Kitabı oku: «Chronik von Eden», sayfa 12
Kapitel VII - Die Schlacht am OK-Corral
Martin stand vor dem Bus. Er hatte so heimlich wie möglich seinen letzten Nasenzucker gesnifft. Jetzt ging es ihm wieder etwas besser. Nur keinen Stress machen, sonst hielt die Wirkung nicht lange vor. Er atmete tief durch, um seine Gefühle unter Kontrolle zu halten. In seinen Armen trug er den leblosen Körper Ritchies. Er fühlte sich nicht schwerer an als ein kleiner Sack mit altem Herbstlaub. Martin sah in die Ferne ohne richtig zu sehen. In seinem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Unmöglich, einen davon zu fassen zu bekommen. Aus dem Augenwinkel bemerkte er eine Bewegung. Tom stellte sich neben ihn.
»Ich glaube, wir haben einen Platz für Ritchie gefunden. Und was dich betrifft ...«
Tom griff in seine Hosentasche. Er holte ein Glasfläschchen mit weißem Pulver hervor.
»Das hier haben sie dir immer gegeben. Ich weiß nicht was es ist, aber vielleicht hilft es dir ja.«
Martin spürte wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Er nickte stumm, ging in die Hocke und legte Ritchies Leiche auf seine Knie. Dann nahm er das Fläschchen von Tom, schraubte es auf und kostete eine Zungenspitze voll.
»Ja. Das wird mir eine Weile helfen. Danke dir.«
Kein Wort darüber, was das für ein Zeug war, keine Bemerkung über seine Sucht ... Martin schämte sich in diesem Moment wie noch nie zuvor in seinem Leben. Er fragte auch nicht, woher der Junge um seine Sucht wusste. Ein Gespräch darüber wäre Martin noch peinlicher geworden. Tom nickte ihm zu. Dann gingen sie auf das Stauende zu, wo die anderen Kinder bereits standen. Sie schauten mit den feierlichen Mienen von Menschen die einen heiligen Ort betrachten, nach oben. In ihren Augen schimmerten Tränen. Gabi schluchzte leise. Tom deute hoch, auf eine Stelle hinter Martin.
»Dort«, sagte er. »Dort ist der richtige Ort, an dem Ritchie in Frieden ruhen kann. Dort wird sich auch sein größter Wunsch erfüllen.«
Martin sah hoch und entdeckte einen Polizeiwagen auf einer Brücke, der nahe am Geländer stand. Wortlos stieg er über die Leitplanke auf die Gegenfahrbahn und machte sich auf den Weg zur Brückenauffahrt.
*
Kurze Zeit später saß Ritchies Leiche am Steuer des Wagens. Martin kuppelte die Gangschaltung aus und startete den Wagen. Dann schaltete er die Einsatzbeleuchtung ein. Die roten und blauen Lichter flackerten im Zwielicht. Ein weithin sichtbares Zeichen, als Ersatz für einen Grabstein und ein Grablicht. Gabi ging zu Martin und nahm seine Hand. Er spürte es nicht.
»Das war sehr gut, Martin. Das würde Ritchie sehr gefallen haben.«
Martin schwieg. Kurt trat an die Fahrertür und legte Ritchies Leiche eine Hand auf die Schulter.
»Machs gut, Ritchie Stark.«
Dann schlug er die Tür zu.
Es klang für Martin wie das Verschließen einer Gruft. Ein Gefühl der Leere breitete sich in ihm aus, nahm ihm die Luft zum Atmen und ließ Tränen in seinen Augen schimmern.
Erst Karin.
Jetzt Ritchie.
War er Schuld an dem Tod der beiden? Hatte er versagt? Martin atmete tief durch und wandte sich an die andere Seite des Überwegs. Er stützte sich mit den Händen auf das Geländer und versuchte das Chaos in seinem Kopf zu entwirren. Fragen schossen ihm durch den Kopf. Rational, kühl und dadurch in dieser Situation auch tröstend, denn sie zwangen ihn zum Handeln. Er musste ihr weiteres Vorgehen planen. Sie konnten hier oben nicht bleiben. Der Ort war zu ungeschützt. Vielleicht lebten die Soldaten dieser Einheit Sieben noch. Falls ja, blieb die Frage ob sie hier auf ihrem Rückzug vorbeikämen. Vielleicht würden sie das Einsatzlicht des Polizeiwagens bemerken. Sie mussten also einen Platz finden, an dem sie geschützt waren und der nicht zu weit weg lag. Martin nickte sich selber zu. Das wäre Punkt eins seines Plans.
Blieb noch die zweite Frage.
Die Kinder.
Irgendetwas stimmte nicht mit ihnen. Sie reagierten trotz ihrer körperlichen Einschränkungen und ihrer Jugend zu gut, ja fast schon erwachsener als er, auf ihre Situation. Dann waren da die Augenblicke, in denen er den Verdacht hatte, die Kinder würden hinter seinem Rücken tuscheln. Und zuletzt sein Erlebnis, als Ritchie in seinen Armen gestorben war. Was zur Hölle war da passiert? Ein Flashback durch die Mittel, die ihm seine Kidnapper injiziert hatten? Was verheimlichten ihm die Kinder? Martin hatte zwar einen Verdacht, aber der war so ungeheuerlich ... das er einen Versuch wert war.
Er schloss die Augen, kämpfte gegen das Gefühl des Verlustes und der Trauer und konzentrierte sich auf einen ganz bestimmten Gedanken. Es war die Frage, die ihn am meisten beschäftigte. Immer und immer wieder ließ er sie in seinem Kopf aufblitzen. Alles andere um ihn herum wurde unwichtig. Der Wind, der mit seiner scharfen Zunge an seinem Gesicht leckte. Der Geruch nach Verbranntem, der schwer in der Luft lag und jeden Atemzug zu einem Kampf gegen den Hustenreiz machte. Das Gefühl des Hungers in seinem Magen ... alles verschwamm in seiner Wahrnehmung.
Ein leises Aufstöhnen hinter ihm.
Er verstärkte seine Konzentration.
Stimmengemurmel.
Kam es aus seinem Kopf?
Egal. Weitermachen. Immer und immer und immer wieder die gleiche Frage. Nichts anderes zählte jetzt.
Das klägliche Wimmern einer ungeschulten Stimme, die niemals in normal verständlichen Lauten erklingen würde. Eindeutig nicht aus seinem Kopf. Dann Kurts Stimme.
Martin! Bitte hör auf!
Er öffnete die Augen und kehrte ins Hier und Jetzt zurück. Er drehte sich nicht um. Sollten sie kommen. Sie hatten ihn hinters Licht geführt. Zumindest hatten sie ihm nicht die Wahrheit über sich gesagt. Kleine, verlogene ...
»Du hast uns nicht gefragt.«, sagte Kurt. Seine Stimme klang trotzig. »Und Zeit für lange Erklärungen hatten wir auch keine.«
Martin drehte sich langsam um. Konnte es also tatsächlich wahr sein? Der Junge stand mit verschränkten Armen und trotzig vorgestrecktem Kinn vor ihm.
»Du hättest uns sowieso nicht geglaubt. Obwohl du einer von uns bist.«
»Ich? Einer von euch?«
Tom stellte sich neben Kurt.
»Ja, Martin. Du bist ebenfalls begabt. Du weißt es nur nicht. Und weil du begabt bist, glaubst du, dass du das weiße Zeug in deiner Hosentasche so dringend brauchst, um die Stimmen in deinem Kopf zu dämpfen.«
Martin zog die Stirn kraus. Gabi und Melanie stellten sich neben die beiden. Karl blieb im Hintergrund. Martin bemerkte, dass er sich die Hand vor die Nase hielt. Sie blutete. Die Gesichter der Kinder verrieten eine gewisse Kampfbereitschaft. Gabis Gesicht glühte und ihre Augen funkelten vergnügt.
»Ich hab es schon gewusst, als du noch im Zimmer gelegen hast«, sagte sie. Ein leichtes Lächeln umspielte dabei ihre Mundwinkel. Martin schüttelte den Kopf.
»Ihr wollt mir allen Ernstes sagen, ihr könnt Gedanken lesen?«
»Am einfachsten ist es, wenn wir mit einem Menschen Körperkontakt haben«, sagte Tom. »Mit einem Unbegabten geht es meistens nicht anders. Mit anderen Begabten, so wie dir, können wir auch ohne Körperkontakt kommunizieren.«
Martin schnaufte ein verächtliches Lachen.
»Und was habt ihr sonst noch so drauf? Löffel verbiegen, Gegenstände schweben lassen und all so‘n Zeugs?«
Tom blickte weg.
»So in etwa. Wenn wir ...« Er stockte und blickte zu dem Polizeiwagen. Dann holte er tief Luft und fuhr fort. »Wenn wir vollzählig sind, und Gabi als unser Fokus dient, dann können wir etwas mehr. Manchmal auch alleine. Aber es erschöpft uns sehr.«
Martin wandte sich ab. Freaks.
Er hatte eine Gruppe minderjähriger Freaks an der Backe. Karin würde sich ausschütten vor Lachen, könnte sie ihn sehen. Ausgerechnet er, Martin Martinsen, ehemaliger Starreporter der XXX-NEWS, der die unglaublichsten Geschichten über Ufos, Wiedergänger und Seelenwanderung geschrieben hatte, erlebte gerade eine seiner eigenen Storys. Er ballte die Faust und klopfte mit den Knöcheln auf das Metall des Geländers.
Sollte er den Unfug wirklich glauben? Telepathie und Telekinese waren wissenschaftlich nachgewiesen. Alles im Bereich des Möglichen und vorstellbar. Aber so eine Erfahrung selber mitzumachen, war eben etwas anderes, als sich in einem warmen Büro eine entsprechende Story aus den Fingern zu saugen, damit die Auflage eines futuristischen Käseblatts in die Höhe schoss. Wie sollte er damit umgehen? Woher wollten die Kinder wissen, dass er seit seiner Pubertät Stimmen in seinem Kopf hörte? Dass er sie lange Jahre hatte ignorieren können, bevor sie immer stärker geworden waren, und er sie zuerst noch mit Medikamenten und am Ende schließlich nur noch mit kleinen Dosen Heroin zu dämpfen vermochte?
Eine Windböe zerrte an seiner Jacke und holte ihn zurück aus seinen Gedanken. Martin holte tief Luft und blies sie mit aufgeblasenen Wangen wieder heraus. Sie hatten schlimmere Probleme als irgendwelche dubiosen, pseudowissenschaftlichen Fragen. Es war empfindlich kalt und die Kids hatten unpassend dünne Kleidung an. Sie hatten kein Essen, nichts zu trinken und keine Ahnung, wohin sie sich wenden sollten.
Martin seufzte. Das waren die Probleme, die es zuerst anzupacken galt. Alles andere, der Schmerz um Karins Verlust, der allmählich in ihm hochkam, und die angeblichen Fähigkeiten der Kinder, musste sich neue Wartenummern ziehen. Er wollte Antworten. Aber jetzt war nicht der passende Zeitpunkt dafür. Er drehte sich wieder zu den Kindern um.
»Okay. Lassen wir diese ... Sache ... jetzt mal außen vor. Darüber reden wir später. Wir haben eine ganze Reihe anderer Probleme am Arsch.«
Gabi kicherte bei dem letzten Wort und Martin hielt irritiert inne. Dann wurde ihm bewusst, was er gesagt hatte und er beschloss, in Zukunft besser auf seine Worte zu achten. Ein entschuldigendes Lächeln huschte über sein Gesicht, als er fortfuhr.
»Ihr habt nichts Vernünftiges am Leib. Es wird immer kälter werden. Also brauchen wir andere Kleidung für euch. Wir benötigen außerdem Proviant und sollten uns entscheiden, wohin wir uns wenden.«
Tom machte ein nachdenkliches Gesicht.
»Und wo sollen wir das alles herbekommen?«
Martin ging auf die andere Seite des Überwegs, dorthin, wo die leblose Blechschlange des Staus in Richtung Autobahn unter ihnen lag. Er deutete mit einer Hand herunter.
»Da unten. Ich bin mir sicher, dass wir dort alles finden werden, was wir brauchen.«
Kurt verzog angewidert das Gesicht.
»Wir sollen Leichenfleddern?«
Martin grinste.
»Nein. Wir gehen Einkaufen.«
*
Eine Stunde später suchten Martin und die Kinder in der Autoschlange immer noch nach dem dringend benötigten Proviant und warmer Kleidung. Entweder hatte die Panik die Flüchtigen derartig überrascht, dass niemand etwas Brauchbares mitgenommen hatte, oder sie waren zu spät gekommen. Aber andererseits ... wer sollte ihnen zuvorgekommen sein?
Martin warf eine Autotür zu und hieb der Faust auf das Dach des Wagens, den er gerade durchsucht hatte. So kamen sie nicht weiter. Er blickte in den dämmerigen Himmel und schätzte, dass es bald richtig dunkel werden würde. Dann müssten sie irgendwo Unterschlupf finden, bevor die Knirscher, wer oder was auch immer diese Wesen waren, wieder auf der Bildfläche erschienen. Suchend blickte er sich um.
Die Autobahn wirkte auf ihn, wie die Arterie eines starken Rauchers. Die Fahrspuren beider Richtungen waren vollkommen verstopft. Offenbar war die Situation derart schlimm gewesen, dass die Polizei beide Fahrtrichtungen zur Flucht freigegeben hatte. Nur weg aus Köln. Das war der einzige Gedanke der Flüchtlinge gewesen.
Zum Glück hatten sie bisher keine Leichen gefunden, wofür Martin sehr dankbar war.
Er bemerkte, wie Karl und Kurt auf ihn zukamen und biss sich auf das Wangenfutter, um ein Auflachen zu verhindern. Die Jungen hatten zwei lange Mäntel gefunden, in denen sie wie zwei kleinwüchsige Mönche auf Pilgerreise daherstapften. Beide hatten sich Abschleppseile als Gürtel um die Hüften geknotet, damit sie die Mäntel etwas höher raffen konnten und beim Gehen nicht ständig stolperten. Er nickte ihnen aufmunternd zu. Hauptsache die beiden waren warm angezogen.
Er beugte sich zu dem kleinen Bündel herunter, dass sie schweigsam vor ihm auf den Boden legten, und sein Lächeln verschwand. Ihre Ausbeute an Kleidung und Proviant war erschreckend mager. Zwei Flaschen abgestandenes Mineralwasser, eine Handvoll Schokoriegel und eine Taschenlampe. Mit einer resignierten Geste rieb Martin sich über das Gesicht. So kamen sie nicht weiter. Schritte näherten sich und er schaute auf. Melanie kam zwischen den Autos auf sie zu. Ihr Gesicht war gerötet und sie winkte heftig.
»Tom, Gabi und Mel haben einen Bauernhof gesehen«, sagte Kurt. Melanie erreichte die drei. Sie nahm Martin bei der Hand und schloss die Augen.
»Bitte nicht«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Kurt hat es mir schon gesagt. Ja, vielleicht sind wir da vorerst in Sicherheit und können in Ruhe weitersehen.«
Martin bemerkte einen Anflug von Enttäuschung in Melanies Gesicht. Also konnte sie seine Gedanken auch lesen, wenn er sich nicht bewusst darauf konzentrierte, ihr etwas mitzuteilen? Interessant. Er hob in einer entschuldigenden Geste die Schultern an.
»Sorry, aber ich muss mich erst mit dem Gedanken an eure Fähigkeiten anfreunden.«
Martin bemerkte aus dem Augenwinkel, dass Karl die Augen geschlossen hielt. Er war stumm, aber nicht taub. Fungierte er Melanie als Simultandolmetscher für Sprache in Gedanken? Er wusste nichts über Telepathie und jetzt war der denkbar ungünstigste Zeitpunkt, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Trotzdem, in Zukunft würde er etwas vorsichtiger mit seinen Gedanken sein. Man konnte ja nie wissen. Melanie blinzelte ihm verschwörerisch zu und Martin folgte ihr, als plötzlich Gabis Schrei über die verlassene Autobahn gellte und Karl unartikulierte Laute ausstieß.
»Ischer«, rief er. Sein Finger deutete in die ungefähre Richtung, aus der Gabis Schrei erklungen war. »Ie Ischer gommen!«
Martin rannte los. Er wusste auch, ohne Gedanken lesen zu können, was der Junge meinte. Er hörte bereits das leise Rascheln, Knistern und Knirschen in seinem Kopf.
*
Sandra saß in der Küche des Bauernhofs. Ihre Finger zerlegten mit schlafwandlerischer Sicherheit ihre Sig-Sauer P225. Ihr Blick fiel auf die Reservemagazine. Zum Glück waren sie ebenfalls für dieses Modell ausgelegt, das im Gegensatz zu ihrem modifizierten Schwesterstück, der P226, nur über einen einreihigen Ladestreifen verfügte. Sie hätte gerne die P226 gehabt. Fünfzehn, statt acht Schuss pro Magazin konnten in brenzligen Situationen einen gewaltigen Unterschied ausmachen. Aber dafür lag ihr die Waffe hier besser in der Hand. Sie hatte einen schmaleren Griff und war leichter. Reinigen, ölen ... die notwendigen Handgriffe hatten für Sandra etwas von einer Zen-Übung an sich. Ihr Körper arbeitete, während ihr Geist abtauchte. Frank. Was war aus ihm geworden? Eine dumme Frage. Köln war abgebrannt. Frank würde nicht mehr sein, als ein Häufchen Asche, das im Wind in alle Himmelsrichtungen trieb. Blieben die Kinder. Sie sah vor ihrem geistigen Auge erneut den Zombie in der Kirche, hörte den Schrei von Jonas, und erlebte immer und immer wieder, wie der Kopf der Kreatur zerbarst.
Das war ich, hatte Jonas gesagt.
Sie hatte aber keine Waffe bei den Kindern finden können. Wie kam Jonas dann darauf, dass er den Zombie so effektvoll erledigt haben könnte?
Schwere Schritte holten sie ins Hier und Jetzt zurück. Pfarrer Stark betrat die Küche. Ächzend und schnaufend zog er seine schwere Schutzweste aus. Er trug darunter doch tatsächlich seine dunkle Dienstkleidung, wie Sandra mit einem kurzen Blick und einem feinem Lächeln feststellte. Mit einem Schlag wurde ihr die Unwirklichkeit der Situation bewusst. Vor weniger als vierundzwanzig Stunden hatte sie noch in der verlassenen Notstation in Köln-Deutz gesessen. Dann war Frank gekommen, sie hatten den Notruf der Kinder aufgefangen, waren vor den Zombies davongelaufen, hatten Pfarrer Stark gefunden, waren wieder vor den Untoten geflüchtet, und jetzt lag Köln hinter ihnen in Schutt und Asche. Desinfiziert ... Sie stöhnte kurz auf. Und jetzt saß sie hier. Mit den Kindern und dem Pfarrer, und sie reinigte eine Schusswaffe, weil es die einzige Hoffnung auf ein Überleben in dieser neuen Welt war. Und nichts lief mehr so, wie sie es mal geplant hatte. Ihr Leben und diese neue Welt glichen einer kaputten Spieluhr, die nur noch sporadisch, und äußerst sinnlos, einen Ton von sich gab. Eine Spieluhr mit einer ganzen Reihe grausiger Ballerinenfiguren, deren abgehacktes Zucken den Tod und Schlimmeres bedeutete. Sandra atmete tief durch, verdrängte die aufkommende Depression und den Schock. Zwei natürliche Reaktionen auf das Erlebte, die sie aber lähmten, würde sie ihnen nachgeben. Und Stillstand bedeutete in dieser Welt den Tod. Darin glich sie der alten Welt.
»Die Kinder?«, fragte sie und hoffte, dass ihre Stimme fester klang als sie sich in ihrem Hals anfühlte.
»Schlafen. Ich habe sie im oberen Schlafzimmer untergebracht.« Stark ließ sich kraftlos auf den Stuhl plumpsen. »Sie haben etwas gegessen und getrunken. Gönnen wir ihnen ein wenig Ruhe.«
Sandra nickte nur, während ihre Finger wie selbstständige Fortsätze ihres Körpers die Waffe zusammenbauten. Ihr Blick glitt immer wieder prüfend aus dem Fenster. Stark beobachtete sie schweigend. Als sie mit ihrer Waffe fertig war, nahm sie sich die Patronen und die Reservemagazine vor. Nach und nach füllte sie die Streifen auf. Als auch das erledigt war, lehnte sie sich zurück und sah aus dem Fenster.
»Möchtest du reden?«, fragte Stark.
»Ich wüsste nicht worüber.«
»Über das, was dich bedrückt?«
»Es gibt nichts, was mich im Moment bedrückt, Herr Pfarrer.«
Stark seufzte.
»Könnten wir das mit dem Pfarrer weglassen? Patrick reicht auch, finde ich.«
Sandra sah ihn mit einem undefinierbaren Blick an.
»Auf einmal so zutraulich, Herr Pfarrer? Wir werden doch angesichts der gegebenen Umstände nicht plötzlich wankelmütig, oder?«
Patricks Nasenflügel bebten kurz. Ob vor unterdrückter Wut oder Heiterkeit, hätte Sandra nicht zu sagen vermocht.
»Wie meinst du das?«
»So wie ich es sagte. Ich weiß, dass Sie wissen, dass ich etwas über Sie weiß, dass Ihnen in Ihrer Vergangenheit heftig zu schaffen gemacht hat. Deswegen frage ich Sie ja, ob sie nicht plötzlich wankelmütig werden, im Angesichts des jüngsten Gerichts.«
Sie grinste boshaft.
»Immerhin sind Sie ein Mann, ich bin eine Frau ...«
Patrick lehnte sich zurück. In seinen Augen sah Sandra einen so tiefen Schmerz, dass sie ihre Worte umgehend bereute.
»Du rührst in alten Wunden ohne zu ahnen, wie sehr sie selbst nach all den Jahren noch schmerzen.«
Sandra sah verlegen aus dem Küchenfenster in die Dämmerung hinaus.
»Es tut mir leid.«
»Nein. Schon gut. Du hast im Grunde ja recht. Ich bin damals vom Weg abgewichen. Aber statt mir, hat der Herr dem ... Lohn dieser Sünde die Strafe auferlegt.«
Sandra sah Stark in die Augen, lehnte sich über den Tisch und nahm seine Hände in ihre.
»Es tut mir ehrlich leid. Ich wollte Ihnen nicht wehtun. Wie alt wäre er heute?«
»Die Sünderin, die dem Beichtvater vergibt?«
»Nein. Eine Freundin, die in der Stunde der Not für einen Freund da ist, den sie lange Jahre nicht gesehen hat, obwohl er die ganze Zeit da war.«
Tränen schimmerten plötzlich in Patricks Augen.
»Dreizehn. Ritchie wäre dieses Jahr dreizehn geworden. Ich hoffe nur, dass der Herr gnädig zu ihm war.«
»Sie sagten, der Herr hätte Ihre Strafe ihm auferlegt? Ich wusste nur, dass sie da ein pikantes Geheimnis haben. Welche Strafe meinen Sie?«
Stark schluckte. Langsam zog er seine Hände unter denen von Sandra hervor.
»Progressive Muskelschwäche. Seine Mutter hat ihn gut unterbringen können, bevor sie sich nach Afrika ins Exil begab.«
»Und wer kam für die Kosten auf?«
»Eine Stiftung. Teils privat, teils aus der freien Wirtschaft, aber auch der Klerus hat dort einige Einlagen geleistet.«
»RITCHIE IST TOT!«, fuhr plötzlich Rosis Stimme dazwischen. Sandra und Stark sprangen auf. Das kleine Mädchen stand in der Tür zur Küche. Ihre Augen waren zwei große Scheinwerfer des Entsetzens in ihrem bleichen Gesicht.
»Ritchie ist tot, und die anderen kommen, und sie werden von den Knirschern verfolgt, und wir müssen helfen!«
»Was erzählst du da?«
Sandra hielt das Mädchen an den Schultern und musste sich beherrschen, es nicht nach allen Regeln der Kunst durchzuschütteln.
»Was erzählst du da für einen Mist?«
Statt einer Antwort deutete Rosi auf das Küchenfenster. Sandra unterdrückte ihre Wut. Oh, wie ähnlich sie in diesem Moment ihrem verhassten Vater war! Mühsam atmete sie tief durch, folgte mit ihrem Blick dem Fingerzeig des Kindes und erstarrte.
Über die Felder sah sie in der Dämmerung die undeutlichen Schemen von mehreren Personen. Sie liefen, sofern man das auf dem aufgeweichtem Acker überhaupt laufen nennen konnte. Sie sah eine große, und mehrere kleine Silhouetten, konnte aber keine Einzelheiten erkennen. Eigentlich waren sie zu schnell und zu koordiniert in ihren Bewegungen für Zombies, obwohl ... Dann sah sie dahinter eine ganze Reihe weiterer Schatten.
Und diese liefen nicht.
Sie gingen.
Schleppend.
Unaufhaltsam.
»Das sind Martin und die letzten der Spider-X Gang«, sagte Rosi mit weinerlicher Stimme.
»Und die Knirscher sind hinter ihnen her. Die Knirscher, verstehst du? Sie werden kommen und uns holen!«
*
Martin kämpfte sich durch den schlammigen Acker. Links zog er Gabi, rechts Tom, so gut es ging mit sich.
»Bleibt zusammen«, rief er. »Haltet euch an den Händen und bleibt zusammen!«
Der aufgeweichte Boden schien Finger zu haben. Gierige Finger, die ihm bei jedem Schritt entweder die Schuhe ausziehen, oder noch besser ihn direkt festhalten wollten, damit diese Dinger ihn und die Kinder auch bekommen würden. Der Bauernhof kam einfach nicht näher. Die Knirscher, wie die Kinder sie nannten, dafür schon. Und das, obwohl diese Kreaturen nicht liefen. Das waren also die Knirscher? Handelsübliche Zombies, wie sie seit Romeros Kultklassiker in jedem dritten B-Movie vorgekommen waren? Martin versuchte, seine Angst unter Kontrolle zu halten, die wie ein wildes Tier an den Gitterstäben seiner Vernunft rüttelte. Das war kein Film, das war kein billiges Buch, das hier war brutale Wirklichkeit, wie verrückt sie auch sein mochte. Auf dem Bauernhof vor sich sah er Bewegung. Jemand lief auf einen kleinen Zaun zu, der ein Stück schlammige Wiese vom eigentlichen Feld abtrennte. Das konnte nur ein lebender Mensch sein.
»HILFE!«, rief er atemlos. »Wir brauchen Hilfe!«
Plötzlich surrte etwas heißes an seinem Ohr vorbei. Martin wandte den Kopf und sah hinter sich einen Zombie zusammensacken. Als er sich wieder ihrem Weg zuwandte, sah er einen der Zombies, der von der Seite auf ihn und die Kinder zuhielt. Er war bereits so nah, dass der unbekannte Schütze ihn nicht aus dem Weg räumen konnte, ohne ihn oder die Kinder zu gefährden.
»Karl! Komm weiter hier rüber!«, rief Martin. Karl sah sich erschrocken um, bemerkte den Zombie und strauchelte. Eine Welle der Angst um den Jungen schlug über Martin zusammen. Er schrie, lies Toms Hand los, hob sie in einer verzweifelten Geste der Kreatur entgegen, die nur noch wenige Schritte von Karl entfernt war ... und dann geschah etwas, das Martin vollkommen aus der Bahn warf.
Die Zeit wurde zu etwas Greifbarem, das sich zäh um seine Hand wickelte. Er hörte wieder dieses Knirschen und Knistern, das er schon im Keller der Schule vernommen hatte, spürte etwas durch seinen Geist greifen, das sich zu einem Speer aus purem Willen formte und dem Zombie entgegen flog, der plötzlich mehrere Meter wie in Zeitlupe rückwärts durch die Luft segelte. Martin hörte die brechenden Knochen über das Knirschen und Knistern hinweg. Karl rappelte sich auf und lief unendlich langsam weiter auf den Bauernhof zu. Martin stand wie zur Salzsäule erstarrt auf dem Acker. Tom hatte Gabi an die Hand genommen und war weitergelaufen.
»MARTIN!«
Der Ruf des Jungen. In seinem Kopf oder real? Wie ein Schlafwandler drehte Martin sich wieder den Zombies zu, hörte das leise Knallen von Pistolenschüssen, nicht lauter als Mais der in einem abgedeckten Topf zu Popcorn geröstet wurde, sah weitere Zombies in Zeitlupe zusammenbrechen, bemerkte einen Hünen in einer merkwürdig langen Schutzweste, der etwas über seinem Kopf schwang und auf die Kreaturen losstürmte. Wieder griff etwas nach seinem Geist, formte Willen zu Energie ... und der Kopf eines Zombies, der vielleicht noch zehn Schritte von ihm entfernt war, verschwand in einer rosa Wolke. Ein anderer wurde von dem merkwürdigen Ding in der Hand des Hünen getroffen, und der Kopf des Zombies hüpfte wie ein grausiger Kinderball über den Acker. Das alles geschah mit einer derartigen Langsamkeit, dass Martin sogar Details erkennen konnte. So sah er einen der letzten vier Zombies, wie er sich mit quälender Langsamkeit im Rücken des Hünen auf seinen tödlichen Biss vorbereitete. Die Hände der Kreatur waren im Begriff, den nur von normaler Kleidung geschützten Arm des Mannes zu packen. Martin sah, das dieser Zombie in seinem früheren Leben sehr schlechte Zähne gehabt haben musste, dass er Gummistiefel trug (ein Bauer?), dass ihm ein Stück Nacken fehlte ... Martin konzentrierte sich auf dieses Bild. Er wollte den Fremden warnen, vielleicht den Kopf des Zombies zurückreißen, um ihn am Biss zu hindern, aber er war zu weit weg. Eine tiefe, kreatürliche Angst schoss gepaart mit hilfloser Wut in Martin hoch. Der Kopf des Zombies blähte sich plötzlich auf, seine Gesichtshaut begann zu kochen und bevor er zubeißen konnte, regneten Knochensplitter, Hirnmasse, Haarbüschel und Flocken geronnenen Blutes über die Weste des Hünen. Aus dem Augenwinkel sah Martin mit unbestechlicher Klarheit, wie die Kinder die Sicherheit des Bauernhofes erreichten, und wie der letzte der Zombies von einer Kugel des Schützen getroffen wurde und zusammenbrach. Dann fiel die Zeit mit ihrer gewohnten Macht über ihn herein, spülte über ihn hinweg wie ein unerwarteter Wasserfall. Torkelnd griff Martin sich an den Kopf, der plötzlich vom Summen unzähliger Stimmen erfüllt war. Eine war dabei besonders laut und kräftig, so als würde jemand direkt neben ihm stehen.
Bei Gott, sagte diese Stimme. Das ist beinahe wie die Schlacht am OK-Corral gewesen. Nur dass dort niemand wie der Zauberer von OZ mit unsichtbaren Kräften eingegriffen hat.
Martin sah sich unsicher um. Der Hüne kam auf ihn zu.
Ich muss mich erstmal um den jungen Mann kümmern. Er sieht verletzt aus. Hoffentlich wurde er nicht gebissen. Alles andere kann warten.
Martin traf die Erkenntnis wie ein Vorschlaghammer.
Ich kann tatsächlich Gedanken lesen! Ich bin wahrhaftig selbst ein Freak!
Mit einem Ächzen flüchtete er sich in die dunklen, weichen Arme einer Ohnmacht.