Kitabı oku: «Der Tanz der Koperwasy», sayfa 2

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Dass Gienia so oft an die Grenze des Zerfalls geriet – und so oft wieder zurückkam –, grenzte an ein Wunder. Man sieht, Wunder geschehen, ich selbst kann es bezeugen. Unabhängig davon spürte ich – trotz der glücklichen Rückkehr –, dass etwas, irgendeine Welt, zu Ende ging. Dass diese neue Welt, nach dem momentan aufgeschobenen Tod, ein wenig anders war. Die Leere nach dem Tode der Tante musste noch niemand füllen, aber leichte Verschiebungen waren zu bemerken. Jedes Mal übernahm einer der Hausgenossen einen Bruchteil ihrer vorherigen Anwesenheit. Die Erste war die schwächliche Sabina, danach der sich nicht nur um seine Dinge kümmernde Iryś und schließlich, nach dem Tode Sabinas, Aloch, der wie im Scherz – aber trotz allem – diese neuen Grenzen absteckte. Das Herrschaftsgebiet von Gienia Koperwas begann zu schrumpfen.

II

Ein oder zwei Jahre, genau weiß ich es nicht mehr, waren vergangen und ich fuhr wieder in die Gegend meiner Kindheit, zur nächsten Beerdigung meiner Tante. Und wieder war alles so wie in einem geheimnisvollen, warmen Märchen. Man stand früh an einem winterlichen oder herbstlichen Morgen auf, ging den kurzen Weg zur Station, setzte sich in das Bähnlein und schlief abermals ein, bevor die Waggons es geschafft hatten, so richtig loszuschaukeln. Danach wachten wir – am Ärmel gezupft – auf, um umzusteigen, suchten unseren Bahnsteig und kletterten auf den hohen Stufen in den nächsten gemütlichen Waggon. Jetzt war es am wichtigsten, sich in den Mantel der Schwester oder eines zufälligen Mitreisenden hineinzuschmiegen und mit der vor sich hin pfeifenden Lokomotive durch die samten schwarze Nacht zu gleiten. Schwaden weißen Dampfes umhüllten die Holzwaggons und die vom Frost bereiften Beschläge, die Scheiben blitzten im widergespiegelten Licht der Laternen und wir, einer neben dem anderen, Abteil für Abteil, einem dahinrasenden Gruppenschlafraum gleich, fielen in einen harten, sich selbst genügenden Schlaf. Die schwarze Gestalt des Schaffners, die einen wankenden Schatten auf den Boden des Pullmannkorridors warf, tauchte dann und wann in den Türen des Abteils auf, stellte sich so in sie hinein, als erwarte sie den Fluchtversuch eines der Mitreisenden, und prüfte – um den Anschein zu wahren – die Gültigkeit der hingehaltenen Fahrkarten.

Und so vergingen die Stunden. Wenn der Zug mit Getöse über Weichen rollte, betrachtete ich, vom veränderten Rhythmus geweckt und ohne zu wissen, wo ich war, verwundert und im flimmernden Licht der Lampen die verschlafenen Gesichter meiner Mitreisenden. Mit geweiteten Pupillen, nach hinten geworfenen Köpfen und am Körper herunterbaumelnden Armen ließen wir uns – resigniert oder unbewusst – in den schwarzen, wolledichten Abgrund der Nacht tragen. Ein Lichtbündel hinter dem Fenster strich über die Wände des Abteils, war, nachdem es geschwind über die ewigen Schlafmützen hinweggehuscht war, auf dem Rückzug nach draußen und ließ uns wieder in der undurchdringlichen Schwärze der Nacht zurück. Unter den mit Getöse überquerten Brücken schimmerten die schwarzen Wellen der Flüsse, dann wurden irgendwelche Waggons abgekuppelt, wir hielten auf Nebengleisen und änderten die Fahrtrichtung. In dieser gleisverwirrten Expedition verloren wir vollends die Orientierung und nur mit einem kleinen Rest an Vertrauen war daran zu glauben, dass wir am Ende der Reise an dem uns vertrauten Ufer ankommen würden.

Ein matter Morgen graute, danach stellte sich der Tag ein, der die erschlafften Körper der Reisenden zur Ordnung rief. Sie gerieten ins Licht, kniffen die Augen zu und ergriffen, indem sie ihre Ausgehanzüge in Ordnung brachten, ihr Pappdeckelgepäck, um in den Bahnhofspassagen zu verschwinden.

Wir wohnten damals in der Breslauer Provinz, wo Großmutter das einzige Gesundheitszentrum in der Gegend unterhielt. Unten befanden sich das Sprechzimmer, der Warte- und der Behandlungsraum, oben wohnten wir, fünf durch den Krieg zusammengewürfelte Menschen. Von dort brachen wir im Laufe etlicher Jahre mehrmals nach Danzig auf, um nach einigen Tagen, nachdem die Familienbande erneuert worden waren, auf derselben Trasse wieder ins alte Leben zurückzukehren. Denn in eben diese ehemalige Danziger Wojewodschaft verschlug es einst die durch das zerstörte Land streifende Tante. Als mutige und rührige Person häufte sie mit einer Pionieren gern zugeschriebenen Leichtigkeit ein beträchtliches Vermögen an, das sie in dem von ihr geführten Laden verdiente, aber hauptsächlich, indem sie den Hauptgewinn aus dem auf Nachkriegsdiebstählen beruhenden Schwarzhandel zog. Offiziell nannte Gienia dies die Suche nach dem im Krieg verloren gegangenen Ehegatten. Sie wurde dabei von zweien ihrer Söhne, später von allen vieren unterstützt und machte aus den Koperwasy in Kürze eine sehr gut bekannte, angesehene und respektierte Familie.

Es gibt verschiedene Versionen über diese Ereignisse, aber sicher ist, dass es die Tante war, die sich als Erste in dem von den Deutschen verlassenen Dorf niederließ. Sie begab sich als Erste in die Minenfelder und als Erste reparierte sie die durch die Kriegshandlungen zerstörten Zäune. Die Minen erwiesen sich als Gerücht, was aber niemand von den Zugereisten wissen konnte. Später lief alles glatt ab. In Anerkennung der Verdienste und um die Bürgerin Genofewa Koperwas für ihre erneuerend-patriotischen Aktivitäten gebührend zu würdigen, schlugen ihr die neuen Herrschenden vor, in die Parteiorganisation der Gemeinde einzutreten. Die Tante trat ein. Dem erbeuteten Dorf gab man ihren Namen.

Das Dorf hieß seitdem Koperwasy. Dieser Name verwischte den Unterschied zwischen Familie und Dorf und machte aus zwei Dingen eins. Er war auch eine Quelle des Stolzes. Man ging zu den Koperwasy, bei den Koperwasy war das Licht am längsten an, die Kinder stammten von den Koperwasy ab, obwohl die Tante alle neun ganz allein erzog. Nebenbei bemerkt war dies – außer dem Namen – das einzige Geschenk, das ihr der auf die Antipoden geflüchtete Onkel hinterließ.

Die Geschichte von Tantes Ehe wurde oftmals erzählt. Die einen behaupteten, dass die Koperwasy ein ideales Paar gewesen seien und dass sie mit dem gleichen Eifer Handel trieben wie sie sich vermehrten. Andere neigten dazu, zu behaupten, dass die Mehrung der Kinderzahl sowie des Vermögens die Sache von Gienia war. Auf diese Weise versuchte sie, den Luftikus Koperwas an sich zu binden. Dies gelang ihr lange, aber – wie das bei immer wieder gekitteten Ehen so ist – der Tag musste kommen, von dem an sich die Ereignisse in eine von der Tante unerwünschte Richtung entwickelten.

An jenem Tag geriet der Onkel, der ein wütendes Gespräch mit unschuldigen Worten eingeleitet hatte, mit seinem Teilhaber in Sachen Kriegsproduktion von Schwarzgebranntem in Streit. Ab einem bestimmten Moment der Fehde, bereits nach der Phase der Verkostung, kam es zu Handgreiflichkeiten. Es ist unmöglich, zu ergründen, wer anfing und worum es ging. Bekannt ist, wer aufhörte. Mir nichts, dir nichts traf der streitsüchtige Onkel den armen Teufel mit einem am Herd stehenden Kartoffelstampfer.

Von hier an wurde die Erzählung über die Kriegsgeschichte der Familie noch verworrener. Einige erwähnten Verrat und einen Volksdeutschen, andere eine geheime Bestattung sowie ein getarntes oder wiederentdecktes Grab, genug, um den Onkel zu verhaften. Er wurde zur Zwangsarbeit mitgenommen, von wo er nie mehr zurückkehren sollte. Nicht, dass er nicht überlebt hätte; man wusste, dass er nach dem Krieg Frankreich bereiste, das Benelux streifte, wo ihn Argonauten aus dem gleichen Dorf gesehen hatten, aber später, in Dünkirchen, bestieg er ein Schiff, um es erst in Australien zu verlassen. Hier verlor sich die Spur und man hörte, außer einem einzigen Brief an den ältesten Sohn Iryś, nichts mehr von ihm.

Zur Überraschung aller Familienangehörigen weinte sich die Tante nicht die Augen aus. Nur einmal, anlässlich eines Namenstags, brauste sie in Gesellschaft auf. Später, aller Illusionen beraubt, nahm sie das Steuer der üppig bevölkerten Arche in ihre Hände und segelte durch die unsicheren Zeiten. So begann bei den Koperwasy das über lange Jahre anhaltende Matriarchat.

Es stellte sich heraus, dass die erzwungene Wendung zur Frauenherrschaft kein Hindernis für die Erweiterung des Familienbesitzes darstellte. Auf der einen Seite dehnte die Tante, die die Kriegspfründe nutzte, die Latifundien aus, auf der anderen tat es die Familie. Diese bevölkerte, sich mit plebejischer Verbissenheit vermehrend, sehr bald nicht nur dieses Dorf, sondern auch die benachbarten. So waren in dieser Gegend alle miteinander verwandt, väterlicherseits, mütterlicherseits – oder auf nicht ganz so formale Art.

Niemals gelang es mir, mich im komplizierten Netz familiärer Verwandtschaftsverhältnisse zurechtzufinden. Sie waren Großmutter Weber bekannt, die bei den meisten Geburten geholfen hatte, sicherlich kannte sie auch Marta, obwohl ich mit ihr darüber nie sprach. Tante Gienia antwortete mir, wenn ich sie wegen jemandem fragte, aus Zeitmangel gewöhnlich mit einem Scherz. »Das sind die aus dem Haus mit dem Schornstein« oder »dieselben, bei denen wir die Gänse gekauft haben« – und ähnliche Rätsel. Die von allen und am häufigsten benutzte Abkürzung war die Antwort Alochs, die zu einer Art Familienspruch wurde. »Das ist der Sohn des Onkels von Vaters Bruder«, antwortete er zuweilen genervt. Und dann gab es nichts mehr zu entwirren.

Marta war die Lieblingsschwester von Gienia. Aufgrund des Altersunterschieds behandelte sie die Jüngere wie ihr Kind. Aber dieses Kind verhielt sich widerspenstig. Kurz nach dem Krieg fuhr es über den Ozean und nicht nur, dass es nicht zurückkommen wollte, es antwortete sogar (außer den erwähnten Karten) nicht auf Gienias Briefe. Aus nebligen Erzählungen wusste ich, dass Marta aus dem Land geflohen war und zunächst nicht mehr einreisen durfte, es später aber nicht mehr wollte. Ich dachte, sie sei einfach an ihrem neuen Ort fest verwurzelt, aber später begann ich aufgrund der von Aloch hingeworfenen Worte etwas anderes zu vermuten. Wie schon erwähnt, soll es zwischen den Schwestern nach dem Krieg eine Angelegenheit gegeben haben, in die der erste Mann Martas, Kazik, verwickelt war, irgendein Gefängnis, die Deutschen, aber auch ein Russe mit einem Hengst (oder vielleicht nur mit einem Hengstfohlen). Das war ein Wirrwarr, den ich nicht zu einer Familienlegende zusammenfügen konnte. Es half mir auch niemand dabei. Gienia selbst sprach nicht nur nicht darüber, sie schien es den anderen zu verbieten. Ausgerechnet Aloch stieß ab und an etwas hervor, natürlich erst nach einem tiefen, versonnenen Schluck. Viele Jahre später erfuhr ich von der Großmutter mehr.

Sie war also schon wieder krank. Ihre engsten Verwandten bezweifelten dies, natürlich auf taktvolle Art, doch man erlaubte sich nie, die Diagnose des Arztes infrage zu stellen. Noch wichtiger war der tatsächliche Zustand der Tante. Wie auch immer, einige Male war es so, dass sie bei der Leitung der vielköpfigen Familie pausieren musste. Im Laufe der Jahre lieferte sie – in diesem sehr schwierigen Handwerk geübt – durch Leber- oder Bauchspeicheldrüsenattacken hervorgerufene Beweise für ihre Leiden. Ihre Echos ließen das Haus still werden und bewirkten, dass alle mit versteinerten Gesichtern umhergingen. »Sie stirbt«, flüsterten sie oder hoben, wenn sie zufällig im Korridor aufeinandertrafen, den Blick mit der eindeutigen Frage: »Lebt sie noch?«

Außer der Bauchspeicheldrüse (genauer gesagt des »Sechsers«) war der Organismus der Tante auch mit dem »Zwölfer« ausgestattet. Diese beiden Organe, die sie am häufigsten plagten, waren ihr am besten vertraut. Es ist nicht bekannt, welche Nummern die übrigen erhielten, es ist aber auch nicht auszuschließen, dass sie überhaupt keine besaß. Diese drei, inklusive der Leber, befanden sich auf der ersten Frontlinie. Sie mussten über Jahre mit dem unbändigen Appetit zurechtkommen und die mehrtägigen üppig begossenen Zechgelage aushalten. Ein durch nichts beschränkter Lebensstil war ihre zweite Natur, die viel voller und breiter war als die Seele einer Dorfladenbesitzerin. Zu diesem Stil kehrte sie nach jedem ihrer Tode zurück, vielleicht nicht gestärkt, aber gleichsam verjüngt. Sie kehrte zurück, ohne die Abreise der Trauernden abwarten zu wollen, vielmehr nutzte sie ihre zahlreiche Anwesenheit geradezu aus. Wie auch immer, solche doppelten Anlässe ergaben sich nicht gerade häufig, zunächst der kritische Zustand und dann die wundersame Gesundung. Es wäre leichtsinnig gewesen, sie nicht auszunutzen. Dank dessen nahm Gienia mehrmals an ihrem eigenen Leichenschmaus teil, nicht nur in Gestalt einer aus Albträumen wiederauferstandenen Leiche, sondern als erster Beweger und Organisator eines Mehrgenerationenfestmahls. Natürlich freuten wir uns alle, dass die Tante wieder der Sense entkommen war und dass jetzt, nach einem kleinen Koma, alles zum alten Rhythmus zurückkehren würde.

Ich komme eines Tages, recht zufällig, nach Koperwasy und stoße mitten in der Woche auf einen seltsamen Feiertag. Im Dorf wird nicht gearbeitet. Scharen in der Kirche, Scharen vor der Kirche, das Volk vereint und eifrig betend, obschon wir weder Mariä Geburt noch Mariä Himmelfahrt haben. Im Alltag waren sie weder besonders fromm noch gottlos, aber dass man einen Werktag in einen Feiertag ummünzt? Ich trete ins Haus der Tante – niemand da. Alles ist abgeschlossen, sogar die Kinder sind abwesend, nur der Schäferhund trippelt vor der Bude hin und her und wedelt mich mit seinem einstdeutschen Schwanz an. Ich setze mich auf die Bank vor der Darre und warte. Schließlich sehe ich, wie die Gesellschaft zurückkommt. Feierlich angezogen, in weißen Hemden und dunklen Hosen, die Kinder vorneweg, die Junggesellen und jungen Frauen hinten. Wir begrüßen uns, ich frage nach dem Grund der Feierlichkeit und bekomme »Dankgottesdienst« zu hören. Ja, gerade in der Wochenmitte, »denn am Dienstag gab es eine Explosion«. Was für eine Explosion, wundere ich mich. »Na, eine Explosion. Im Wirtshaus.« Die Tante, die an diesem Tag das Lager der Garküche »Hafen« betrat, bemerkte, dass der Zeiger des auf dem Kessel befindlichen Druckanzeigegeräts bereits am Anschlag stand und dass im nächsten Augenblick alles in Fetzen fliegen würde. Also kam Gienia mit Geschrei und die einzelnen Wörter in Kleinteile zerlegend in den Gastraum gelaufen: »Leu-te!! Flüch-tet!! Den Kes-sel zer-reist’s gleich!« Die Leutchen sprangen auf, rannten aus dem Lokal und kurz darauf eine gewaltige Explosion. Sie riss eine ganze Wand heraus und zerstörte das Buffet. Die Tante trat als Letzte hinaus.

Das Volk versammelte sich, kam zur Messe zusammen, der Pfarrer sprach schön über die Vorsehung, er empfahl die Gläubigen der Obhut der Mutter Gottes der Empfängnis und alle Anwesenden der Obhut der Gottesmutter Gebärerin, aber diese wussten sowieso, dass sie vor diesem Unglück nicht durch den goldzüngigen Priester und auch nicht so sehr durch die Vorsehung bewahrt worden waren als vielmehr durch die allgemein geschätzte Genofewa Koperwas. Sie, die – jetzt durch Krankheit gefesselt – auf ihrem Totenbett dahinsiechte. Gerade trat der Arzt aus ihrem Haus.

In jenen Jahren schien es mir, dass die Konzession der Tante lediglich das makabre, nicht ganz verständliche Spiel mit dem Tod beinhaltete. Jetzt, wo ich das schreibe und mir aufs Neue Gedanken mache, neige ich zur Ansicht, dass die Kunst des Sterbens ein Werkzeug in ihrer Hand war, mit dessen Hilfe sie Dinge berührte, die auf einem anderen Weg nicht zu erreichen waren. Sicherlich, mit dem Komödiantentum setzte sie eine wahrlich theatralische Maschinerie in Gang, aber ich denke, dass das nur ein Nebeneffekt war. Dieses Komödiantentum erlaubte ihr, eine Grenze zu erreichen, hinter der alles tödlich und unumkehrbar wurde. Sie berührte sie, zog sich zurück und lieferte einen Vorgeschmack dessen, was einst unentrinnbar eintreten würde und von wo es keine Rückkehr mehr gab.

Es ist schon seltsam, aber alles in jenen Zeiten Wichtige geschah in der Abenddämmerung oder aber bei vollkommener Dunkelheit. Nicht auf dem Feld, sondern eher im Haus, und wenn überhaupt, dann im Wald. Sogar jetzt, wenn ich daran denke, zöge ich es vor, dass Dunkelheit herrschte. Gern lege ich mich aufs Sofa, um mit der bis über den Kopf gezogenen Decke zu den Waisenjahren zurückzukehren. Niemand wird mich besuchen, niemand wird anrufen, ich kann also in der Stille noch einmal versuchen, das einstige Geschreibsel zu entschlüsseln.

Ich hatte damals, wie jeder Junge, mein kleines Versteck. Wenn mir der Tag zu sehr zusetzte oder wenn mich die Altersgenossen zu sehr gepiesackt hatten, streifte ich durch die nahen Wälder, versteckte mich in der Darre oder des Sommers in der hinter dem Haus in den Hügel getriebenen Erdhöhle. Es genügte, den halbrunden, halbwegs verschlossenen Einlass zu lüften, um sich in Sicherheit zu fühlen. Ich konnte hier so lange bleiben, bis ich genug Kraft gesammelt hatte, um jenes unaufhörliche, großfamiliäre Treiben wieder aushalten zu können.

Es zog mich mit einer geradezu krankhaften Leidenschaft in diese undurchdringliche Dunkelheit. Dort konnte ich ohne den Widerstand der Dinge und Farben in die Tiefe unbekannter oder momentan vergessener Kontinente vorstoßen. Der irdene Einbaum trug den in einer Position taub gewordenen Körper in Zonen, in denen ich mich nach Belieben an der kindlichen Einsamkeit berauschen konnte. Gerade dort blieb ich – als kleiner, zu einem Bündel zusammengerollter Junge, der in halb wache Betrachtungen vertieft war – häufig so lange sitzen, bis jemand hineinschaute und mich mit scharfen Worten zum Abendessen rief.

»Junge, Junge«, nörgelte die Tante aus Gewohnheit. »Ich hab dir doch gesagt, dass du da nicht hineingehen sollst … Für welche Sünden straft mich der Herrgott nur so?«, fragte Gienia weder mich noch den Himmel.

»Hör doch auf, Mama«, verteidigte mich Aloch. »Das ist doch ein braver Junge, er hat nichts angestellt …«

Gienia winkte ab und ging – die Resignierende mimend – zu irgendwelchen Tätigkeiten über. Der siegreiche Aloch drehte sich augenzwinkernd auf dem Absatz um und tätschelte mir den Kinderrücken.

So waren ihre Dialoge, immer in derselben Tonlage, immer im Bereich ausprobierter und sicherer Worte.

Einmal erlebte ich, der in Fragen der Endgültigkeit so etwas wie ein ständiger Gesandter unserer Familie war, in Koperwasy andersartige, wenn auch subkutan mit der Krankheit der Tante verbundene, Gefühle. Von Empfindungen zu sprechen, ist etwas übertrieben, denn es waren eher gefühlte denn vollzogene Dinge, aber – wie auch immer – sie ereigneten sich zum ersten Mal.

Eines Nachts träumte ich von der nicht so nahen, aber doch blutsverwandten Cousine. Nicht von der aus Koperwasy, sondern von jener Kasia Kurcjanow. Mit einem kurzen, von oben auf französische Art eingeflochtenen Zopf. Das war nichts Ungewöhnliches. Sie kam häufig ins Haus der Tante, um sich – ähnlich wie ich – nach ihrer Gesundheit zu erkundigen und die Neuigkeiten dann der engeren und weiteren Familie in Kółeczko zu überbringen.

In diesem Traum schwammen wir zu dritt, zusammen mit meiner Ania, in den warmen und sicheren Gewässern der Lehmhöhle. Wir badeten nachts, ich vollkommen nackt und sie in weißen und nassen, sich an ihre blutjungen Körper anschmiegenden Gewändern. Die Stimmung des nächtlichen Bades verband sich mit dem im Hause der Tante hängenden, kitschigen Öldruck, auf dem inmitten des Waldes und im obligaten Mondlicht einige Damen mit offenen Haaren in einer Muschel schwammen, die von Schwänen gezogen wurde. Die Mädchen aus meinem Traum, stärker entblößt und fülliger als jene anderen, teilten mit ihren Armen das Wasser. Ihre mit kleinen Brustwarzen besetzten Brüste und ihre Hinterbacken, als kugelige Wiederholung jener anderen, wogten immer näher an mich heran und setzten einen fernen, übersüßen Rhythmus in Gang. Angesichts der wachsenden Erregung hatte die kitschige Entourage keinerlei Bedeutung. Die Cousine war nicht weit entfernt, die Schwester schwamm davon und kehrte so lange nicht zurück, bis sich die Gelegenheit für ein näheres Kennenlernen von Kasia bot. Furchtlos, wie das im Traum so ist, entledigte ich mich aller lästigen Ängste.

Ich wachte am ganzen Körper zitternd auf. Kataleptisch und steif saß ich auf dem von Schweiß und nächtlichem Samenerguss feuchten Laken. Ich war entsetzt. Ich zog alles aus, nahm das Laken vom Bett und, da ich nicht wusste, wie ich die Spuren beseitigen sollte, stand mitten in der Nacht da mit einem durch das Fenster lugenden, spöttischen Mond.

Schließlich fand ich einen Weg, um mit der kompromittierenden Situation fertigzuwerden. Ich stellte zwei Stühle auseinander und spannte das blasse Laken über den beiden Lehnen auf, während ich selbst beschloss, mich an die warmen Kacheln des Ofens lehnend, zu warten, bis die Spuren verschwunden wären.

Als ich die Augen öffnete, war es Tag. Die Stühle standen auf ihrem Platz, das Laken war spurlos verschwunden. Ich zog mich an und öffnete ängstlich die Tür. Das Frühstück wartete an der Tischecke. Ich aß und spürte, wie ich vor Scham im Erdboden versank. Ich aß lange, ganz auf die Bewegungen des Bestecks konzentriert, mit einem in den Teller versenkten Blick. Aber niemand hat an diesem oder an einem der folgenden Tage auch nur mit einem einzigen Wort das Thema berührt. Heute denke ich, dass die Person, die mir half, die Spuren meiner einsamen Initiation zu beseitigen, ausgerechnet Sabinka war. Mit dem für Frauen eigenen Takt beschwieg sie – so wie sich das wohl jeder Junge wünscht – mein schamhaftes Geheimnis.

Am Nachmittag, als Kasia vorbeikam, um nach dem Zustand der Tante zu fragen, begegneten sich unsere Augen so, als hätten sie und ich denselben Traum gehabt.

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