Kitabı oku: «Göttergold», sayfa 5
Der Lichtschein erlosch. Jetzt lag die Luke im Dunkeln.
„Ruhe, ihr beiden da draußen! Morgen heißt's früh aufstehen! Du, Cerin, und der fremde Junge, ihr kommt mit ins Holz. Die Fuhren richten helfen!“ Es war Rudans Stimme, Cerins Vater.
Da verstummten Cerin und Nalumbin, obwohl jeder noch viele Fragen an den anderen gehabt hätte. Auf die Schindeln des Daches klopfte Regen, der irgendwann verrauschte. Die beiden Jungen hingen noch eine Weile ihren Gedanken nach; der eine im sehnsüchtigen Rausch von Fernweh, der andere in quälendem Heimweh.
Am Morgen, als die Siedlung erwachte, glitzerten Wiesen und Baumblätter vom nächtlichen Zwischenspiel des Regens. Der Himmel wurde blau, und die Luft füllte sich mit Sonne. Die Geschäftigkeit begann. Nalumbin hörte, wie Cerins Mutter am Herd hantierte. Der Duft von gerösteten Nüssen entströmte dem Haus. Die Vorfreude auf diesen zeitigen Genuss ließ Nalumbin die sorgenumflorte Nacht vergessen. Die Mahlzeit aus Gerstensuppe und Nüssen stillte den Hunger und sorgte für Wohlbefinden. Bald schon fanden sich mehrere Männer und Jungen vor Cerins Haus ein. Pferde und Ochsen wurden angeschirrt. Mit Bronzeäxten, Sicheln und Sägeblättern, die Stiele und Griffe aus Eschenholz, zog man in den Wald.
Alle Bäume, die es zu fällen galt, wurden auf das Sorgfältigste mit der Haselrute ausgesucht, denn wehe den Männern, die versehentlich einen Baum schlugen, in dem der Waldgeist wohnte. Er würde nicht nur ihnen, sondern auch ihren Familien übel mitspielen. Mal war er gütig und freundlich, aber er konnte auch furchtbar zornig und voll der Rache sein.
Mit Brot und Salz brachte man diesem Herrscher des Waldes ein erstes Sühneopfer. Diejenigen, die ihn schon gesehen haben wollten, beschrieben ihn als ein behaartes Männlein mit grünem Haar, grünem Bart und mit blutroten, scharfen Krallen, das seine Freude daran hatte, Menschen in die Irre zu führen, Kinder zu stehlen und zu vertauschen. Rudan ermahnte die Jungen, still zu sein. Auch die Männer schwiegen. Eine Weile noch lauschten sie den Stimmen des Waldes, bevor sie mit der Arbeit begannen. Damit erwiesen sie dem geheimnisvollen Waldwesen ihre Ehrfurcht.
Holzfäller und Jungen, sie alle trugen ein Stückchen Lindenholz bei sich. Es sollte sie vor den Umtrieben des grünen Geistes schützen. Mit geschickt angesetzten Schlägen, die durch den Wald hallten, hieben nun die Männer Baum für Baum um. Die Jungen halfen beim Entasten der Stämme und beim Kleinmachen und Bündeln der Zweige.
Bis Mittag hatten die Männer mit ihren Tieren mehrere Stämme zum Holzlager der Siedlung gezogen. Dort wurde eine Essenspause eingelegt, die Zugtiere gefüttert und getränkt.
Es versprach ein heißer Nachmittag zu werden, und so rannten ein paar der Jungen – darunter Cerin – zum Ufer der Divone, entledigten sich ihrer Kleidung und wateten ins Wasser. Neidvoll sah ihnen Nalumbin zu, wie sie untertauchten, Schweiß und Schmutz abwuschen und sich erfrischten. Jetzt hielt auch ihn nichts mehr.
Rasch warf er seine Kleider ab. Nun sprang auch er in den Fluss und ließ sich von der Strömung treiben. Kleine Wellen gluckerten gegen das Ufer. Dann tauchte er hinab auf den Grund und glitt über den Sand des Bodens zu Muscheln und grünlich bewachsenen Steinen. Als er mit einer Perlmuschel in der Hand auftauchte, sah er, wie sich zwei der Jungen am Ufer mit seinem Beutel vergnügten, indem sie ihn hin und her warfen.
„Was macht ihr da! Was fällt euch ein!“, schrie er, ließ die Muschel los und schwamm mit aller Kraft gegen die Strömung zurück zum Ufer.
Ohne auf seine Nacktheit zu achten, rannte er auf den Jungen zu, der jetzt den Beutel in der Hand hielt und erneut zum Wurf ansetzte. Er versuchte ihm den Beutel zu entreißen, doch flog dieser schon wieder durch die Luft. Diesmal verfehlte er sein Ziel und landete an der Uferböschung. Die Augen starr vor Schreck, stürzte Nalumbin auf seinen Besitz zu.
Einer der Jungen aber hatte den Beutel bereits ergriffen und machte sich einen Spaß daraus, ihn den Schwimmern zuzuwerfen. Wieder rannte er dem Beutel nach. Vergeblich. Der Beutel flog von einem zum anderen, vom Ufer zum Wasser und wieder zurück. Die Jungen lachten. Außer sich vor Zorn schrie Nalumbin:
„Hört auf! Das gehört mir! Hört auf!“
Mit einem Stück Treibholz versuchte er in seiner Verzweiflung auf den Werfer einzuschlagen, der jetzt den Beutel festhielt. Doch der Werfer war der Stärkere. Er entriss Nalumbin das Holz. Nalumbin wankte und stürzte. Dabei fiel der Beutel mit einem leisen Scheppern zu Boden. Nalumbin warf sich mit seinem nackten Körper auf ihn, zitternd vor Aufregung.
„Es ist genug!“, rief Cerin.
„Lasst dem fremden Jungen seine Sachen! Kümmert euch um euren eigenen Kram! Sieben gegen einen, das ist feige!“
Mit hochrotem Kopf, obwohl ihn das kalte Wasser der Divone abgekühlt hatte, kleidete sich Nalumbin hastig an. Danach verschwand er im Dickicht des Ufers zwischen Gestrüpp und Ranken. Er ließ sich nieder und tastete mit zitternder Hand nach dem Inhalt des Beutels.
Die goldene Schale und der Bernstein kamen unversehrt zum Vorschein. Doch seine Erleichterung wich urplötzlich einem Schrecken, der ihm das Blut in den Adern gefrieren lassen wollte.
„Du trägst kostbare Dinge bei dir!“, hörte er eine Stimme hinter sich. Als Nalumbin aufblickte, sah er in Fallains Gesicht.
„Pass das nächste Mal besser auf sie auf! Ich habe dich gerade am Fluss mit den anderen Jungen beobachtet. Unachtsamkeit kann dir schnell zum Verhängnis werden. Einen armen Jungen wie dich wird man leicht für einen Dieb halten. Du musst wissen, dass die Gier nach dem Gold den Menschen verdirbt! Aus so manch bravem Mann wird beim Anblick von Gold ein kaltblütiger Frevler, der selbst vor Mord nicht zurückschreckt!“
Bei diesen Worten erschauerte Nalumbin. Er glaubte für Augenblicke die blutige Hand von Jor auf seiner Schulter zu spüren. Ein ängstlicher und zugleich dankbarer Blick traf Fallain, und Nalumbin schwor sich, den Beutel von nun an wie seinen Augapfel zu hüten. Niemand mehr sollte seinen Inhalt zu Gesicht bekommen.
Der Tag neigte sich, als Rudan die Männer und Jungen anwies, die Arbeit niederzulegen. Der Tag war heiß gewesen, und die Sonne hatte die Wege nach dem nächtlichen Regen rasch getrocknet, und weder Zugtiere noch die mit Geäst beladenen Karren waren stecken geblieben.
„Wir haben gut daran getan, den trockenen Tag zu nutzen“, sagte Rudan.
„Das Wetter wird in den nächsten Tagen umschlagen. Ich danke euch allen, und auch dir, fremder Junge, für die harte Arbeit, die ihr geleistet habt. Ich danke der Göttin, deren Schutz uns vor Unfällen bewahrt hat. Dir, Waldmännlein, hinterlasse ich zum Dank, dass du uns wohlgesonnen bist, Speis und Trank.“
Rudan füllte einen Becher mit Waldbeerenwein und stellte ihn zwischen Moos und Waldklee. Hinzu kam ein Holzteller mit einem Honigkuchen. Beides, Becher und Teller, würden bis zum nächsten Holzeinschlag im Wald verbleiben. Dem aus hartem Holz geschnitzten Teller sah man die Spuren von so manchem Jahr mit Regen und Schnee an. Der Becher aber war aus Bronze, diente allein dem Grünen Waldmännlein und war unvergänglich, so wie der Wald, der nachwachsen würde bis in ferne Zeiten. – Und niemand würde es wagen, sich daran zu vergreifen.
Die Nacht war nicht mehr weit, die Abendmahlzeit beendet. Der Waldkauz schrie und der Marder legte sich auf die Lauer. Nalumbin hatte sich hinter Rudans Haus auf den Rumpf eines umgedrehten Bootes gesetzt und blickte auf den dunkel ziehenden Fluss, in dem das aufkommende Licht der Mondin zu zittern begann.
Ein sanfter, warmer Wind trug den Geruch von Tang und Wasser heran. Die Sorge vor dem Morgen überschattete das friedliche Bild. Morgen würde er fort müssen, den Schutz der Siedlung mit seinen freundlichen Gastgebern verlassen und wieder allein sein, auf sich gestellt.
Doch wusste er, dass er mit jedem Tag, an dem er länger hier blieb, seinem Ziel nicht näher kam. Ein dumpfes Gefühl erwachte in ihm: die Furcht, die mit zunehmender Dunkelheit wuchs und sein Herz schneller schlagen ließ. Wie ein übermächtiger Unhold stand die Vorstellung von den Steinernen Riesen über ihm. Schritte in seiner Nähe ließen ihn aufhorchen. Es war Fallain, der sich zu ihm setzte. Und als hätte Fallain seine Gedanken erraten, hörte der Junge ihn sagen:
„Ist es die Angst vor dem Tal der Steinernen Riesen, die dir im Gesicht steht?“
„Woher weißt du ...?“
„Ich habe Cerin davon erzählen hören, gestern Nacht.“
Stumm nickte Nalumbin und verkrampfte die Hände.
„Es gibt ein Mittel, um den Riesen den Appetit zu verderben, für den Fall, dass sich kein sicheres Dach über dem Kopf finden lässt. Nimm einen hohlen Ast, schnitze Augen und Mund hinein und entzünde darin ein Talglicht. Dann, setze dich mit ihm unter eine alte Eiche, bekränze dich mit ihrem Laub und binde dich am Stamm fest.“
„Ich glaube nicht, dass ich den Mut dazu hätte, mich anzubinden und nicht rechtzeitig weglaufen zu können“, warf Nalumbin ein.
„Hör zu“, fuhr Fallain fort.
„In der Eiche wohnt das kosmische Feuer, das Licht der Sonne, wie du weißt. Die Riesen werden dich zwar sitzen sehen, aber sie können dir nichts anhaben. Sie sehen das Feuer im Stumpf und spüren deine Verbindung zum Baum. Sie werden glauben, dass der Stumpf das Gesicht der Eiche sei – das Feuer der Sonne, das aus Augen und Mund leuchtet. Als Geschöpfe der Finsternis werden sie es nicht ertragen und vor seiner Wärme und seinem Licht fliehen. So einfach ist das.“
Fallain begann in seinen Taschen zu kramen. Er zog ein Stück Talglicht und ein Kästchen aus Schilfgeflecht hervor, kaum fingergroß.
„Hier nimm! Es wird dich schützen.“
Nalumbins Stimme zitterte, als er sagte:
„Manchmal, wenn mich der Mut verlässt, glaube ich, dass alles verloren ist, dass ich es nicht schaffen werde, was mir aufgetragen ist.“
„Du wirst es schaffen, was immer dir aufgetragen ist!“, sagte Fallain.
„Ich weiß, dass die schwerste Last die Verlorenheit ist! Nichts aber ist verloren, wenn es erst angefangen ist! Was begonnen wurde, findet immer seine Fortsetzung. Wenn nicht durch einen selbst, dann durch andere. Es werden Kräfte in dir wach werden, von denen du in deiner Verlorenheit noch nichts ahnen kannst. Und doch stehen sie schon bereit und werden zur rechten Zeit kommen. Also geht nichts verloren. Es findet alles wieder zueinander. So wie die Vögel auf ihrem Zug durch die Weiten des Himmels wieder zurückfinden! Es ist das große Ganze, in dem nichts verlorengeht!“
Er erhob sich und legte Nalumbin die Hand auf die Schulter. Sie fühlte sich warm an.
„Ich bin gewiss, du wirst es schaffen!“
Die Stimme, die nun antwortete, hörte sich dagegen eher brüchig an:
„Ja, ich werd's schon schaffen. Danke für alles! Gute Nacht!“
„Gute Nacht und gute Reise ...“
Ardevi
Schon beim ersten Vogelruf, zwischen Dämmerung und Tag, erwachte Nalumbin. Neben ihm atmete Cerin, tief und ruhig. Nalumbin warf einen Blick auf den friedlich schlummernden Jungen und entdeckte in sich einen Anflug von Neid. Neid auf Cerin, der ein gutes Zuhause hatte und dennoch begierig war, in die Welt zu ziehen, es aber nicht durfte. Schon aber schämte sich Nalumbin seiner Gedanken, denn Cerin hatte sein Vertrauen und seine Freundschaft gewonnen. Rufe, Gelächter und Tierlaute drangen bald an sein Ohr.
Die Siedlung rüstete sich für den Tag. Türen und Luken wurden geöffnet, die Herdfeuer geschürt und Wasser herbeigetragen. Ein Windhauch, der nach feuchter Erde roch, vertrieb den letzten Rest an Müdigkeit. Nalumbin erhob sich. Sorgsam ordnete er Decken und Felle.
Darüber erwachte Cerin. Gemeinsam gingen beide zum Fluss, wo sie sich wuschen. Unterdessen rührte Cerins Mutter frische Kräuter in den köchelnden Gerstenbrei, zu dem sie den fremden Jungen einlud. Aufbruchstimmung lag in der Luft. Cerins und Nalumbins Blicke trafen sich und einer meinte des anderen Gedanken lesen zu können.
Cerin stellte sich die Landschaftsbilder vor, die auf Nalumbin jenseits der Weißen Berge warteten: unbekannte Wege, erfüllt von Licht und Freiheit, anders gebaute Häuser, anders sprechende Menschen – Erlebnisse und neue Abenteuer. Der Abschied stand bevor.
Die Stimme versagte Nalumbin, als er Fear, Fallain und Cerins Eltern für ihre Hilfe und Gastfreundschaft dankte. Dann geleitete ihn Cerin aus der Siedlung. Vor einer Anhöhe, auf der ein aufgerichteter Stein stand, trennten sie sich.
„Es ist schwer, hier wieder fortzugehen“, sagte Nalumbin.
„Es ist schwer, hierbleiben zu müssen“, antwortete Cerin.
Mit feuchten Augen blickte Nalumbin den neuen Freund an, der ihm jetzt einen Wanderstab überreichte.
„Da nimm! Von mir! Er soll dir Glück bringen auf deinem weiten Weg.“
Wortlos ergriff Nalumbin den Stock und stapfte davon. Der Stock war aus dem Holz der Haselnuss geschnitzt und mit Zackenmustern verziert. Noch einmal wandte sich Nalumbin um und hob die Hand zum Gruß. Cerin erwiderte ihn. Er blickte dem Scheidenden nach, so lange, bis dieser unter einem Blätterdach von Bäumen verschwand.
Der Ufersaum der Divone verbarg sich unter allerlei Weidengehölzen. Mit ihren Ästen griffen sie wie mit Fingern nach dem Wasser. Hopfen und Nachtschattengewächse schlangen sich durch bizarres Geäst. An manchen Stellen entließ die Divone ihr Wasser in kleine Nebenarme. Zwischen Inseln aus Erlen, Eschen und Strauchbirken wanden sie sich hindurch, änderten immer wieder ihren Lauf. Zwischen Wiesen und Auen zog sich der Fluss dahin.
Es war Abend, als der Schmerz in Nalumbins Fuß ihn dazu zwang, sein Nachtlager unter den herabhängenden Ästen eines Weidenbaumes aufzuschlagen. Eine Handvoll Nüsse, die ihm Cerin zugesteckt hatte, besänftigte den Hunger. Die Anstrengungen der letzten Tage machten sich nun breit. Müdigkeit überkam ihn, die stärker war als die Angst vor der hereinbrechenden Nacht. Er fiel in einen traumlosen Schlaf.
Am Himmel segelnde Falken, die ihre Rufe in das noch morgenschattige Tal entließen, weckten Nalumbin. Mit knurrendem Magen setzte er seinen Weg fort. Die steigende Sonne verwandelte das dunkle Wasser der Divone alsbald in eine golden glitzernde Flusslandschaft.
Immer wieder verschwand der Pfad im Grün der Hangwälder, die sich in weitem Bogen zu beiden Seiten des Tales erstreckten. Als dann die Nachmittagshitze lähmend über der Landschaft lag, sah sich Nalumbin vom Talgrund aus überragt von mächtigen Felsgebilden mit Spalten, Klüften und Türmen. Es schien ihm, als hätten die Götter hier selbst Hand angelegt und sich mit unbändiger Kraft Denkmäler geschaffen. Tier- und Menschengestalten mit fratzenhaften Gesichtern. Hohläugig starrten sie von den Wänden herab: das Tal der Steinernen Riesen.
Allmählich verbarg sich die Sonne hinter schwarzen Wolkenfetzen. Nalumbins Blick fiel auf den Kuckucksklee, der den Waldboden mit einem hellgrünen Teppich bedeckte. Im Mittagslicht hatte die Pflanze ihre zarten Blättchen noch aufgefaltet gezeigt. Jetzt waren sie zugeklappt. Ein Zeichen dafür, dass bald ein Gewitter heranziehen würde.
Wind kam auf und brachte Bewegung in Halme, Farnwedel, Blätter und Zweige. Die Bäume begannen zu schwanken. Der Eichelhäher gab seinen Warnruf weiter an die Tiere des Waldes. Es war schwülwarm. Blitze zuckten über den Wald. Krachender Donnerschlag ließ die Erde dröhnen. Die Luft zitterte.
Über die Bodennische, in der Nalumbin hockte, schoss der Sturm. Er zerrte an Gebüschen und riss Äste von den Bäumen. Ächzend stürzte ein abgestorbener Buchenast herab und hätte Nalumbin fast unter sich begraben. Da erkannte er die Gefahr, in der er sich befand, und flüchtete. In jähes Blitzfeuer getaucht, warfen die Bäume bebende Schatten. Regentropfen fielen.
Zwischen modernden Baumstämmen und dornigem Gestrüpp kämpfte sich Nalumbin voran, dem Flussufer entgegen. Die schwüle Luft ließ ihn wie im Fieber glühen. Als er das freie Feld erreichte, erschrak er beim Anblick der Felsgesichter, die auf ihn herabäugten. Täuschte er sich? Hatte sich nicht soeben ein Gesicht bewegt? Hielten die versteinerten Riesen das schwarze Gewitterdunkel bereits für die einbrechende Nacht und machten sich verfrüht auf den Raubzug?
Und da war sie auf einmal, die Furcht, die ihm die Kehle zuschnürte. Es gab keine Zeit mehr nach einem hohlen Baumstumpf zu suchen, es gab keine Zeit mehr ein Gesicht hineinzuschnitzen. Wohin nur sollte er flüchten? Wo sich verstecken? Prasselnder Regen setzte ein. Da tauchte am Flussufer im Regenschleier – zunächst als bleicher Schimmer – ein Felsblock mit einem dachartigen Vorsprung auf. Nalumbin rannte darauf zu.
Wie erschrak er aber, als ihm plötzlich eine sitzende Gestalt den Weg versperrte, in der Hand eine Angel. Im selben Augenblick stieß sein Fuß mit voller Wucht gegen einen hölzernen Trog. Der Trog schleuderte über den Uferrand ins Wasser. Die Gestalt sprang auf, packte den vor Angst schlotternden Jungen am Arm und schrie:
„Was fällt dir ein, meine Fische ins Wasser zu werfen! Tollpatsch, du! Mach schon, hol den Trog aus dem Fluss! Und dann fang mir neue Fische!“, befahl die Gestalt.
Nalumbin sprang ins Wasser und hechtete dem schwimmenden Trog hinterher, der rasch davontrieb. Glücklicherweise blieb das hölzerne Gefäß flussabwärts zwischen Geäst am Ufer hängen. Als Nalumbin mit dem Trog zurückstapfte, sah er, wie die Gestalt im rostroten Gewand die Felsnische verließ und dem Hangwald zuschritt. Ein Mal noch wandte sie sich um. Drohend reckte sie die Faust und schrie:
„Ich komme wieder! Wehe, du schleichst dich davon!“
Die Drohung, die die tosenden Lüfte herübergetragen hatten, gellte in Nalumbins Ohren und rief ihn zur Pflicht. Ein verirrter Sonnenstrahl leuchtete auf und fiel auf die Angelrute, die am Felsblock lehnte. Die schnell ziehenden Wolken löschten ihn rasch wieder und verdunkelten das Land. Schwer lag die Luft über dem Tal. Schwer rollte der Donner. Die Farben der Natur hatten keine Kraft mehr. Alles war von finsterem Grau.
Im Morast des Ufers fand Nalumbin einen Köder. Mit zitternder Hand warf er die Angel mit dem sich windenden Wurm aus. Alles um ihn herum schien sich in Schwarz aufzulösen. Übermächtige Angst ergriff ihn. Mit der Angel, an der plötzlich ein kleiner Fisch zappelte, stürzte er davon, dem Fremden nach, der ihm vielleicht Schutz gewähren würde. Nur nicht allein sein in der herannahenden Nacht! Der Trog blieb zurück.
Die Augen suchten nach dem rostroten Gewand. Hatte es nicht soeben im Steilhang über ihm rot aufgeleuchtet? War es der Fremde? Würde der Wald bald so dunkel sein wie das Innere eines Steins? Irgendwo musste der Fremde doch wohnen! Moderndes, nasses Laub bedeckte den mit Geröll übersäten Hang. Unter Nalumbins Füßen kam es ins Rutschen. Mit dumpfem Gepolter schlug es irgendwo unter ihm auf.
Und dann sah er sie plötzlich: Die Umrisse einer Leiter, die an der steil aufragenden Felswand lehnte. Und dann hörte er sie plötzlich: Töne, fetzenhaft durch den Sturm geisternd. Eine Flöte. Zögerlich kletterte er die schwankende Leiter hinauf, in der Hand den armseligen Fisch. Auf der obersten Sprosse angekommen, tat sich plötzlich eine mächtige Höhle vor ihm auf.
Da saß die Gestalt vom Fluss am Feuer, unbewegt bis auf die Finger, die die Flöte spielten. Rot züngelnde Flammen warfen ihren warmen Schein in Nischen und Ritzen, während draußen die Natur tobte.
Nalumbin setzte den Fuß über den Höhlenrand, nicht wissend, worauf er sich einließ. Seine Augen wanderten in ein rußgeschwärztes Deckengewölbe. Darin befand sich ein Loch wie ein Trichter. Es gab den Blick frei auf einen darüber getürmten Felsen.
Im hinteren Teil der Höhle erhob sich ein massiger Steintisch. Gefäße standen darauf. Im Licht einer Fackel blinkten sie auf. Tierfelle bedeckten den Boden. Büschel von getrockneten Pflanzen und Wurzeln hingen von Gewölbe und Wänden. Duft von Heu und Holzfeuer durchzog die Höhlenhalle. Nalumbin erschauerte. So etwas hatte er noch nie gesehen!
Der Mann am Feuer legte die Flöte aus der Hand, und doch war es, als stünden die Töne noch in der Luft. Er forderte Nalumbin auf, näher zu treten. Nalumbin wagte einen ersten Schritt. Da schoss ihm der Gedanke an den lächerlich kleinen Fisch in seiner Hand durch den Kopf, eine magere Beute, für die er sich schämte.
„Ich, ich hab' leider nur den Einen!“, hörte er sich stottern und hielt dem Mann mit einer hilflosen Gebärde das magere Fischlein hin.
„Wo ist die Angel? Wo ist der Trog?“
Ein heißer Schreck durchfuhr Nalumbin. Wo war die Angel? Den Fisch hatte er im Davonrennen vom Haken genommen. Wo hatte er die Angel verloren?
„Wo?“
„Ich, ich ..., hab' die Angel im Wald verloren, … hab' den Trog am Fluss vergessen.“ Zittern überfiel ihn. Erst jetzt bemerkte er, wie durchnässt er war.
„Ich geh' die Angel gleich suchen. Und, und den Trog hol' ich auch!“
Nalumbin machte Anstalten, die Leiter wieder hinabzuklettern. Draußen vor der Höhle tobte der Sturm mit unverminderter Gewalt.
„Bleib!“ Ein scharfer Blick traf den Jungen.
„Zieh' die Leiter hoch!“
Nalumbin versuchte die Leiter hochzuziehen. Sie war so schwer und unhandlich, dass er nach ein paar Versuchen aufgeben musste. Die Furcht vor dem harten Urteil des Mannes über seine Ungeschicklichkeit stand ihm im Gesicht.
Da erhob sich der Mann, packte die Leiter und zog sie mit festem Griff über den Höhlenrand. Danach verschwand er im Halbdunkel zwischen Körben, Truhen und aufgestapeltem Holz. Nalumbin, vor Kälte und Nässe schlotternd, wartete darauf, dass der geheimnisvolle Fremde ihn für sein Versagen strafen werde. Der Fremde aber kehrte mit einem Bündel Tuch zurück, das er dem Jungen zuwarf.
Nalumbin senkte den Kopf, entkleidete sich und hüllte sich in den groben Wollstoff. Der Fremde deutete auf eine lange Holzstange, die zwischen zwei Steinen steckte. Zu Büscheln gebundenes Schilfgras baumelte daran. Nalumbin schob ein paar Büschel beiseite und breitete die nasse Kleidung zum Trocknen über die Stange. Auch den Beutel legte er ab, wissend, dass jeder Versuch, diesen zu verbergen, ihn in den Augen des Fremden verdächtig erscheinen lassen würde.
Mit wortloser Geste forderte ihn nun der Mann auf, am Feuer Platz zu nehmen. Nalumbin ließ sich nieder. Unbehagen vermischte sich mit Neugier. Er wagte kaum eine Kopfbewegung, nur die Augen wanderten verstohlen umher und entdeckten sonderbare Dinge, die ihm unbekannt waren.
In einer Wandnische lehnte eine Axt von ungewöhnlicher Länge mit einem kreisrunden Knauf. Der Umriss der Axt erinnerte ihn an einen Menschen mit rundem Hut und langem, kurzärmeligen Mantel. Ein Stiergehörn lag daneben. Über der Nische ließ sich eine Ritzzeichnung ausmachen: Ein Mensch mit einer übergroßen Hand, in der sich Reihen von kreisrunden Vertiefungen befanden. Nalumbin spürte, wie der Mann ihn prüfend ansah, und senkte den Blick. Er fiel auf ein Gefäß am Feuer, das die Form eines Vogels besaß und von dunkel glänzendem Metall war.
Der Mann reichte ihm das seltsam geformte Gefäß. Es enthielt ein Gärgetränk, das nach Waldbeeren schmeckte, ein Trank, der ihn wohlig durchwärmte. Die Blicke begegneten sich.
„Dein Name?“ Die Frage kam plötzlich.
„Nalumbin“, antwortete der Junge und wartete auch schon auf die Frage nach seiner Herkunft. Die Frage blieb aus.
Der Mann nickte kurz und sagte: „Ich bin Ardevi!“
Mit zusammengezogenen Augenbrauen schaute der Fremde ins Feuer, als suche er dort Antworten auf Fragen, die er nicht aussprach. Die Flammen schwangen in die verdämmernde Höhle und warfen zitternde Schatten auf die Wände. Ein dicker Ast im Feuer brach. Funkenregen stob in die Luft. Roter Lichtschein fiel auf die riesenhafte Axt in der Wandnische und ließ ihre bronzene Klinge aufblitzen.
Der Fremde entzündete einen Span, erhob sich und trat an den steinernen Tisch. Nalumbin sah, wie er eine Öllampe entfachte und darüber Handzeichen machte. Dann, ein Geräusch, leise klappernd, das sich anhörte wie hingeworfene Holzstücke. Gespannt, was nun folgen würde, wartete Nalumbin, doch der Mann verweilte reglos am Steintisch – wortlos. Nur das herabströmende Wasser, das sich in der Steilwand des Felsens austobte, redete in dunklen Tönen.
Als der Fremde nach einer Weile ans Feuer zurückkehrte, sich darüber beugte und ein Scheit nachlegte, meinte Nalumbin ein feines Lächeln über sein Gesicht huschen zu sehen, das aber sogleich wieder einer harten Strenge wich. Dann, für Nalumbin völlig unerwartet, streckte ihm der Mann die Hand entgegen und sagte: „Du kannst heute Nacht hierbleiben!“
Froh über diese unerwartete Aufforderung ergriff der Junge zögernd die Hand. Ein kurzer, kräftiger Druck. Der Mann mit dem Namen Ardevi griff nach der Flöte und erneut erfüllte eine Melodie den Raum, stand in der Luft, als hätte sie Gestalt angenommen.
Verstohlen durchsuchten Nalumbins Augen die Höhle. Auf einem Holzgestell entdeckte er eine Anzahl faustgroßer Steine. Kreise und Spiralen, aber auch gekerbte Wülste und Linien, die Tannenzweigen ähnelten, waren in sie eingeritzt. Daneben stand eine Platte aus Ton, die in ihrer Form an die Sichelmondin erinnerte. An ihrer Oberkante zählte Nalumbin neun eingearbeite Zacken. Darunter befanden sich fünf kreisrunde Löcher. Auf einem der Zacken hing ein Holzring. Stellte das Ganze eine Art Kalender dar?
Vor dem Holzgestell war eine Schicht Lehm auf dem Boden aufgetragen. Fünf Kreise zeichneten sich darin ab, die so aneinandergereiht waren, dass sie wiederum selbst einen großen Kreis bildeten: ein Sonnensymbol. Mit Staunen betrachtete Nalumbin das feinst gearbeitete Kreisornament.
Die Flöte war verstummt. Ardevi hatte sich erhoben und war wieder ins Halbdunkel getreten. Nalumbin hörte leises Klappern und Rascheln. Dann das Geräusch von plätscherndem Wasser. Ardevi erschien und hängte ein mit Wasser gefülltes Henkelgefäß übers Feuer. Einem Deckelkorb entnahm er getrocknetes Fleisch, in feine Streifen geschnitten, gab es in den Kessel, fügte Bohnen, Kräuter und ein Bröckchen Salz hinzu.
Die Glut des Feuers verteilte er gleichmäßig unter dem Kessel. All dies geschah schweigend. Auch das Umrühren der dampfend kochenden Mahlzeit. Nalumbin sog den Duft der Kräuter ein. Unerträglicher Hunger bohrte in ihm. Seit den Nüssen von Cerin hatte er nichts mehr gegessen, außer ein paar Waldbeeren. Als Ardevi ihm eine Schale voll Suppe und Schmalzbrot reichte, glaubte Nalumbin zu träumen. Dankbar fiel er darüber her, während draußen immer noch der Sturm schrie.
Nach der Mahlzeit fiel die ungeheure Spannung von Nalumbin ab. Aus der Dämmerung löste sich die Nacht. Als sich Ardevi erneut an den Steintisch begab und Nalumbin die Öllampe aufleuchten sah und das Geräusch von hingeworfenen Holzstücken hörte, huschte er hinüber zur Holzstange, an der seine Kleidung trocknete. Mit hastigem Griff nahm er seinen Beutel zur Hand, in der Absicht ihn bei sich zu verbergen.
Im selben Augenblick wandte sich Ardevi um. Nalumbin fühlte sich ertappt. Mit unruhiger Hand ertastete er das Innere des Beutels. Prüfend traf ihn der Blick seines Gastgebers. Zu seiner Erleichterung spürte er das Kästchen, das ihm Fallain zum Abschied geschenkt hatte. Er nahm es heraus, kehrte zum Feuer zurück und tat so, als habe er weiter nichts gesucht. Dann öffnete er das Kästchen. Enttäuschung über seinen Inhalt stand ihm ins Gesicht geschrieben, die Ardevi bemerkte. Fragend sah er den Jungen an.
„Von einem Freund,“ sagte Nalumbin.
„Bloß ein bisschen Moos zum Feuermachen.“
Da streckte Ardevi die Hand aus und ließ sich das Kästchen reichen.
„Es ist kein einfaches Moos“, sagte er.
„Es ist Llap. Am siebten Tag nach Neumond, wenn die Abendsonne am Horizont verschwunden ist, schneidet man die seltene Zauberpflanze. Barfuß und mit gewaschenen Füßen muss man es tun, damit der Pflanzengeist nicht zürnt. Trägt man es bei sich, ist man stark wie ein Bär und mutig wie der Adler. Also hüte es gut!“
Da erkannte Nalumbin, wie wertvoll Fallains Geschenk war. Würde es ihm helfen, Arfund, den Händler, zu finden? Würde es ihm helfen, sein Versprechen einzulösen, das er seinem sterbenden Vater gegeben hatte? Wo war sie jetzt, seine Sippe? Waren Aithe und die kleine Suri noch am Leben? Und wie würde es dem alten Jedaure ergangen sein? In Nalumbins Erinnerung tauchten die Steinhügelgräber am Waldrand der Lomersiedlung auf.
In diese Gedanken hinein erhob sich Ardevi und trat an den Steintisch. Eine Weile noch betrachtete Nalumbin das Kästchen. Dann steckte er es wieder in den Beutel. Allmählich beruhigte sich sein aufgewühltes Herz. Am Feuer vergrub er sich tiefer in Ardevis wollene Tücher. Noch nahm er die Gestalt wahr, wie sie im Feuerschein die Arme ausbreitete, und wie die Flammen ihren Mantel aufleuchten ließen.
Die letzten Gedanken vor dem Einschlafen galten den Steinriesen, und er wunderte sich, dass er sich jetzt nicht fürchtete. Dann fielen ihm die Augen zu. Schwärze umgab ihn, die mit der Schwärze der Nacht draußen vor der Höhle verschmolz ...