Kitabı oku: «Chronik von Eden», sayfa 8

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Kapitel XII - Der dunkle Nomade

Frank sah sich orientierungslos um.

Wo war er?

Wie war er hierhin gekommen?

Um ihn herum herrschte die totale Verwüstung. Geschmolzenes Glas glitzerte wie Miniaturgletscher auf welligem Asphalt. Die Luft schmeckte nach ätzenden Dämpfen, über allem lag der schwere Geruch von Rauch. Schwarze Hausruinen blickten aus Fenstern, die leeren Augenhöhlen glichen, auf ihn herab. Mit zitternden Beinen folgte er dem, was einst eine Straße gewesen musste.

Plötzlich blieb er stehen.

Er erkannte diesen Ort.

Das war die Aachener Straße.

Hier wollte er sich mit jemandem treffen. Jemandem, der sehr wichtig für ihn war. In seiner Erinnerung blitzte das Bild roter Haare auf, die im Sonnenuntergang wie flüssiges Feuer ein blasses Gesicht umflossen. Katzengrüne Augen, die ihn polierten Jadesteinen gleich anfunkelten.

Ein Name stieg zu diesem Bild in seinem Geist auf.

Sandra.

Hier wollte er Sandra treffen, wer immer das auch war.

»Tja, mein Freund«, erklang hinter ihm eine freundliche Stimme. »Scheinbar hat sie dich versetzt.«

Frank wollte herumwirbeln, aber es wurde nur ein unbeholfenes Wanken daraus. Ein Mann stand da. Groß und hager, in einen teuer aussehenden, dunklen Anzug gekleidet. Aus der Westentasche seines Anzugs hing eine Kette heraus.

Eine Taschenuhr?

Frank sah genauer hin. Eigentlich sah der Mann gar nicht wie ein Mann aus. Er hatte etwas weibliches an sich, das seine Stimme Lügen strafte.

»Und wenn ich es recht bedenke, kann ich es ihr auch nicht im Geringsten verübeln.«

Wie von Zauberhand erschien ein Spiegel in der Hand des merkwürdigen Mannes. Er ging auf Frank zu und hielt den Spiegel so vor sich, wie ein Geisterjäger ein Kreuz einem Vampir vor das bleiche Gesicht halten mochte. Mit einem Aufschrei torkelte Frank zurück.

Eine blutige Masse aus rohem Fleisch sah ihm aus dem Spiegel entgegen. Die Nase ein dunkles Loch in einem unruhigen, blasenübersäten Meer aus roter Masse, die Augen zwei eiskalt funkelnde Seen ohne Lider.

Ein Monstrum!

Aus ihm war ein Monstrum geworden!

Frank ließ sich weinend auf die Knie fallen, bedeckte sein Gesicht mit den Händen, wollte nichts mehr sehen, nichts mehr spüren.

»Du Dummerchen«, sagte der merkwürdige Mann mit einer Stimme, in der boshafte Belustigung mitschwang. »Du kannst gar keine Schmerzen verspüren. Merkst du das nicht?«

Frank horchte in sich hinein. Doch, da war Schmerz. Aber er war nicht körperlich. Er lag viel tiefer.

»Ah, siehst du? Jetzt nähern wir uns dem Kern der Sache.«

Eine Hand legte sich tröstend auf Franks Schulter. Er nahm seine Hände vom Gesicht und sah auf. Der Mann hielt ihm mit spitzen Fingern und angewidertem Gesicht ein dunkles Tuch hin.

»Bedecke damit dein Antlitz, mein Freund. Mach es wie die Nomaden der Wüste. Damit ersparst du deiner Umwelt ... nun ... es wäre schicklicher, wenn du verstehst, was ich meine.«

Frank nahm das Tuch und tat, was der Fremde von ihm erwartete. Er spürte tatsächlich nichts, als der Stoff sein wundes Fleisch berührte. Nur den Schmerz der Scham und des Verlustes, der in ihm bohrte und nagte. Was würde Sandra sagen, wenn sie ihn so sehen könnte?

»Spürst du außer diesem kindischen Schmerz, den ihr so poetisch Liebeskummer nennt, denn nicht noch etwas anderes? Da unten, da ganz tief in dir drin? Dort, wo ihr Menschen all das Dunkle gut verschlossen aufbewahrt, das ihr in dem Miteinander, das ihr so hochtrabend als Zivilisation bezeichnet, niemals offen zeigt? Diese natürliche Wut und die Gier nach Macht und Anerkennung, die ihr lieber vor eurem Nächsten versteckt haltet?«

Die Fragen prasselten dicken Hagelkörnern gleich auf Frank ein. Verdammt nochmal, das Denken fiel ihm so schwer! Warum konnte der Fremde ihn nicht einfach in Ruhe lassen. Einfach gehen, und ihn hier alleine und in Frieden sterben lassen?

»Weil du schon tot bist, du Narr.«

Frank erstarrte.

»Du bist tot, weil SIE sich ihrer Wut und ihrer Gier nicht verschlossen hat. SIE ist jetzt die Heldin, SIE ist jetzt die Anführerin derjenigen, für die DU dich geopfert hast. Sag mir, mein Freund, ist das gerecht?«

Frank erzitterte.

Nein, es war nicht gerecht!

»Ist es dir also egal, dass du jetzt einer von denen bist? Ein Zombie, eine hirnlose, triebgesteuerte Fressmaschine?«

Wut kochte in Frank hoch.

»Tja, dann muss ich dir leider sagen, dass du ein Ausgestoßener bist. Ein Wanderer zwischen den Welten. Die Untoten werden dich nicht akzeptieren, weil immer noch Leben in dir ist, und die Lebenden werden dich jagen, weil du für sie tot bist.«

Ein Laut des Schmerzes drang aus dem Tuch vor Franks Gesicht. Ein Schrei, der scheinbar endlos über die verwüstete Straße hallte. Als der letzte Ton seines Schreis in der Luft verblutete, nur noch ein haltloses Wimmern aus seinem Mund drang, hockte der Fremde in dem dunklen Anzug sich neben Frank. Er nahm ihn in den Arm, wie es nur ein guter Freund tun würde.

»Dann bleibt dir eigentlich keine große Wahl, findest du nicht?«

»Welche Wahl meinst du?«

Frank kam seine eigene Stimme fremd und Angst einflößend vor. Krächzend, tief, nicht von dieser Welt.

»Du kannst auf ewig ein einsamer Wanderer bleiben. Ständig auf der Flucht vor den Untoten und den Lebenden. Oder du entscheidest dich für eine Seite.«

Frank horchte in sich hinein. Sandra hatte ihn im Stich gelassen, ihn verraten, um sich selber zur Anführerin über die Kinder aufzuschwingen. Der Fremde klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter.

»Ja, so sehe ich das auch. Also bleibt ja nur eine Seite übrig.«

Frank sah verwundert auf, als vor ihm Schritte erklangen. Fünf Untote standen reglos vor ihm. Sie sahen nicht allzu verletzt aus. Als er sich umblickte, war von dem seltsamen Fremden nichts mehr zu sehen. Seine Stimme schien jedoch von überall zugleich zu kommen.

»Dies, mein Freund, ist erst der Anfang. Es ist der Grundstock für eine Streitmacht, die unter deinem Kommando steht. Gehe hin, jage und vernichte die letzten Überlebenden der Menschheit. Töte die letzten Sünder, die sich Gottes Gericht entzogen haben. Werde der dunkle Nomade, die Nemesis der Letzen. Dann, mein hasserfüllter Freund, wirst du endlich den Frieden und die Anerkennung finden, nach denen dich dürstet.«

Frank stand auf. Der Fremde hatte recht. Ihn dürstete nach Frieden und Anerkennung. Nach einem letzten Blick auf die Trümmer der Stadt drehte er sich um und marschierte los.

Und die Toten folgten ihm, dem dunklen Nomaden, der Nemesis der Letzten.

Ende des ersten Buches der Chronik von Eden


Zweites Buch: Die Vergessenen

von D.J. Franzen

Kapitel I - Kriegsrecht

Einige Zeit vor den Ereignissen, die im ersten Buch geschildert wurden ...

Martin erwachte im matten Licht der Nachttischlampe und spürte Karins Körper an seiner Seite. Ein Gefühl, als läge ein Stück weißer Kohle neben ihm. Vorsichtig richtete er sich auf und griff nach dem Fieberthermometer. Karin hustete und Martin schalt sich selber einen Narren. Fiebermessen war so ziemlich das Nutzloseste, was er für Karin tun konnte. Seit fünf Stunden war ihre Körpertemperatur bei konstant neununddreißigfünf. Das Rumpeln eines Lasters hallte durch die Dunkelheit. Martin sah auf die Uhr. Halb vier. Der letzte Wadenwickel lag eine Dreiviertel Stunde zurück. Immerhin. Dreißig Minuten Schlaf am Stück.

Mit einer müden Geste rieb er sich über das Gesicht. Er wollte zippeln und zappeln, sich kratzen und streicheln, seine Finger fingern, seine Knöchel knöcheln lassen.

Martin wollte einen Schuss.

Ein Sniff würde es auch tun, aber ein Schuss wäre besser.

Viel besser!

Nur einen Kleinen, der ihn beruhigen würde, keinen zum Wegdämmern in das Land der Träume und des Vergessens. Er atmete tief durch, kämpfte gegen die Dämonen seines Verlangens an. Ein weiterer Atemzug, und das Verlangen wich langsam zurück. Lauernd wie ein Raubtier auf der Jagd. Er wandte sich zur Seite und strich Karin eine Haarsträhne aus den Augen. Sie waren offen, aber ihr Blick ging in eine Ferne, in die er ihr nicht folgen konnte. Feiner Schweiß stand ihr auf der Stirn und ihr Atem kam in schweren Stößen, begleitet von einem leise gurgelnden Geräusch.

»Liebling? Bist du wach?«

Keine Reaktion. Ob er ihr noch ein Fieberzäpfchen geben könnte? Oder doch besser einen frischen Wadenwickel? Nein, entschied er. Hier konnte nur noch ein Arzt helfen. Martin nahm Karins Hand und hauchte einen Kuss auf ihren Handrücken.

»Halte durch, Kleines. In zwei Stunden ist der Notverkehr wieder erlaubt. Ich werde einen Arzt für dich finden.«

Karins Kopf rollte haltlos in seine Richtung. Ihr Blick war immer noch verschleiert, aber ihre Stimme kam überraschend klar über ihre aufgesprungenen Lippen.

»Vergisses.«

Martin zuckte zusammen. Karin hustete. Zwischen den einzelnen Attacken holte sie röchelnd Luft. Er wollte ihr helfen, sich aufzusetzen, aber sie drückte ihn mit einer schwachen Geste weg.

Vergisses. Dieses eine Wort hatte ihn tiefer getroffen als er es sich selber gegenüber zugeben wollte. Instinktiv blickte er zum Ringfinger ihrer linken Hand. Nackt. Warum auch nicht? Seine eigene Schuld, wenn er seinen Ring immer noch offen zur Schau stellte. Martin schreckte aus seinen Gedanken auf. Karin hatte sich aufgesetzt und sah ihn an.

»Was hast du gesagt?«, fragte er.

Karin schüttelte schwach den Kopf.

»Du hörst mir nie zu. Ständig schwebst du in Gedanken bei der nächsten Story, dem nächsten Sensationsbericht oder deinem Scheißroman.«

»Karin, bitte. Ich –«

»Ich habe dich gefragt, warum du überhaupt zurückgekommen bist«, fuhr sie ihm ins Wort.

»Ich dachte, du würdest mich brauchen.«

Karin sah ihn mit einem undefinierbaren Blick an. Verlegen sah er weg.

»Und das ist alles? Du dachtest, ich würde dich brauchen?«

Er seufzte. Zwecklos darüber noch ein Wort zu verlieren. Sie war es schließlich gewesen, die ihm den Ring vor die Füße geworfen hatte, bevor die Welt in Richtung Abgrund taumelte. Nicht er. Martin beschloss, dass es besser wäre, das Thema zu wechseln.

»Sobald es geht, fahre ich dich ins Krankenhaus. Du brauchst Hilfe. Ich kann hier nichts mehr für dich tun.«

»Den Weg kannst du dir sparen.«

Er sah sie verwundert an.

»Warum?«

»Ich habe die Seuche. Egal was die auf den Notsendern sagen. Du kannst es auch in deinen eigenen vier Wänden kriegen. Ohne Kontakt zu anderen Menschen.«

Martin schüttelte energisch den Kopf.

»Wenn es dich erwischt hätte, wärst du schon vor Stunden verblutet. Jedenfalls sagen das die Experten im Radio. Außerdem hast du keine Wahnvorstellungen.«

Martin musterte sie misstrauisch.

»Oder etwa doch?«

Karin lachte leise auf.

»Hast du eine Ahnung. Ich habe eben tatsächlich geglaubt, dass wir beide wieder in Spanien sind. Du hast Durchfall und verpestest im gesamten Hotel die Luft. Ich liege am Strand und schaue den braun gebrannten Eingeborenen hinterher.«

Jetzt musste Martin auch lächeln. Ihre Flitterwochen, wie sie das verlängerte Wochenende zu ihrer Verlobung großspurig genannt hatten. Ein Kichern rollte seine Kehle hoch.

»Du hattest diesen mörderischen Badeanzug eingepackt. Den Knallroten, mit dem Ausschnitt vom Hintern bis zum Hals. Ich wollte dich so nicht an den Strand lassen. Aber die spanische Küche ...«

Er kicherte und Karins Lächeln wurde breiter, als sie den Satz vollendete.

»Hat dich God save the Queen aus der falschen Körperöffnung pfeifen lassen.«

Für einen Moment vergaß Martin alles um sie herum. Keine Seuche, keine Leichen auf den Straßen ... es gab nur sie beide für ihn. Vorsichtig legte er einen Arm um Karins Schultern und genoss das Kitzeln ihrer Haare auf seinem Gesicht. Sie ließ es geschehen und lehnte ihren Kopf bei ihm an.

»Wir hatten auch unsere guten Zeiten, oder nicht?«, fragte er.

»Ja. Die hatten wir wirklich, du rasender Reporter des Unglaublichen.«

Ja, ihre guten Zeiten. So wie ihr erster Ausflug ins Grüne. Martin lächelte und schloss die Augen. Und das warme Gefühl der Vertrautheit brachte ihm die Bilder der Vergangenheit.

*

Die letzten Prüfungen hatten hinter ihnen gelegen, der Stress der Abschlussfeier war verflogen, und Karins Blick aus dem offenen Fenster seines Minis war verträumt gewesen. Verträumt und erwartungsvoll, was ihnen die Zukunft wohl bringen mochte. Der Wind hatte mit seinen luftigen Fingern in ihrem Haar gespielt. Im Schein der Frühlingssonne war es zu einem Feuer geworden, in dem er ohne mit der Wimper zu zucken verbrennen würde, sollte sie es von ihm erwarten.

Sie waren jung.

Sie waren frisch verliebt.

An einer abgelegenen Stelle hatte er den Wagen abgestellt und sie waren in die Büsche gelaufen. Karins Augen hatten listig gefunkelt. Dann waren sie an eine kleine Lichtung gekommen, umschlossen von dichtem Unterholz. Ein Zwinkern und Karins Bluse hatte den Blick auf ihre Brüste freigegeben. Martin hatte sich im siebten Himmel geglaubt, während Karin sich lächelnd an ihn geschmiegt hatte und er ...

*

... schreckte auf.

Verdammt! Er war eingenickt. Karins Wange lag auf seiner nackten Brust. Sie fühlte sich angenehm kühl an. Endlich. Das Fieber war weg. Er atmete auf.

»Karin?«

Keine Antwort. Keine Atemgeräusche. Die Erleichterung wich eisigem Schrecken. Er schüttelte sie sachte.

»Karin?«

Ihr Körper fiel haltlos auf seinen Schoß.

Aus ihren Augen flossen blutige Tränen.

*

In den Kliniken der Universität zu Köln herrschte Chaos. Martin sah Notbetten im Hauptgang, hustende Menschen, Menschen mit Fieber und Solche, die sich nicht mehr selber auf den Beinen halten konnten. Dazwischen Ärzte, Schwestern und Pfleger, die verzweifelt versuchten, Ordnung in das Chaos zu bringen. Martin stand im Eingang und blickte hilflos umher. In seinen Armen trug er den leblosen Körper Karins. Er sah einen hustenden Mann zwischen zwei Betten stehen. Plötzlich wurde aus dem Husten ein Würgen. Ein Schwall Blut schoss dem Mann aus dem Mund. Die Menschen stoben schreiend auseinander und rempelten sich gegenseitig an. Ein Kind stürzte und verschwand im Meer der Beine. Der Mann brach zusammen. Ein Arzt rannte zu dem Gestürzten. Pfleger und Schwestern versuchten die Menschen zu beruhigen. Jemand stieß Martin zur Seite und stürmte würgend, eine Hand vor dem Gesicht, an ihm vorbei. Martin taumelte und konnte nur mit Mühe das Gleichgewicht halten.

»Keine Sorge, Karin. Ich finde einen Arzt für dich«, murmelte er. Dann sah er in dem Getümmel den Arzt, der sich um den Gestürzten kümmerte. Martin schob sich rücksichtslos durch das Gedränge auf ihn zu.

»Hallo? Ich brauche Hilfe.«

Der Mann seufzte und sah Martin aus rotgeränderten Augen von unten her an. Dann bemerkte er den Körper in seinen Armen. Wortlos stand er auf und hob die Haare aus Karins Gesicht. Den Gefallenen beachtete er nicht weiter.

Egal.

Es ging um Karin.

»Sie ist erst gestern Morgen erkrankt. Wissen Sie, wir haben uns in unsere Wohnung eingeschlossen und sind nicht vor die Tür gegangen. Sie kann die Seuche also nicht haben.«

Der Arzt legte ihr die Fingerspitzen an den Hals.

»Ich wäre ja früher gekommen, aber die Ausgangssperre und die Soldaten auf den Straßen ...«

Martin stockte. Tränen verschleierten seinen Blick. Der Arzt hob den Blick und schüttelte den Kopf.

»Sie ist tot.«

»Das kann nicht sein. Sie hat die Seuche nicht. Wir waren doch seit drei Wochen nicht mehr draußen gewesen.«

Der Arzt nickte jemandem hinter Martin zu und verschwand in dem Gewühl auf dem Gang. Martin starrte hilflos hinter ihm her.

»Aber sie ist nicht tot!«

Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Er drehte sich um und sah einen Soldaten im Schutzanzug vor sich stehen. Hinter dem Soldaten standen zwei weitere.

»Geben Sie sie her«, kam es dumpf aus der Maske.

»Aber ... das ist meine Verlobte. Sie kann die Krankheit nicht haben.«

»Und wenn es die heilige Jungfrau Maria persönlich wäre. Der Arzt hat sie für tot erklärt. Ihre Leiche wird wie die der anderen Toten verbrannt.«

Wut und Verzweiflung kamen in Martin hoch. Seine Muskeln spannten sich. Die Soldaten hinter dem, der ihn angesprochen hatte, hoben langsam ihre Waffen. Die Menschen wichen in dem engen Gang so gut es ging zurück. Martin schluckte. In Deutschland herrschte Kriegsrecht. Sollte er es riskieren, standrechtlich erschossen zu werden? Er konnte für Karin nichts mehr tun.

Es war zu spät.

Dieser letzte Gedanke rollte mit einer Wucht durch sein Denken, das es ihm schwindelte. Ein heißes Brennen schoss in seine Augen. Er blickte auf den leblosen Körper in seinen Armen. Ein dumpfer Schmerz schnürte ihm die Kehle zu. Die Stimmen der Menschen wurden zum sinnlosen Murmeln eines weit entfernten Meeres, dessen Wellen an einer einsamen Küste leckten. Sein Blickfeld zerfranste an den Rändern seiner bewussten Wahrnehmung. Die Wirklichkeit kippte.

Zu spät.

Er hatte zu lange gewartet.

Die Worte hallten wie ein Mantra immer wieder durch sein Denken. Er hob den Blick, ohne zu sehen. Der Soldat neigte den Kopf zur Seite.

»Wenn Sie wollen, können Sie mitkommen und sie selber ins Feuer legen.«

Die Stimme, eben noch dumpf und ohne eine Spur Emotion, bekam einen weichen Klang. Martin nickte dem Soldaten zu. Sein Körper gehörte nicht mehr ihm, als er hinter dem Soldaten auf die Straße trat.

Karin war tot.

*

Vor dem Eingang zur Notaufnahme stand ein Lastwagen mit offener Ladefläche. Unzählige Leichen bildeten dort bereits einen Berg aus verdrehten Körpern. Zwei Soldaten nahmen ihm Karins Leiche ab und warfen sie auf den Berg zu den anderen. Der Anblick versetzte Martin einen Stich, durchdrang den Schmerz, der sich betäubend um sein Denken gelegt hatte. Dann kam die bittere Erkenntnis.

Es war zu Ende.

Endgültig.

Der Soldat, der Martin hinausgeführt hatte, deutete ihm die Richtung zu einem Militärlaster mit Plane. Ein blasses Gesicht schaute aus der Dämmerung unter der Plane hervor. Martin schlich mit hölzernen Beinen in die angegebene Richtung. Bevor er in den Wagen stieg, schaute er hoch. Der Himmel hatte die Farbe eines Blutergusses und der Wind trieb tiefschwarze Wolken vor sich her. Es würde bald anfangen zu regnen. Mit einem letzten Blick zu dem Wagen, auf dem Karin zwischen all den anderen Toten lag, kletterte er auf die Ladefläche und setzte sich auf eine Pritsche. Am vorderen Ende der Ladefläche, zur Fahrerkabine hin, saßen zwei Soldaten. Auch sie trugen Masken und Schutzanzüge.

Ameisen.

Einfache Arbeiter ohne Hirn, die nur den Duftspuren ihrer Befehle folgten.

Martin wandte seinen Blick ab und sah vor sich den einzigen anderen Zivilisten sitzen. Einen hohlwangigen Mann in einem zerschlissenen Anzug. Der Mann bemerkte seinen Blick. Er griff in die Innentasche seines Jacketts. Die Soldaten hoben ihre Waffen. Mit einem schwachen Lächeln, und einem Seitenblick zu den Soldaten, zog der Mann ein silbernes Zigarettenetui hervor. Mit einem fragenden Blick hielt er es vor Martin. Der zögerte. Vor drei Monaten hatte er es endlich geschafft, dieses Laster aufgegeben, genauso wie das Schnupfen. Dafür hatte er jetzt in der Leiste, direkt neben den Hoden, einen Stelle, die wie das kalte Buffet einer Horde Moskitos aussah. Ein weiterer Moment des Zögerns. Dann nickte er und nahm dankend eine Zigarette heraus. Vor seinem geistigen Auge sah er Karin, wie sie missbilligend die Stirn runzelte.

»Declan Smith«, sagte der Mann in akzentfreiem Deutsch. Er beugte sich vor und gab Martin Feuer.

»Freier Handelsvertreter für Gentronics Pharmaka.«

Martin inhalierte den Rauch der Zigarette tief. Karin war tot. Es war keiner mehr da, der wegen einer Zigarette Streit anfangen würde. Hinter einem Vorhang aus blauem Dunst stellte er sich vor.

»Martin Martinsen. Ehemals freier Journalist für die XXX-NEWS. Jetzt arbeitslos.«

Declans Lächeln wuchs in die Breite.

»Das Revolverblatt, mit den wöchentlichen Meldungen über Wiedergänger, Entführungen durch Außerirdische und UFO-Sichtungen?«

Martin nickte. Die Zigarette schmeckte nach alter Matratzenfüllung. Karins Rache aus dem Reich der Toten, oder eine Folge seines nahenden Turkeys?

»Dann muss das hier für Sie ein gefundenes Fressen sein, oder? Was halten sie von den Gerüchten, die man überall hört? Die Grippetoten sollen als Zombies wiederauferstehen und die Lebenden fressen«, sagte Declan. Sein Lächeln wirkte aufgesetzt und er machte eine vage Handbewegung nach draußen. Martin schüttelte den Kopf.

»Wie gesagt, ich bin arbeitslos.«

Zwei weitere Soldaten stiegen ein und blockierten den Ausstieg. Mit einem Ruck fuhr der Lastwagen an.

»Wo waren Sie als es losging?«, fragte Declan. Martin zog noch einmal kräftig an der Zigarette und schnippte den Stummel auf die Straße. Unter den derzeitigen Umständen würde er dafür wahrscheinlich keinen Strafzettel bekommen. Der Affe in seinem Nacken begann ihn langsam und gleichmäßig durchzurütteln.

»Ich war bei meiner Verlobten.«

»Und ich war auf dem Weg nach Hause. Saß im Flieger von Genf nach London.«

Declan zögerte. Dann holte er zitternd Luft.

»Der Pilot musste die Flugroute ändern. Im Korridor über dem Kanal war die Hölle los. Kurz vor dem Flughafen Charles-de-Gaulle kam dann die nächste Hiobsbotschaft. Paris wurde unter Quarantäne gestellt und desinfiziert. Was immer das auch heißen mag. Mit dem letzten Tropfen sind wir dann auf dem Köln-Bonner gelandet.«

Sehr interessant. Karin war tot. Was juckte ihn da die Lebensgeschichte eines Fremden? Vielleicht könnte sie noch leben, wenn er auf die Ausgangssperre geschissen hätte. Hatte er falsch reagiert? Martin griff in die Innentasche seiner Jacke. Dort hatte er einen kleinen Notvorrat an Nasenzucker. Er holte die kleine Phiole hervor. Declans Blick brannte auf seinem Gesicht. Martin hielt ihm die Phiole unmerklich hin, was Declan mit einem Kopfschütteln beantwortete. Martin schnippte den Deckel auf und tat so, als müsse er sich vorsichtig schnäuzen.

Eine angenehme Ruhe überkam ihn. Vorsichtig steckte er sein kleines Geheimnis wieder in die Jackentasche. Eine heisere Stimme schallte in das Innere des Armeelasters und riss Martin aus seinen Gedanken.

»Der Herr aber sprach zu Gideon: Des Volkes ist zu viel, das mit dir ist. So lass nun ausrufen vor den Ohren des Volkes und sagen: Wer blöde und verzagt ist, der kehre um. Da kehrten des Volks um Zweiundzwanzigtausend, dass nur Zehntausend übrig blieben.«

Der Laster hielt mit einem Ruck an und die Soldaten, die ihnen bisher den Ausgang versperrt hatten, sprangen raus. Martin schaute ihnen desinteressiert hinterher. Ein nackter Mann torkelte über den nassen Asphalt. Er hielt ein Schild über seinen Kopf erhoben. Ein großes Kreuz und die Worte Gehet hin und tuet Buße, ihr Sünder, prangten in blutroter Schrift auf schwarzem Hintergrund.

»Und der Herr sprach zu Gideon: Des Volks ist noch zu viel. Führe sie hinab ans Wasser, daselbst will ich sie dir prüfen. Und er führte das Volk hinab ans Wasser.«

Martin runzelte die Stirn. War das nicht eine Passage aus der Bibel? Das Buch Gideon oder so? Einer der Soldaten sprach den Propheten an. Martin konnte seine Worte nicht verstehen. Sie kamen nur als dumpfe Laute unter Maske hervor. Der Prophet reagierte nicht und schrie weiter.

»Und der Herr sprach zu Gideon: Wer mit seiner Zunge Wasser leckt, wie ein Hund, den stelle besonders. Desgleichen, wer auf seine Knie fällt zu trinken. Da war die Zahl derer, die geleckt hatten aus der Hand zum Mund, dreihundert Mann.«

Der Soldat schrie etwas, das Martin wegen der Maske aber nicht verstehen konnte. Der nackte Prediger holte Luft und der Soldat verpasste dem Mann einen Fausthieb auf den Mund. Martin zuckte zusammen. Er glaubte das Knirschen der Zähne zu hören, aber das konnte nur eine Einbildung sein. Der Irre rief weiter seine Botschaft ans Volk, jetzt aber wesentlich undeutlicher.

»Und der Herr sprach zu Gideon: Durch die dreihundert Mann will ich euch erlösen. Aber das andere Volk lass gehen.«

Das letzte Wort ging in einen erstickten Klagelaut über. Martin sah zurück auf die Straße. Der Nackte hielt sich mit beiden Händen den Schritt und sackte in die Knie. Sein Mund ein rotes O der Überraschung und des Schmerzes. Das Schild lag neben ihm im Schmutz der Straße. Einer der Soldaten zielte mit seiner Pistole und schoss. Die Schädeldecke des Propheten verschwand in einer rosa Wolke.

Martin wollte aufstehen, den Soldaten anschreien, herrschte doch schon genug Leid überall, als er ein scharfes Knacken hinter sich hörte. Er blieb ganz steif in seiner halb aufgerichteten Position. Eine Hand legte sich auf seinen Arm. Er drehte sich um. Einer der Soldaten, die im Laster geblieben waren, hielt ihm seine Pistole vor das Gesicht. Declan schüttelte leicht den Kopf.

Es dauerte einen Augenblick, bis Martin sich dieser Situation voll bewusst wurde. Declans Stimme drang dumpf durch den Vorhang aus Unglauben um sein Denken.

»Kriegsrecht.«

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Yaş sınırı:
0+
Litres'teki yayın tarihi:
22 aralık 2023
Hacim:
1497 s. 12 illüstrasyon
ISBN:
9783957771285
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Yayıncı:
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