Kitabı oku: «Das Schweigen der Familie», sayfa 3

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Donnerstagmittag, 13. Juni

Es war noch früher Mittag, als sie Marias Haus verließen. Fiebrig wankte Baptista durch den Garten. Auf dem Weg zum Auto stützte er sich mehrmals an einigen Pfosten ab. Etwas Eigenartiges kam ihm ins Gesichtsfeld, aber er war zu müde, um darüber nachzudenken. Es passte nicht mehr in seinen wummernden Kopf. Er bat, in die Pension zu fahren und erst am Nachmittag mit der Untersuchung fortzufahren. Kaum angekommen, musste er sich vor Schmerz übergeben. Dann trank er Leitungswasser und sank in einen kurzen komaähnlichen Schlaf. Als er aufwachte, hatte er hohes Fieber, jedenfalls fühlte sich sein Körper so an. Dennoch ging es ihm besser als zuvor. Seine Kopfschmerzen hatten nachgelassen. Langsam setzte er sich auf. Er musste einige Stunden geschlafen haben. Aber für eine kurze Befragung war noch Zeit. Er zog sich erneut um. Dann ging er nach unten und rief bei Delgado an. Dessen Frau war am Telefon und sagte ihm, dass Delgado in der Bar Di Caldeirão zu finden sei. Ohne einen genauen Plan, wo das sein könnte, lief Baptista Richtung Zentrum los.

Die kleine Stadt hatte eine intensive Wirkung auf jeden Betrachter. Man konnte jedem Winkel seine Besonderheit ansehen. Nur dreihundert Menschen auf kleinstem Raum. Eine geschlossene Gemeinschaft. Kaum Infrastruktur, ein Arzt, der gelegentlich vorbeikam. Alle versuchten gemeinsam der Natur zu trotzen. Waren nicht alle irgendwie gleich? Jeder hatte Fischer in seiner Familie und Bauern. Es gab hier keine Programmierer oder Finanzmakler. Warum auch? Für wen sollte man denn eine Villa mit Pool haben? Mit einem Auto konnte man vielleicht zwanzig Minuten fahren. Niemand braucht dafür eine Luxuskarosse. Auch die Fassaden der Häuser. Für wen machte man sie schön? Für die eigene Verwandtschaft? Es war einfach zu klein für große Unterschiede. Baptista lief einige Straßen in Richtung des ansteigenden Teils der Stadt. Als er an einem der kleinen Häuser vorüberging, hörte er Stimmengewirr und Musik. Er ging einige Schritte zurück. Dann erkannte er, dass hier die besagte Bar sein musste. Er trat ein. Die Stimmen verstummten. »Baptista, hier bin ich. Setzen Sie sich, bis ich mein Bier ausgetrunken habe.« Baptista konnte in der Dunkelheit nicht sofort sehen. So stieß er schmerzhaft gegen eine Tischkante, als er in Richtung von Delgados Stimme ging. Allmählich begannen die Gestalten um ihn herum wieder zu sprechen. »Geht es Ihnen besser?«, fragte Delgado. »Geht so. Ich brauche gleich morgen den Arzt.« »Wie sollen wir weiter machen?« »Wir sollten die Geschwister besuchen.« »Gut. Marias Schwestern wohnen hier in der Straße.« Delgado trank sein Bier aus, warf ein Geldstück auf den Tisch und nickte den anderen beim Hinausgehen kurz zu.

Sie gingen wenige Schritte. Dann klopfte Delgado und trat ein. »Ich komme gleich«, hörten sie aus dem oberen Stockwerk. Eine sechzehnjährige Schwarzhaarige lief mit gekonntem Hüftschwung die Treppe hinunter. »Ach du bist’s, Magdalena. Ist deine Mutter da?« »Sie ist bei Lorenzía. Geht doch einfach rüber. Was gibt’s denn?« »Baptista. Sehr erfreut. Ich bin der Comissário. Einige Fragen müsste ich Ihrer Mutter stellen.« »Wir gehen gleich rüber«, meinte Delgado etwas abrupt. »Dann können wir ihre Schwester gleich mitbefragen.« Baptista fühlte sich etwas übertölpelt. Familienangehörige gemeinsam zu befragen, hatte sich in seiner Arbeit als ungünstig erwiesen.

Zumeist gibt es klare Hierarchien und der eine plappert dem anderen nur nach. Er fühlte sich aber auch zu schwach, um zu protestieren. Als sie rausgingen, bemerkte er nicht, dass Magdalena schnell zum Telefon lief.

Zwei Häuser weiter war schon das Haus von Sophia. Wie üblich ein kurzes Klopfen, bevor sie in das nicht abgeschlossene Haus eintraten. »Sophia? Lorenzía?« »Wir sind im Garten!«, rief es. Sie gingen in den Garten, wo die beiden Frauen bei einem Erva do Calhau, einer wunderbaren Süßspeise, saßen. »Darf ich vorstellen, Senhor Baptista vom Kontinent.« »Meine Damen, entschuldigen Sie die Störung, aber im Zusammenhang mit Franciscos Tod habe ich einige Fragen zu stellen.« »Selbstverständlich«, lächelte ihn Sophia an. Sie war vielleicht vierzig Jahre alt, sah aber aus wie ein pummeliges, rundes Mädchen. Ihre Wangen waren rosa gefärbt und sie strahlte eine unverbesserliche gute Stimmung aus. Lorenzía wirkte wie das Gegenstück. Dunkle Augenringe dominierten ihr Gesicht. Es war hager und hatte durch ihre Frisur und ihre helle Haut etwas Düsteres. »Fragen Sie.« »Hatte Francisco irgendwelche Feinde, von denen Sie beide wissen oder vielleicht andere offene Streitigkeiten?« Die beiden Schwestern schauten sich an. Man konnte förmlich sehen, wie zwischen ihren Augen die Gedankengänge hin und her strömten. Schließlich antwortete Lorenzía mit ihrer dunklen Stimme: »Francisco war unser Schwager. Es ist schwer, über seinen Schwager zu sprechen. Aber vielleicht kann man schon sagen, dass er nicht der Beliebteste auf der Insel war. Sein Vater hatte eine harte Hand. Und er glaubte, dass Schläge einen Mann härter machen würden. Pão und Francisco hatten beide ihre Art damit umzugehen. Während Pão sich in sein eigensinniges Dasein zurückzog, gab Francisco seine Wut immer an die anderen weiter.«

»Aber er hatte auch seine lieben Seiten«, warf Sophia ein. »Er beschützte mich gelegentlich vor Horazio und dessen Bande.« »Du bist immer so nachsehend. Erinnerst du dich noch, wie er Pão verprügelt hat? Wir dachten, er sei tot. Wie auch immer. Weil jeder so seine Erfahrung mit Francisco gemacht hat, gab es eine Reihe von Feinden.« »Meine Schwester hat ihm nicht gut getan«, warf Sophia ein. »Diese Ziege. Sie wollte immer nur, dass er arbeitet. Nie hat sie ihm eine Pause gegönnt. Und selbst war sie immer mit Kleinigkeiten beschäftigt.« Baptista versuchte verzweifelt die Namen und Erzählungen zu notieren. Seine Hand war durch das Fieber aber noch langsamer als sonst. Schließlich gab er auf. »Gab es denn jemand Besonderen unter diesen Menschen? Jemand, dem sie einen Mord zutrauen würden?« Wieder sahen sich die Schwestern an. Baptista sah es kurz in Lorenzías Augen aufblitzen. Da wusste er, dass sie einen Verdacht hatten. »Nein«, sagte Lorenzía. »Nicht, dass wir wüssten.« Sophia nickte zustimmend und aß den Rest des Desserts.

Lorenzía entschuldigte sich kurz und ging ins Haus. Von der anderen Gartenseite rief ein Bekannter Delgado etwas zu. Er ging zu ihm und so war Baptista kurz mit Sophia allein. Sie lächelte verschämt. Dann wisperte sie kichernd und leise: »Der alte Bastelio hat ihm letzten Monat gedroht. Wegen des neuen Grundstücks. Aber sagen Sie bloß nicht, dass Sie es von mir haben.« Als Lorenzía wieder in den Garten kam, lachte Sophie übertrieben. In ihren Augen war aber eine kleine Träne zu sehen. Das war die erste Person, die um Francisco zu trauern schien. »Vielen Dank für Ihre Zeit«, verabschiedete sich Baptista. »Möglicherweise muss ich Sie in den kommenden Tagen noch einmal stören.« Delgado nickte seinem Bekannten kurz zu und ging mit Baptista zum Auto. »Meine Frau hat heute eine Barca für Sie gemacht. Sie werden begeistert sein. Das päppelt Sie auf.« Baptista wurde schon bei dem Gedanken an Essen übel. Dennoch wagte er nicht abzulehnen.

Als sie in Delgados Haus eintraten, war Baptista erneut von dessen Frau fasziniert. Sie strahlte eine große Autorität und Ruhe aus. Dabei wirkte sie aber nicht abschreckend und herrisch, sondern würdevoll und erotisch. Eine winzige Handbewegung genügte ihr, um zu demonstrieren, wo man zu sitzen hatte. Oder ihrem Gatten den Unmut über die zu laute Musik zu zeigen.

Baptista war nicht verheiratet, eine echte Seltenheit unter den Kollegen aus dem Kommissariat. Nicht, dass er keine Gelegenheit gehabt hätte. Doch sobald die Abenteuer etwas seriöser wurden, gab er seinem Beruf stets den Vorrang. Selbst würde er das nicht so formulieren. Er konnte sich einfach den traumatischen Erlebnissen nicht entziehen, die ihn im Kommissariat umgaben. Der Fall eines strangulierten Jungen ergriff ihn beispielsweise eines Tages so sehr, dass er einen geplanten Kurzurlaub nach Paris nicht antreten wollte und verfallen ließ. Solche Ereignisse führten früher oder später – meistens früher – zum Bruch der aufkeimenden Beziehung. Umso mehr genoss es Baptista, nun einer hübschen Frau gegenüberzusitzen.

Delgado verhielt sich auffällig ruhig. Er sprach nicht über die Ermittlungen. Stattdessen brummte er gelegentlich ein zufriedenes Geräusch. Gegen neun Uhr klingelte es an der Tür. Der Bruder von Delgados Frau erzählte aufgeregt, dass der Strom in seinem Haus ausgefallen sei und er dringend das handwerkliche Geschick von Delgado bräuchte. Der ließ sich so geschmeichelt auch nicht lange bitten und ging mit seinem Schwager los. »Aber Sie bleiben doch noch zum Nachtisch!«, meinte Delgados Frau.

Baptista war sich nicht sicher, wie unschuldig das klang. Für ihn war es trotz oder gar wegen des Fiebers eine höchst prickelnde Vorstellung.

Senhora Delgado servierte eine köstliche Süßigkeit. »Wie lange werden Sie denn hier bleiben?«, erkundigte sie sich. »Wenn ich solche Köstlichkeiten vor mir habe, möchte ich nicht so schnell von hier fort.« Baptista meinte eigentlich das Dessert, wurde sich aber bewusst, dass er höchst doppeldeutig sprach. Er errötete. »Das Fieber treibt Ihnen die Hitze ins Gesicht«, meinte Senhora Delgado. »Sie gehören ins Bett und sollten sich pflegen lassen.« »Nichts wäre mir angenehmer. Aber dafür bin ich nicht die vielen Stunden aus Berlin nach Corvo geflogen.« »Leben Sie gerne in der Großstadt?« »Es hat sich so ergeben. Früher war es mir wichtig, heute hätte ich gerne mehr Ruhe. Aber meine Freunde leben in der Umgebung von Berlin oder Brüssel. Ich würde mich auf dem Land alleine fühlen.« »Sie würden dort neue Bekanntschaften schließen, glauben Sie mir.«

Senhora Delgado rückte den Stuhl etwas näher und zündete einen Kerzenleuchter an. Die Dunkelheit senkte Baptista nun endgültig in ein Fieber-Delirium. Das Essen, der Alkohol, das Ziehen in den Lenden. Mit letzter Energie sprang er auf. »Ich muss dringend ins Bett.« »Ich begleite Sie. In Ihrem Zustand finden Sie den Weg ja nicht.« So liefen die beiden unter Sternen und leuchtender Mondsichel zum Hotel. Unterwegs wurde es Baptista dermaßen schwindelig, dass er sich auf eine kleine Mauer setzen musste. Als sie ihn hinauf in sein Zimmer gebracht hatte, legte er sich aufs Bett und schlief sofort ein. Senhora Delgado zögerte kurz, dann zog sie ihn aus. Sie war zufrieden mit dem, was sie sah. Lächelnd machte sie sich auf den Heimweg.

Freitag, 14. Juni

Am nächsten Morgen wachte Jao auf und wusste nicht mehr, wie er in sein Bett gekommen war. Er überlegte kurz, aber es blieb dunkel in seinem Gedächtnis. Jedenfalls hatte er einen Schlafanzug an. Hatte er sich alleine ausgezogen? Ihm wurde ganz heiß und kalt bei der Vorstellung, dass es Maria getan haben könnte. Seine Kopfschmerzen waren kaum noch zu spüren. Er war noch immer fiebrig, schien sich aber zu erholen. Erst als er aufstand und versuchte Luft zu holen, merkte er die Lungenentzündung: Ein tonnenschwerer Felsbrocken schien auf seinem Brustkorb zu liegen. Er konnte nur ganz flach hecheln. Als er sich die Zähne putzen wollte, hatte er das Gefühl zu ersticken. Diesen Tag würde er nur ohne Aufregung überstehen. Jeder Atemzug verursachte ein heftiges Brennen. Er machte alles ganz langsam, um keine intensiven Atemzüge zu provozieren. Aber der Arzt kommt heute, dachte er. Senhora Lancha wartete schon mit dem Frühstück auf ihn. »Heute gibt es ein Unwetter. Machen Sie sich auf etwas gefasst.« Baptista sah durch die Fensterscheiben einen blauen Himmel. »So schlimm kann es schon nicht werden.« Nach einer Viertelstunde traf Delgado ein. Baptista konnte nicht erkennen, ob er mit dem Verhalten seiner Frau einverstanden war, ob er überhaupt etwas davon wusste.

»Gut, dass ich schon los bin. Gleich bricht es herunter.« Baptista schaute noch immer ungläubig. Dann wurde es dunkel. Senhora Lancha machte Licht an. Ein starker Regen prasselte schlagartig auf die trockene Straße. Man konnte nichts mehr sehen und sich nur lautstark unterhalten. Blitze zuckten am Himmel. »Der Arzt wird dann heute wohl ausfallen«, meinte Senhora Lancha. Baptista gab innerlich auf. Er wollte weinen. Wie sollte er das aushalten? Senhora Lancha schien das alles nicht weiter zu beeindrucken. Mit beiläufiger Stimme sagte sie: »Dabei hätte ich ihn wegen meines Ischias doch so dringend gebraucht. Aber nächste Woche wird er sicher kommen.« »Haben Sie irgendwelche Schmerzmittel?«, fragte Baptista verzweifelt. »Bei Amarals gibt es sicher etwas«, sagte Delgado.

Baptista ging nach oben, um eine Jacke zu holen. Als er die Tür hinter sich schloss, hörte er wieder, wie sich Senhora Lancha und Delgado wispernd unterhielten. Alle wissen etwas, dass ich nicht weiß, dachte er. Er drückte sein Ohr an die Tür, wie in der Schule, als er ein Mädchen belauschen wollte. Aber er verstand nichts. Baptista nahm die Jacke und ging wieder hinunter. Als er die Tür öffnete, konnte er doch etwas aufschnappen: »... das Auge des Raben ist ein Unglück für ... ruhig. Er kommt.« »Es hat aufgehört zu regnen, Baptista. Wir können zu Pão fahren. Der Sturm richtet keinen Schaden an.« Sie gingen zu Delgados Auto. Baptista war sehr froh, als er saß. Sie fuhren aus Vila Nova raus in Richtung Vulkan. Auf der einzigen Landstraße der Insel gab es eine Vielzahl von Schildern für Touristen.

»Bei besserem Wetter kann man auch zu Fuß hier hoch. Jedenfalls machen dass einige Touristen.« Sie fuhren noch einige hundert Meter die Serpentinen nach oben als Delgado an einer scharfen Kurve unvermittelt auf einen Parkplatz fuhr und ausstieg. »Das ist der Miradouro do Sitio do Portao. Von hier hat man einen hervorragenden Ausblick. Das dort ist Vila Nova und die Hafenbucht. Herrlich, nicht wahr?« Baptista war überwältigt von dem fantastischen Ausblick, der sich trotz des schlechten Wetters bot. Vila Nova und der Hafen erweckten den Eindruck, vom Meer an Land gespült worden zu sein und am Vulkan nur vorläufig zu haften. Es schien, als könnte die nächste Welle alles wieder mit in die Tiefe reißen. Die beiden standen verzückt auf dem Parkplatz und schauten in das Tal. »Kommen Sie, wir sollten weiter. Pão mag es nicht, wenn man zur Mittagszeit kommt.«

Baptista vermied es zu sprechen, weil jedes Atmen ihm große Schmerzen bereitete. So stieg er einfach wortlos in das Auto. Dann fuhren sie wieder rund zehn Minuten. Baptista schloss die Augen, um sich auf das ruhige Ein- und Ausatmen zu konzentrieren. So sah er den überwältigenden Blick in den Vulkankrater nicht. Schließlich hielt Delgado am Südwest-Zipfel der Insel an. »Das letzte Stück gehen wir besser zu Fuß. Mein Wagen ist schon einmal in den ausgewaschenen Furchen des Weges stecken geblieben«, sagte Delgado. »Was sind das für schwarze Dinger dort?« »Windmühlen. Sie sind aus schwarzem Basalt gemacht. Und die dreieckigen Segel betreiben im Inneren die Mühle. Die Kuppel ist besonders raffiniert gelagert und dreht sich im Wind.« »Werden die Mühlen noch benutzt?« »Aber sicher. Der verrückte Pão hat sich einen Anbau an eine der Mühlen gemacht und lebt dort wie ein Einsiedler. Kommen Sie, da vorne ist der Eingang.« »Gehen Sie schon voraus. Ich mache langsam.«

Um nur ganz langsam und flach zu atmen, bewegte sich Baptista auch nur sehr langsam. Er konnte sein Gleichgewicht kaum noch halten und hatte das Gefühl, bald keine Luft mehr zu bekommen. Warum muss ich auf dieser verdammten Insel sterben, dachte er. Warum nicht in einer Pizzeria in Neapel während eines Rendezvous’ von der Mafia dahingerafft werden? Warum hier, auf schwarzem Basalt? Dann wurde es schwarz vor seinen Augen. Er spürte nicht, wie ihn Pão Amaral und Senhor Delgado vom Boden aufhoben und in das Haus von Pão trugen.

Er wachte erst auf, als Pão eine Schürfung an seinem Kopf mit einem Tuch abtupfte und einige stinkende Kräuter darauf legte. Er blickte in ein paar Augen, in denen ein wildes, beinahe wahnsinniges Feuer zu flackern schien. »Ich bin Pão Amaral. Sie liegen hier in meinem Bett, weil Sie eben ohnmächtig wurden. Senhor Delgado ist nach Vila Nova, um Medikamente zu holen. Machen Sie sich keine Sorgen und bleiben Sie ruhig liegen.« Baptista wollte etwas sagen, aber durch seine Lungen ging nur ein Pfeifen. Deswegen nickte er bloß leicht. Er lag in einem geräumigen Zimmer, in dem auch die Küche untergebracht war. Daher sah er Pão, als dieser sich in der Küche zu schaffen machte. Pão war etwas über 40 Jahre und ein sehr hagerer, dürrer Mensch. Seine einfache Leinenkleidung baumelte an seinen Knochen wie an einem Wäscheständer. Das Gesicht schien keine Falten zu haben, was ihm ein seltsam entrücktes Aussehen gab.

In seinem fiebrigen Delirium fühlte sich Baptista bedroht. Mal schien im schwarzen Basalt der Kopf des toten Francisco eingemeißelt. Dann heulte der Wind von draußen lautes Wehklagen herein. Von Panik wurde er schließlich ergriffen, als Pão ein riesiges Messer aus dem Holzblock nahm. Schreien konnte Baptista dennoch nicht. Seine Stimme versagte ihren Dienst. Pão legte einige getrocknete Kräuter und andere merkwürdige Dinge auf den großen alten Holztisch in der Mitte des Raums und zerkleinerte alles sorgfältig. Anschließend zerstieß er mit einem Mörser alles zu einem gräulichen Pulver. Er kochte Wasser auf und rührte das Pulver hinein. Diesen Sud bot er dann Baptista an. Angeekelt vom Geruch drehte der sich weg. Schließlich überwand er sich jedoch und trank den übelriechenden Tee, der – einmal im Rachen – jedoch ein großes Wohlgefühl verbreitete. Schnell dämmerte er weg.

Baptista wachte vom Gewisper zweier Stimmen auf. Delgado und Pão Amaral unterhielten sich leise. Er versuchte zu verstehen, was sie sagten, aber er war zu schwach. Dennoch konnte er erkennen, dass die Gesichter etwas Düsteres an sich hatten. Er hörte mehrfach den Namen von Francisco. Wieder sank er unter die Oberfläche des Bewusstseins.

Samstag, 15. Juni

Am nächsten Morgen wachte Baptista auf. Er war alleine. Vorsichtig bewegte er seinen Kopf. Keine Schmerzen. Er atmete etwas tiefer. Keine Schmerzen. Er fühlte sich beinahe frisch. Als er langsam aufstand, konnte er sich kaum auf den Beinen halten, war aber klar im Kopf. Baptista goss sich heißes Wasser auf und legte einige Pfefferminzblätter hinein. Es muss das Gebräu gewesen sein, dachte er bei sich. Er genoss die ruhigen Minuten. Dann zog er sich an und ging nach draußen. Es war bewölkt und ein starker Wind brachte die Windmühlen zum Drehen. Er blickte sich um. Amaral war nicht zu sehen. Baptista fühlte sich zu schwach, um nach ihm zu suchen. Darum ging er wieder in das Haus, setzte sich an den Tisch und versuchte, seinen klaren Kopf für eine Rekapitulation der Ermittlungen zu nutzen.

Was hatte er bis jetzt erfahren? Substanziell nichts. Und genau dieses Gefühl wurde immer stärker. Nichts zu erfahren. War es eine Paranoia oder gab es etwas zu verbergen? Er erinnerte sich an die vielen Gespräche, die stoppten, sobald er in Sichtweite kam. Oder an die Stimmen unter seinem Fenster. Francisco Amaral hatte ein Geheimnis. Vielleicht hatte man ihn deswegen getötet. Offenbar war Francisco kein beliebter Mensch in dieser kleinen Gemeinde. Nun gut, töten musste man ihn dafür nicht. Oder doch? Hatte seine Frau Rache geübt? Baptista nahm einige Küchenutensilien und legte sie auf den Tisch. Er schob sie hin und her, wie er seine Gedanken bewegte. Was ihm fehlte, war eine Idee. Alles waren nur Spinnenfäden. Aber wer war die Spinne?

Baptista war unzufrieden. So unzufrieden, dass er eine kleine Flasche mit Olivenöl umwarf. »So ein Mist!«, rief er in den Raum. Schnell stand er auf, um ein Tuch zu holen. Er riss die Schubladen auf, weil er nichts Passendes fand und das Öl schon zu tropfen begann. Endlich fand er einen Lappen und lief zum Tisch. Aber schon als er den Lappen aufnahm, kribbelte seine linke Hand. Sie dachte oft schneller als sein Gehirn, konnte die Gedanken vordenken, für die er manchmal noch Tage brauchen würde. Er blickte das Tuch an und sah das getrocknete Blut – dafür hielt er es jedenfalls. Es umwickelte einen Basaltklumpen, der ebenfalls von Blut benetzt schien. Beinahe hätte er das Olivenöl damit aufgewischt.

Während er das Tuch anblickte und vor dem Tisch stand, hörte er die Tür knarren. Pão stand im Türrahmen. Der Wind blies ihm die Haare ins Gesicht. Eine dunkle Wolke ließ seine hagere Gestalt in einem düsteren Licht erscheinen. Baptista steckte das Tuch schnell in seine Hosentasche. »Was machen Sie da?«, schnauzte ihn Pão an. »Stöbern Sie in meiner Wohnung herum?« Baptista wurde rot. Er fühlte sich ertappt. »Mir ist das Öl umgefallen.« »Und warum stehen Sie dann ohne Lappen herum?« »Ich konnte ihn nicht finden.« Es war offensichtlich, dass Pão ihm nicht glaubte. Dennoch schloss er zunächst unwillig die Tür hinter sich und kümmerte sich um einen Lappen.

»Es tut mir leid«, wollte sich Baptista entschuldigen. »Was?«, schrie ihn Pão an. »Was tut Ihnen leid?« In seinen Augen flammte ein abgrundtiefer Hass auf. Baptista verstand nicht, was geschehen war. Aber er fühlte, dass die Situation außer Kontrolle geraten könnte. »Das Olivenöl. Ich habe Ihren Tisch versaut. Dabei haben Sie mich doch wieder auf die Beine gebracht. Danke.« Das Flackern in Pãos Augen verschwand schlagartig. »Setzen wir uns. Ich erzähle Ihnen von meinem Bruder. Deswegen sind Sie doch gekommen.« Baptista setzte sich an den großen Tisch. Pão Amaral hatte zuvor das Olivenöl sorgfältig aufgewischt. »Passen Sie auf Ihre Lunge auf. Sie müssen sich mehr bewegen, sonst kommt Ihre Atmung nicht in Gang. Ihre Lunge ist voller alter Luft«, meinte Pão. »Ich habe früher viel Sport gemacht«, sagte Baptista. »Als Comissário sitze ich zu viel am Schreibtisch. Sie haben völlig recht.« Pão ruckte unruhig auf seinem Stuhl, wie ein festgebundenes Tier. »Hören Sie, Francisco war mein Bruder, aber wir haben uns nie gut verstanden. Überhaupt meine Familie. Wenn ich die Insel nicht so lieben würde, wäre ich ausgewandert. So bin ich eben an den äußersten Zipfel der Insel gezogen. Francisco war alles in allem ein Schwein. Er hat seine Frau vergewaltigt und mich mit Eisenstangen verprügelt. Wenn ich gewusst hätte, wer ihn umbringen wollte, hätte ich ihm geholfen.« »Wie lange wohnen Sie schon hier draußen?« »Ich zähle die Jahre nicht so genau. Dazu ähneln sie sich zu sehr. Seit mein Bruder geheiratet hat, bin ich weg von zu Hause.« »Womit verdienen Sie Ihren Lebensunterhalt, wenn ich fragen darf?«

Und plötzlich sah Baptista wieder die Wut in Pãos Augen. »Geht es hier um mich? Ich hätte ihn gerne umgebracht, an meiner Windmühle gekreuzigt. Aber ich war es nicht. Schluss jetzt. Verschwinden Sie.« Baptista spürte, dass die Wut nicht gegen ihn gerichtet war, aber das Pão seine Gefühle einfach nicht kontrollieren konnte. Daher entschied er sich zu gehen, um keine weiteren Wutausbrüche zu provozieren. Er lief den Hügel zur Straße wieder nach oben. Noch von Weitem fühlte er Pãos brennenden Blick in seinem Rücken und hörte das Ächzen der Windmühlen. Was für ein schrecklicher Ort, dachte er. Wie kann man hier leben? Er nahm sich vor herauszufinden, was Pão so verbitterte. Vielleicht hatte er seinen Bruder im Wahn erschlagen?

Baptista lief die Straße gemächlich in Richtung Vila Nova bergab. Nun sah er endlich auch den Vulkankrater. Die Wolken hingen tief über dem rund drei Kilometer durchmessenden Krater. Er fiel einige hundert Meter steil nach unten ab. Unten war es grün. Zwei Seen spiegelten die Wolkenfetzen. Kühe grasten friedlich. Als würde die Welt dort unten eine andere sein. Aber er war hier oben. Sein Blick reichte bis zum Horizont und er konnte die Nachbarinsel Flores trotz der Wolken gut erkennen. Nach einem kurzen Spaziergang hatte er die Bushaltestelle erreicht. Ein Bus kam und spie einige kamerabewaffnete Touristen aus. Baptista stieg als einziger ein und fuhr zurück. Er war froh, wieder in der Pension anzukommen. Senhora Lancha begrüßte ihn überschwänglich. »Geht es Ihnen wieder besser?« »Danke der Nachfrage.« Er schleppte sich die Treppe hoch und war erschöpft von der Anstrengung. Als er sich auf das Bett fallen ließ, drückte ihn das Tuch mit dem Stein. Er hatte es vergessen. Nachdenklich legte er es auf den Tisch. Wem konnte er hier vertrauen? Würde Delgado eine korrekte Analyse machen? Geplagt von Zweifeln schlief er ein. Als er aufwachte, sah er einen Brief auf dem Boden. Jemand musste ihn unter der Tür durchgeschoben haben, während er schlief.

Der Brief war von außen unscheinbar und trug keinen Absender. Baptista öffnete den Umschlag. Es handelte sich unverkennbar um eine Frauenhandschrift. Das Papier war nur mit wenigen Zeilen gefüllt: »Einer wird Ihnen helfen: Fragen Sie nach Luìs da Silva. Corvo ist nur die Spitze eines Vulkans. Von außen schweigt er. In seinem Inneren brodelt es.« Baptista schaute verwundert auf die Rückseite des Papiers und in den Umschlag. Aber es gab keinen Hinweis auf die Verfasserin. Luìs da Silva hatte er auf dem Flug nach São Miguel neben sich sitzen gehabt.

Wie eigenartig, dass er in dem Fall wieder auftauchte. Er hatte doch erzählt, dass er auf Flores wohnt. Welche Verbindung hatte er nach Corvo? Wie konnte er ihn wohl erreichen?

Baptista hatte Hunger. Die Mittagszeit über hatte er im Bett gelegen, immer noch war er fasziniert von dem Heilungswunder des Pão Amaral. Er zog sich an und traf auf Senhora Lancha, die eine kräftige Suppe für ihn bereithielt. »Sie müssen sich stärken. Greifen Sie zu.« »Das ist sehr freundlich.« Lancha servierte die Suppe. »Hatten Sie keine Angst, eine Nacht bei Pão zu verbringen?« »Oh, ich habe nur wenig davon mitbekommen. Er hat mir allerdings einen Wundertrank eingeflößt. Seit heute Morgen fühle ich mich fast gesund.« »Ha, unser Wunderheiler. Hoffentlich hat er Sie nicht vergiftet.« »Warum hat er sich eigentlich so abgesondert?« »Ach, die Amarals sind eine eigenartige Familie. Ich gehöre zu den Delgados. Wir stellen den Bürgermeister und die wichtigen Positionen in der Verwaltung. Und das ist nicht ohne Grund so. Bildung und Disziplin sind bei uns immer hoch im Kurs gewesen. Sie haben doch einige der Amarals besucht. Alles komische Käuze.« »Wenn Sie an meiner Stelle wären, Senhora Lancha, wen würden Sie denn in eine engere Befragung einbeziehen?«

Die Senhora wog den Kopf hin und her. »Francisco hatte Schulden. Nicht bei der Bank. Sondern privat, bei den Ernestãos. Vielleicht hilft Ihnen das weiter.« »Ach, und noch etwas: War jemand hier im Hotel, während ich schlief?« »Nicht, dass ich wüsste. Ich habe allerdings Wäsche aufgehängt. Da sieht man nicht immer, wer durch die Türe geht.« »Die Suppe war übrigens ganz wunderbar. Ich bin schon ganz gesund.« Wie abgepasst kam Delgado herein. »Das freut mich aber, dass Sie wieder auf den Beinen sind. Ich habe einen gewaltigen Schreck bekommen, als sie plötzlich auf dem Boden lagen. Gestern Abend habe ich noch mit dem Arzt telefoniert. Er kommt herüber, sobald das Wetter es zulässt. Er würde aus der Ferne auf eine verschleppte Lungenentzündung tippen. Damit sei nicht zu spaßen. Schonkost und viel Ruhe.«

Baptista ignorierte die Aussage. Er hatte sich entschlossen, ohne Arzt durchzuhalten. »Dann haben wir ja genügend Zeit für einige Ermittlungen«, sagte er. »Zwei Personen stehen auf meinem Programm. Da wäre einmal der Polizist hier vor Ort. Er ist doch ein guter Freund von Francisco gewesen. Und dann möchte ich mit dem alten Bastelio reden. Unterwegs können wir ja auch bei den Ernestãos vorbei sehen« »Ob das Ihrer Gesundheit wirklich förderlich ist, wage ich zu bezweifeln.« »Zu guter Letzt: Ich möchte dieses Stück Gestein von einem Labor prüfen lassen. Wie kann man das schnell regeln?« Sowohl Senhora Lancha als auch Delgado zuckten sichtlich zusammen, als Baptista das Stück Basalt auf den Tisch legte. »Woher haben Sie das?« »Es könnte Blut darauf sein. Vielleicht Franciscos Blut. Wo kann man es untersuchen lassen?« Aus Baptistas Sicht überlegte Delgado etwas zu lange. »Wir sollten es nach Flores bringen. Auf Corvo hat nur Bastio Ernestão ein Hobbylabor.« »Flores kann lange dauern. Versuchen wir doch, die Hälfte des Steins von Senhor Ernestão analysieren zu lassen.«

Das betretene Schweigen nutzte Baptista, um aufzuspringen. »Lassen Sie uns gehen.« Sie stiegen in den Seat und fuhren los. Nach den üblichen wenigen Minuten Fahrtzeit hielten sie vor einem quaderförmigen roten Haus. »Hier ist das Haus von Bastio Ernestão.« »Gut.« Sie gingen zur Tür und klopften. Baptista wurde mit den Sitten etwas vertrauter und schritt nun selbst in das Haus.

»Senhor Ernestão?« »Wer ist denn da?«, rief eine Stimme. »Ich bin unten.« Sie stiegen eine enge Holztreppe nach unten. Dann hörten sie eine kleine Explosion und einen Fluch. »Wieder zu viel Zink. Irgendwann fliegt mir alles um die Ohren.« Aus einer schwarzen Wolke hustete ihnen Ernestão entgegen. »So, hier bin ich schon. Bom dia, Senhores.« Er nickte Delgado zu und wandte sich dann an Baptista. »Sie müssen der Comissário vom Festland sein. Sehr erfreut. Lassen Sie uns besser nach oben gehen. Hier unten ist es zu stickig.« Die drei stiegen wieder nach oben.

Ernestão hatte einfache Cordhosen und ein kariertes Hemd an. Das Wetter hatte seine Haut gegerbt. Aber sein Gesicht strahlte vor Lebensfreude. Um Mund und Augen hatten sich viele Lachfältchen gebildet und aus den Augen strahlte den Besuchern eine schelmische Fröhlichkeit entgegen. »Senhor Ernestão«, begann Baptista ohne große Vorrede. »Mir wurde angetragen, dass Sie etwas von modernen Analyseverfahren verstehen. Ich habe hier ein Stück Stein gefunden, dass etwas mit dem Mord zu tun haben könnte. Sehen Sie sich in der Lage, mir schnellstmöglich eine Analyse des Steins zu machen?« Baptista legte das Stück auf die Tischmitte. Er beobachtete genau, wie Ernestão reagierte, denn einem Stümper wollte er das Material nicht anvertrauen. Aber Ernestão enttäuschte ihn nicht. Er legte den Stein auf eine kleine Plastikschale und rückte eine Tischlampe näher. »Es handelt sich nicht um einfachen Basalt. Sehen Sie hier, die glitzernden Einschlüsse. Das sind wertvolle Mineralien, wie sie in Vulkangestein vorkommen. Der rote Stoff könnte Blut sein. In meinem Hobbylabor kann ich lediglich einen Test der Blutgruppe machen. Wenn es etwas Anderes als Blut sein sollte, werde ich wohl keine Hilfe sein.« Baptista war mit dieser Einschätzung sehr zufrieden. Sie klang sorgfältig bedacht. »Gut. Dann komme ich gleich morgen früh vorbei und bin gespannt auf Ihre Ergebnisse.« »Ich schaue, was ich bis dahin für Sie tun kann.«

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