?
Wo waren die Kinder?
»Die sind nicht hier.«
Martin wandte sich zu der Stimme um. Aus dem strahlenden Gleißen trat ein Junge hervor. Martin holte keuchend Luft.
»Ritchie?«
»Ja Martin. Ich bin es.«
»Wo sind wir? Was passiert hier?«
Ritchie machte eine bedauernde Geste.
»Tut mir leid Martin. Wir haben nicht soviel Zeit, als dass ich dir alles erklären könnte. Nur eine Frage habe ich. Warum hast du mich nicht zurückgelassen?«
Martin hatte sich an das Licht gewöhnt und ließ den Arm sinken. Ritchie stand aufrecht auf seinen Beinen? Wo war sein Rollstuhl abgeblieben?
»Den brauche ich hier nicht. Warum hast mich nicht zurückgelassen? Du wolltest es doch, oder? Im Kacketunnel, als du Tom vorgeschickt hast, da ist es dir doch durch den Kopf gegangen, uns alleine zu lassen. Stimmts?«
Martin schluckte und nickte.
»Ja.«
»Und? Warum hast du es dann nicht getan? Warum bist weitergegangen und hast mich auch noch nach oben gebracht?«
Ja, genau. Warum eigentlich? Wegen Tom? Wegen Karin? Warum hatte er die Kinder nicht ihrem Schicksal überlassen? Martin hob in einer verzweifelten Geste die Hände und schüttelte den Kopf.
»Ich weiß es nicht, Ritchie. Es ... es erschien mir einfach nicht richtig.«
Ritchie nickte.
»Ich weiß es jetzt. Du bist einer von uns.«
»Einer von euch? Du meinst, einer der Spider-X-Gang?«
»Nein. Du bist einer von uns. Du weißt es nur noch nicht. Aber das werden dir die anderen erklären müssen. Ich muss jetzt gehen. Meine Mutter wartet.«
Martin sah hinter Ritchie eine weitere Gestalt aus dem Licht kommen. Eine Frau. Nicht besonders groß, mit langen blonden Haaren. Sie lächelte Martin zu.
»Danke Martin.«
»Wofür?«
Sie legte Ritchie einen Arm um die Schultern und sah ihren Sohn mit einem strahlenden Lächeln an. Dieses Bild tat Martin im Herzen weh. Es erinnerte ihn an seine Mom.
»Wofür danken Sie mir? Ihr Sohn stirbt, und ich kann nichts für ihn tun. Ich habe versagt. Schon wieder. Erst Karin, jetzt Ritchie ... wer ist als nächstes dran? Wäre ich nur etwas schneller gewesen, hätte ich nur ein wenig mehr Zeit oder Kraft aufgebracht ... wir hätten vor der Druckwelle ausweichen können. Der Bus wäre nicht umgekippt und Ritchie würde jetzt noch leben!«
Martin versagte die Stimme. Es gab noch so vieles zu sagen, aber keine Worte, die auch nur annähernd seine Gefühle beschreiben könnten. Seine Knie gaben nach. Tränen schossen ihm in die Augen. Weinend hockte er im Gras und vergrub sein Gesicht in den Händen. Eine Hand streichelte seinen Kopf. Mit verschleiertem Blick schaute er auf und sah in Ritchies Gesicht.
»Es tut mir leid, Ritchie. Es tut mir so unendlich leid, hörst du?«
Ritchie strich ihm mit einem Finger eine Träne von der Wange.
»Machs gut, alter Klugscheißer.«
Das Gleißen des Lichts wurde stärker. Martin riss geblendet beide Arme vor das Gesicht. Die Gestalten von Ritchie und seiner Mutter verschwammen. Martin rappelte sich auf.
»Ritchie?«
Das Summen der Insekten wurde lauter.
»Ritchie?«
Martin spürte einen Zug, der ihm vom starken Licht wegzog. Aber er konnte doch nicht weg! Er konnte doch nicht ohne Ritchie von hier weg gehen! Der Sog wurde zu einem Zerren, das Summen zu einem drohenden Röhren. Das Licht wurde so grell, das es ihn sogar durch seine geschlossenen Augen blendete. Er verkrümmte sich, versuchte gegen diese unbekannte Macht anzukämpfen, die ihn unaufhaltsam wegzerrte und ...
*
... kniete im Buswrack.
Keuchend fiel Martin nach vorne auf die Hände. Seine Muskeln zitterten und sein Gesicht war tränennass. Die Wirklichkeit stürmte mit widersprüchlichen Eindrücken auf ihn ein. Der Boden, der mit den falschen Diamanten der Glassplitter bedeckt war, das Rumpeln in seinem Bauch, das von Hunger und Übelkeit zugleich kündete, der Gestank von verbrannter Erde und Unrat und der leblose Körper Ritchies, den er eben noch auf einer Wiese gesehen hatte.
Ritchie?
Martin blickte sich um und robbte auf Händen Knien zu dem Jungen. Seine Hände suchten hilflos nach einem Punkt, an dem sie den leblosen Körper gefahrlos berühren konnten.
»Ritchie? Wach auf Ritchie, ich bin es. Martin, der alte Klugscheißer.«
»Martin?«
Toms Stimme?
»Ritchie? Komm, lass den Unfug. Wir haben’s geschafft. Die haben uns nicht grillen können, mit ihrer Scheißbombe. Wir sind draußen, hörst du?«
»Martin?«
Martin fuhr herum.
»WAS?«
Tom schrak zurück.
»Ritchie ist tot.«
Toms Worte sickerten nur langsam in Martins Bewusstsein. Fassungslos drehte er den Kopf und sah hinab. Ritchies Kopf war leblos zur Seite gerollt. Seine Augen glänzten stumpf. Seine Brust hob und senkte sich nicht mehr im Takt seines Atems. Auf seinen Lippen lag ein friedliches Lächeln, das auch seine Behinderung nicht mehr zu verzerren vermochte. Martin schluckte.
Tom hatte Recht.
Ritchie war tot.
Heiße Tränen rannen Martin über das Gesicht, als er sich vorbeugte und Ritchie mit einem sanften Streicheln über das Gesicht die Augen schloss. Er holte tief Luft und wischte sich die Tränen aus den Augen. Karins Stimme erklang in seinem Kopf.
Zeit, sich der Realität zu stellen, Sunnyboy. Such einen vernünftigen Platz, wo der Kleine in Frieden ruhen kann, und dann weg hier.
Martin nickte sich selber zu. Karin hatte Recht. Selbst im Tod behielt sie immer noch Recht. Er schaute auf und sah den Kindern in die blassen Gesichter.
»Kommt. Wir suchen einen Platz, wo Ritchie seine Ruhe finden kann.«