Kitabı oku: «Der Tanz der Koperwasy», sayfa 4

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IV

Wir fuhren in den Ferien und zu Beerdigungen manchmal zu Taufen oder zu Erstkommunionen nach Koperwasy, aber nicht an Feiertagen. Und zwar niemals, wenn ich mich recht erinnere.

Nicht nur deshalb, weil es an Feiertagen ganz wenig Zeit gab, es zu weit war und die Züge überfüllt und teuer waren. Die Ursache lag woanders. Großmutter hätte uns nicht gelassen. Während der Feiertage wollte sie uns alle bei sich haben. Das waren Familientage, die nur einer Sache gewidmet waren, deren Wesen, Kern und Zentrum das frühe Aufstehen zur Ostermesse, der Gang zur Christmette, das Teilen der Oblate oder das österliche Frühstück waren. »Was wir ersehnten, haben wir erhalten, Alleluja«, sprach Großmutter, ohne ihre Rührung zu verbergen. Oder, wenn die Schneeflocken vor dem Fenster tanzten und das Mondlicht von den Feldern und Dächern widergespiegelt wurde, sprach sie in dem ihr vertrauten Latein den wunderschönen Satz: »Gloria! Gloria in excelsis Deo.«

An diesen Tagen wurden wir von nichts anderem abgelenkt. Weder von der Schule noch von Freunden oder von dem damals noch nicht vorhandenen Fernsehen. Und die Großmutter nicht von ihrer Arbeit. Es war seltsam und überraschend, dass nicht einmal die Arbeit als Hebamme, die ihrem Wesen nach Überraschungen und unmöglich festzulegende Termine in sich trägt, uns die Großmutter wegnahm. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie uns jemals an einem dieser Tage hätte allein lassen müssen. Sie war immer mit uns zusammen. So, als ob man da oben irgendwie wusste, dass man jetzt nicht stören durfte, besonders in einer Situation, in der wir für alle anderen Dinge so viele Tage hatten, an denen wir uns nicht auf die Angelegenheiten Gottes und – was vielleicht noch wichtiger war – der Menschen konzentrieren. Angelegenheiten der Eltern, Brüder und Schwestern. Der Eltern, die als Erste am Tisch fehlen würden. Der Brüder, die – wie das eben so ist – den Vater und die Mutter verlassen, um ihrer Frau zu folgen. Der Schwestern, die ihre Nester bauen. Ihre neuen Nester, die für sie wichtiger sind als jene, aus denen sie kamen. Jetzt also, so lange es nur geht, sollten wir uns gemeinsam an uns erfreuen, uns in die Gesichter schauen, uns mit Armen und Blicken umgarnen, denn der Moment, in dem jemand von uns nicht mehr da ist, könnte näher sein, als wir in unserer Weisheit meinen. Also sollten wir zusammenbleiben, so lange es nur geht.

Während der Festtage blieben wir also zu Hause. Die Großmutter und unter ihren Fittichen wir sechs. Mit einer einzigen Ausnahme. Aber das erzähle ich später.

Tante Gienia erwartete uns nicht und lud uns auch nicht ein. Ihr Kalender, von dauernder Agonie und der Perspektive auf die Beerdigung geprägt, trat in diesen Fällen hinter den Kalender der elementaren Liturgie zurück. Der kirchlichen, die in einem mindestens so hohen Grade in die natürliche Ordnung eingeschrieben war wie ihre eigene. Eine Ordnung, die im Handumdrehen ausgedacht worden war, einst in plötzlicher Not schnell geschaffen und später für immer in die Familienfeste hineinmontiert. Was auch immer man über ihre Marotten sagen mochte, hier ordnete sie sich klaglos dem Lauf der Dinge unter. Ich denke, dass sie ihn aus verschiedenen Gründen sogar heimlich unterstützte. Denn obschon wir in der Lage sind, einzelne Tage aus dem Strom der Zeit herauszubrechen, so müssen wir uns doch in bestimmten Momenten einer höheren Ordnung unterwerfen. In der keimenden Hoffnung, dass wenigstens sie uns nicht in den Abgrund der Stille, der Sinnlosigkeit und des Vergessens reißt. Und da war noch die Sache mit der Konkurrenz. Gienia spürte instinktiv, dass sie sich nicht in sie hineinbegeben sollte. Besonders nicht mit Ostern, angesichts dessen ihre Prozeduren und deren – verglichen mit der echten Auferstehung – totale Vergeblichkeit zum Vorschein kamen und sogar für die Jüngsten erkennbar waren.

Sehr viel später machte ich mir bewusst, dass es ihr deshalb immer gelang, ihre Festtage in einem zeitlichen Abstand zu jenen anderen durchzuführen, damit niemand – und zwar möglichst lange – die einen mit den anderen in Verbindung bringen konnte. Damit man nicht das Universelle mit dem Individuellen, das der Tante mit dem Göttlichen verglich. Die ungleichen Kräfteverhältnisse, das Zweitrangige ihrer Liturgie, der Kitsch des häuslichen, mit einstdeutschen Gegenständen angefüllten Tempels musste gegen jene andere Liturgie verlieren.

Die Tante besaß also so viel Weisheit, um sich nicht auf ein Terrain zu begeben, wo die Niederlage von Beginn an beschlossene Sache gewesen wäre. Ob sie sich sofort oder später einstellen würde, war dabei von keiner größeren Bedeutung. Ich denke, dass im Falle des Weihnachtsfestes, das von ihr nicht strapaziert wurde, noch etwas anderes von Bedeutung war. Etwas sehr Verlockendes, Attraktives und uns allen Nahes. Die Tatsache, dass wir ein Fest haben, das wir begreifen, erfühlen und erleben können. Und dass wir es so begehen wie eine ersehnte Situation, die uns und die Welt erneuert, still und geborgen. Es gibt noch einen anderen, ebenso fundamentalen Grund. Die Tatsache, dass die Geburt eines Menschen, selbst wenn es Gott ist, nicht über unser Begreifen hinausreicht.

Weihnachten. Immer wieder verwundert mich die Anziehungskraft eines Säuglings. Man stelle sich vor: Unter uns taucht ein Wesen auf, dem alles fehlt. Manchmal fehlt es ihm auch an gutem Aussehen. Nicht selten sehen wir (obwohl man das erst später, nachdem man wieder zu Hause ist, sagt), dass das Neugeborene hässlich ist wie die Nacht. Wie sein Vater. Hässlich wie ein Popo mit Ohren. Dennoch wird dort, wo es ist, ein ununterbrochenes Fest gefeiert. Und manchmal erlebt man, wie das mit Gästen gefüllte Haus sich auf nichts anderes konzentriert. Es wird nicht gesprochen, nichts anderes ist attraktiv, und wenn etwas eingeschaltet wird, so ist es die Videokassette mit dem Film über die ersten Tage. Über diesen kleinen, wehrlosen und gänzlich schwächlichen Schatz. Und dies geschieht aus einem Grund, den wir alle kennen. Denn es ist ein Mensch zur Welt gekommen, der noch alles vor sich hat, der ein Geheimnis und das Wunder des sich erneuernden Lebens darstellt. Eines Lebens, das genauer betrachtet gar nicht notwendig ist. Das nicht nur in einer von uns geschaffenen Welt, sondern im gesamten Weltall keine Chancen hat. Ein Leben, das nicht das Recht und die logischen Voraussetzungen hat, um zu existieren. Und dennoch ist es da. In der Wiege, im Steckkissen oder im Bettchen. Das große, herrliche Leben mit feuchter Windel zwischen den Beinen. Und wenn dieses Leben Gott ist – wer wird ihm dann widerstehen können?

Aus diesen Gründen, die wir als Kinder gar nicht formulieren konnten, blieben wir während der Festtage zu Hause. Wie gingen zur Christmette und danach, am zweiten Feiertag und in der Zeit der gesamten Oktav, zur Krippe. Begeistert und entzückt von diesem in einer Position erstarrten Püppchen, kalt und in der kalten Kirche liegend, aber immerhin lächelnd. Geheimnisvoll lächelnd, nicht zu uns hin, sondern wie zu sich selbst, in Gedanken an das Wunder, das geschehen war – aber vielleicht auch zu dem Vater, mit dem man zu dritt diese in ihrer Art einzigartige Ankunft erdacht hatten. Und dieses Lächeln, das von seinem Gesicht erstrahlte, füllte den gesamten Kirchenraum aus, setzte sich allmählich wie die Schneeflocken draußen auf Kleidung und Gesichter und erneuerte uns zumindest ein wenig. Wenn auch nur für diesen einen Tag. Wegen dieses Tages und dieses Gefühls waren wir immer mit Großmutter zusammen. Außer einer einzigen Ausnahme. Als wir an Weihnachten zu den Koperwasy fuhren. Die Kinder allein, denn Großmutter wollte aus uns unerfindlichen Gründen zu Hause bleiben. Warum das so sein musste, erfuhr ich erst Jahre später.

Die Feiertage bei den Koperwasy begeisterten uns nicht. Zwar vollzog sich alles, wie es sich gehört: Heiligabend, Christmette, Geschenke. Und nach den Feiertagen organisierte Aloch eine gemeinsame Schlittenfahrt – aber es war dennoch nicht so, wie es hätte sein sollen. Es war nicht bei uns. Nicht zu Hause, nicht im eigenen Nest, nicht bei Großmutter. Wir waren nicht unter uns, sondern wie Anhängsel. Und wir spürten das alle. Immer wieder sah ich, dass jemand von uns allein in der Ecke saß, was bedrückend traurig war.

Aber es hatte so kommen müssen. Heute weiß ich, dass es sein musste. Dass Großmutter richtig gehandelt hatte. Was war passiert? Es war nichts passiert, was für Großmutter neu gewesen wäre. Nur, dass es diesmal im Geheimen und in unserem Haus geschah. Sie hatte uns zu den Koperwasy verfrachtet, damit das Haus leer war. Großmutter nahm während unserer Abwesenheit eine Entbindung vor.

Eine Schwangerschaft lässt sich nicht verbergen, eine Geburt sowieso nicht, sie ist recht gut voraussehbar. Aber diesmal geschah es plötzlich, genauer gesagt, erfuhr Großmutter erst im letzten Moment davon. Eines Tages, bereits zu Beginn der Ferien, wurde sie von einem Mann besucht. Es war der Vater von derjenigen, die sich auf das Wochenbett vorbereitete, einer jener wenigen Deutschen, die übrig geblieben waren. Nach eben diesem Gespräch mit ihm, das natürlich auf Deutsch geführt wurde, verkündete Großmutter, dass wir über die Feiertage zu den Koperwasy fahren würden. Wir waren überrascht, aber Großmutter antwortete auf unsere fragenden Blicke nur: »Es muss sein.« Danach – wie zur Abmilderung – fügte sie hinzu: »Irgendwann einmal erkläre ich euch das.« Und damit genug.

Also fuhren wir hin. Und Großmutter führte die Entbindung durch. Das Mädel wurde im Schutz der Nacht gebracht. Und danach, als alles zu Ende war, auch wieder nachts weggebracht. Nicht in ihr Dorf, sondern nach Breslau. Wo sie niemand kannte. Sie fuhr zusammen mit ihrem Bruder, der einige Jahre lang ihren Ehemann mimen sollte. Und den Vater des Neugeborenen. Der echte war unbekannt und nicht feststellbar.

Es gab mehrere echte Väter. Das Mädel war von Russen und Polen, siegreichen Soldaten, vergewaltigt worden. Wie durch ein Wunder kam sie mit dem Leben davon und wie durch ein Wunder wurde sie von ihrer Familie wiedergefunden, die wusste, dass sie sich an niemanden wenden konnte. Die, wenn sie sich sogar für eine Abtreibung entschied, keine Möglichkeit hatte, sie durchzuführen. Also gab es nur die Zeit und das Warten. Die Zeit und die Hoffnung, dass es gelingen würde, sich etwas auszudenken. Eine Lösung zu finden. Ich weiß nicht, was und wie sie dachten, ob sie etwas entschieden oder sich dem Schicksal ergeben hatten. Immerhin war an jenem Tag ihr Vater zu Großmutter gekommen, die ohne zu zögern alles beiseiteschob, sogar uns und Weihnachten.

Damals also, an Heiligabend 1946, kam jener Junge zur Welt. Von einer deutschen Mutter, von einem unbekannten Vater, einem Polen oder Russen. Der vielleicht bis heute noch unter uns lebt. Der – um mich so auszudrücken – wie ein lebendiges Denkmal jener Zeiten weiterlebt. Chaotischer und schlimmer Zeiten, wie die Abgründe der menschlichen Seele.

Die Geburt erfolgte in der Nacht. Ebenfalls in der Nacht kam der Pfarrer zu Großmutter, um das Neugeborene zu taufen. Er kam allein, von Großmutter gerufen, die wieder einmal Taufpatin wurde. Der Pfarrer kam mit einem dicken Buch unter dem Arm und mit einem Gefäß voll Weihwasser. Er kam wie einst jene drei Könige zu dem Kind, ohne Gold, aber mit Weihrauch. Mitten in der Nacht lief er mit dem Weihrauchfass durch das ganze Haus. Denn in dieser Nacht führten diese zwei Menschen, von denen der Mann nicht nur kein Vater, sondern etwas wie ein Anti-Vater war, den kleinen Jungen in die Welt ein. In eine Welt, die rings um sie herum wütete. Eine von Herodessen erfüllte Welt, der sie sich entgegenstellten. Gegen die sie, eingeschlossen und bei verschlossenen Fensterläden, ein Leben vor einem rachsüchtigen Blutbad bewahrten.

V

Ich war wohl sechzehn Jahre alt, als das größte der Begräbnisse der Tante stattfand. Nichts wies anfangs auf das Ereignis hin, über das man noch viele Jahre später sagen sollte, dass es wichtiger gewesen sei als das wirkliche.

Ich reiste in der Osterzeit an. Wieder ging ich auf der Chaussee von der Bahnstation zum Gehöft und wieder schaute ich auf dem Friedhof vorbei. Ich blickte zur Ziegelei und zur Darre hinüber und ließ Kółeczko seitlich liegen. Alles war wie früher: in der Ferne die blaue Wand des Waldes, auf der Chaussee ein Radfahrer – nur die Häuser schienen kleiner zu sein.

Die Tür öffnete Sabina. Aloch schnarchte im Schlafzimmer, die Tante schlief im größten Zimmer. Ich war allein gekommen, man bot mir dasselbe Bett wie gewöhnlich an. Am Mittag wurde, nach den üblichen Gesprächen, ein Glas Schnaps vor mich hingestellt. Das war etwas Neues.

»Trink nur, Junge, du bist ja jetzt erwachsen. Nach der Reise tut das gut«, sagte die gutmütige Sabina.

»Jo, jo«, pflichtete ihr Aloch bei. »Nimm nur einen, der Klare macht keine Flecken aufs Herz.

»Suchst wohl bei dem Kind nach einem Saufkumpan?«, fuhr ihn seine Frau an. »Du bist mir ein rechter Künder der Klarheit.«

Aloch ließ sein gerötetes Auge durch die Küche kreisen. Dann richtete er es zwinkernd auf mich: »Ja, ja, einem Weib machst du’s halt nie recht.«

Nach dem Frühstück gingen wir in den Stall hinaus. Aloch wollte unbedingt mit seinem neuen Pferd prahlen. Schön und störrisch, dem keiner hatte beikommen können und das er gerade gekauft und gezähmt hatte. Nichts wird die Koperwasy jemals von dieser fatalen Liebe heilen, fuhr es mir durch den Kopf. Aloch, obschon nur ein angeflickter Koperwas, war in dieser Hinsicht genauso. Er tätschelte dem Braunen das Hinterteil und zog hinter dem Leiterchen eine bereits gut begonnene Halbliterflasche hervor.

»Der Tante geht’s so schlecht wie nie zuvor«, bemerkte er, den Korken herausziehend. Ich wurde verlegen, denn bisher hatte ich nicht einmal nach ihr gefragt. »Aber sie ist immer so«, setzte er mit dem angedeuteten Lächeln eines Säufers hinzu. Er beugte sich vor, nahm einen tüchtigen Schluck, lächelte säuerlich und stellte das Glas auf den Krippenrand. »Trinken ist leben«, entfuhr es ihm in einem Atemzug.

Wir traten vor den Stall hinaus, um auf die zum Leben erwachende Erde zu schauen. Wir standen schweigend da und wollten nicht, dass sich irgendwer äußert.

»Meine ist irgendwie krank«, teilte er mir unerwartet mit. »Sie leidet an Blutungen …Weißt du, sie möchte, dass man sie verbrennt.«

»Die Tante?«

»Nein, Sabcia«, seufzte er. »Was für ein Haus. Wird Marta kommen?«

»Wird sie von der Tante erwartet?«

»Ohne sie stirbt sie wahrscheinlich nicht«, lachte er auf und schwieg, als er merkte, dass das ein ungehöriger Scherz war. »Aber Kazik würde sich freuen … Über Martas Kommen.«

»Krup-niak?«, fragte ich verwundert.

»Ja sicher. Ich habe ihn vorgestern gesehen, wir haben sogar miteinander gesprochen. Er sagte, dass er dir einmal auf dem Weg begegnet sei. Dass du ihr ähnelst.« Er lächelte. »Kennst du ihn nicht? Er kümmert sich um die Kirche. Ist Kirchendiener. Sitzt auf dem Turm.«

»Auf dem Turm?«, wunderte ich mich erneut.

»Sicher. Im Wald. Auf dem Feuerwehrturm.«

Plötzlich wurde mir klar, dass ich niemals darüber nachgedacht hatte, was mit ihm geschehen war. Von den damaligen fünf Personen war die Tante hier, Fred lebte nicht mehr. Zwei in Übersee – Józef Koperwas in Australien und Marta in Amerika. Was Kazik anging, so war das so, als hätte er aufgehört, zu existieren. Bei den Koperwasy sprach man nicht über ihn, erwähnte ihn mit keinem Wort – bis ich plötzlich erfuhr, dass es ihn gab. Und zwar im selben Dorf.

Also war er die ganzen Jahre hier gewesen und sie hatten nicht einmal über ihn gesprochen. Gott weiß, wie das alles an der Tante vorbeiging. Onkel Fred ließ sich nach seiner Rückkehr aus dem Gefängnis in Iława nieder, eröffnete einen Dorfladen und starb bald. Die Kinder starben, Marta wanderte aus – und er fand sich außerhalb des Beritts der großen Familie der Koperwasy. Dazu kam, dass er ein zweites Mal heiratete, niemanden von unseren Verwandten, und sich – wie man so sagte – »selbst zurückzog«. Ich wusste nicht, dass ich ihn nach ein paar Tagen auf Armlänge von mir entfernt sehen würde.

Schon während der ersten Stunden des damaligen Aufenthalts wurde mir klar, dass die Dinge wirklich schlecht standen. Vieles wies darauf hin, dass die Tante diesmal einverstanden war, endgültig zu sterben. Die Vorbereitungen schienen in der letzten Phase zu sein. Die Kranke hatte selbst nach einem Priester gefragt und darum gebeten, dass man einige Trauermessen bezahlen sollte.

Ich dachte damals, dass der Tod der Zwillinge wohl einfacher gewesen sein müsse. Dass der Tod eines Kindes eine relativ einfache Tatsache sei, weil sich eigentlich noch niemand so recht an etwas hatte gewöhnen können. Weder es an das Leben noch wir an es. Wenn es fortgeht, zerreißt es nur einen dünnen Faden. Mit einem Erwachsenen ist es umgekehrt. Er muss nicht einen, sondern Tausende ihn mit dem Leben verbindende Knoten lösen – und das schmerzt sowohl ihn als auch uns. Das, was Tante Gienia tat, war so, als wolle sie dem Schmerz zuvorkommen und das Leben Faden für Faden ausreißen. Es war ein systematischer, zelebrierter Abschied vom Leben.

Aus Neugier ging ich an einem Vormittag los, um mir die von der Tante ausgesuchte Stelle anzuschauen. Der banale Grabstein, auf Hochglanz gebürstet, mit einem sorgfältig geharkten Umfeld, stand im zentralen Bereich des Friedhofs. Sie sollte an der Seite jenes aufgeblähten Grabhügels der Zwillinge liegen, der nicht größer war als der Bauch einer schwangeren Frau. Und ausgerechnet dort, auf dem Friedhof, begegnete ich Kazik.

Ich konnte kaum fassen, dass er es war. Sicherlich, ich hatte ihn schon früher gesehen. Das gewöhnliche Aussehen eines Bauern in Drillichweste mit verschossener Schirmmütze in der Hand – keine besonderen Kennzeichen. Ich hatte ihn mir anders vorgestellt. Er soll ein gut aussehender, resoluter Junge gewesen sein, mit einem ewigen Lachen im Gesicht und göttlichen Funken im Auge. Aber bei den Bauern gibt es das oft. In der Jugend durch gutes Aussehen beschenkt, verlieren sie später, durch Nachlässigkeit und schwere Arbeit, die von großzügiger Hand verliehene Anmut.

Er schien mir inmitten all dieser Gräber allein zu sein. Erst nach einer Weile erblickte ich in der ältesten, sich in eine Grabhügellandschaft verwandelnden Ecke des Friedhofs einen Mann. Er wuchs gleichsam aus der Erde heraus. Als ich ihn bemerkte, richtete er sich gerade auf. Später, als er auf mich zukam, nahm ich seine verschmutzten Knie wahr.

Ich stand vor dem kleinen Grab der Zwillinge und er näherte sich in Schleifen. Er blieb immer wieder stehen, richtete den Blick hin und wieder auf ein Grab, schaute manchmal zu mir hinüber, als wolle er sichergehen, dass er sich nicht irrt. Er ging in meine Richtung.

Er trat nicht von der Seite, sondern eher von vorn an mich heran. Im Übrigen kam er nicht besonders nah heran; er blieb ein paar Schritte vor mir stehen und fragte aus der Distanz: »Und warst du auch schon im alten Teil?«

Da war ich nicht gewesen, aber seiner Tonlage entnahm ich, dass ich dort hingehen musste. Er ging als Erster los, ich hinter ihm her. Wir betraten den zugewachsenen, einstdeutschen Teil. Er blieb stehen. Vor uns, in der Friedhofsecke, waren zwei Gräber, die sich von den übrigen unterschieden. Er deutete auf ein Grab mit rotem Stern, das ummauert war. »Das ist der, den ich getötet habe«, sagte er leise. »Ich fürchte mich nicht mehr vor ihm.«

Ich schwieg. Sprachlos geworden durch dieses plötzliche Bekenntnis, versuchte ich für mich irgendeinen Aufhänger zu finden. Ich schaute zur Seite, auf ein – wodurch auch immer –schwarz angelaufenes Aluminiumtäfelchen und buchstabierte: Fa-mi-lie Wut-tke.

Kazik kniete nieder. Ich machte es ihm, wie nach unten gezogen, nach. Ich wollte beten, aber in meinem Kopf herrschte vollkommene Leere. Er stand auf. Stellte sich schweigend neben mich und klopfte nicht einmal seine Knie ab. Danach beugte er sich herunter und richtete die gerade stehenden Lämpchen. Seufzend flüsterte er: »So haben sie sie hier bestattet…«

Was hätte ich, ein Kind, ihm sagen können? Was wusste ich über all das und was wollte er von mir? Was erwartete er von mir, dass ich, ein Kind, das alles verstünde? Wenn vielleicht nicht alles, doch wenigstens ihn? Dass ich entsetzt sein würde, dass ich ihn vielleicht tröstete? Dass vielleicht ich, ein noch unschuldiges Kind, eine andere Macht haben könnte als er? Für mich war das Vergangenheit, an der niemand etwas ändern und die ich nicht ergründen konnte. Er, Kazimierz Krupniak, konnte das vielleicht, aber nicht ich. Ich nicht mehr.

»Es ist Zeit für mich«, sagte er mit einem Blick auf die Uhr. »Ich habe heute Dienst. Vielleicht sehen wir uns einmal wieder.«

Ich fuhr zusammen, als hätte er mich berührt.

Krupniak fügte zögerlich hinzu: »Wenn du willst, kannst du mich ein Stück begleiten.«

Wir durchschritten das gusseiserne, seit Jahren nicht mehr benutzte Tor. Wie ließen den kreisrunden, von drei Seiten umpflügten Friedhof langsam hinter uns zurück.

»Das ist der alte Weg«, brachte er munter wie ein Reiseführer hervor. »Die Deutschen beerdigten von dieser Seite, nach dem Krieg wurde ein neuer gebaut.«

Danach, als wären die vorigen Sätze nur dazu da gewesen, um irgendeine Stimme zu hören, stieß er in einem Atemzug hervor: »Ich habe einen Menschen getötet. Das ist meine sehr große Schuld. Was nutzt es schon, dass mich Gienia dazu überredet hat.«

Diese beiden einzelnen Sätze wurden in ein und derselben Tonlage ausgesprochen, wie ein Blitzschlag. Oder zwei Blitze, die an der gleichen Stelle einschlagen. In der Ferne bewegte sich der wogende Wald. Ich ging neben ihm her, aber ich war abwesend. So liefen wir einige Minuten lang, keiner sprach etwas. Er erwartete keine Antwort und das nicht nur deshalb, weil er meine Verwirrung wahrnahm. Dann blieb er stehen, lehnte sich an das Fahrrad und streckte die Hand aus: »Auf dem Pfad kommst du bis zur Chaussee, dort, wo die Pappeln stehen.«

Ich war wie vom Blitz getroffen. Durch die Blitze von vorhin. Alles, was er gesagt hatte, hämmerte wie ein Echo in meinem Kopf. Im Tal lag, einem Familiennest gleich, der Hof der Koperwasy. Was mit sich selbst anfangen, was tun? Etwa unter ihnen sitzen und so tun, als wüsste ich nichts? Nicht zugeben, dass ich ihm begegnet war? Vielleicht wussten ja alle schon lange alles und nur ich allein hatte es verpasst und erfuhr es zuletzt?

Ich bog ab, um es weiter zu haben. Um wenigstens ein paar Minuten mehr zu haben. Wem würde ich begegnen, vor wem würde ich Normalität mimen, was würde ich nur sagen? Das waren die ersten Gedanken, die sich fast automatisch einstellten, dann aber verdrängt wurden, weil etwas Schlimmeres an ihre Stelle trat.

Angst stellte sich ein, Angst vor den Menschen, die mir plötzlich unbekannt vorkamen. Fast fremd, obwohl ich so viel mit ihnen zusammengewesen war und – wie ich glaubte – so viel von ihnen wusste. Das war keine Angst davor, dass sie mir etwas tun könnten, nein. Es war eher die Furcht vor allen und vor allem. So wie, wenn du plötzlich etwas von einer Seite zu sehen beginnst, deren Existenz du nicht vermutet hättest. Ich hatte bei der Tante meine Kindheit verbracht, ihr Heim war für mich wie ein zweites Zuhause, und jetzt stellte sich heraus, dass ich in Wirklichkeit so gar nichts über sie wusste. Warum lebte sie so, warum taten alle so, als wäre nichts passiert?

Ich kehrte um. Ohne zu wissen, was ich tun würde, lief ich zurück. Ich lief, wohin mich die Füße trugen. Ich lief in den Wald hinein und überlegte, ob ich nicht auf den Turm hinaufklettern und von Krupniak den Rest erfragen sollte. Aber so richtig kannte ich ihn gar nicht, und war das, was ich gehört hatte, nicht schon genug? Nein, es war nicht so, dass ich mich vor ihm fürchtete. Umgekehrt; ausgerechnet er, so hatte ich wahrgenommen, war ruhig und sanft. Anscheinend war alles Böse, das jeder in sich trägt, in ihm vollkommen ausgebrannt. Ich spürte eher, dass es übertrieben wäre, Dinge zu erfragen, über die er so viel gesagt hatte, wie er es wollte. Und auch das Ersteigen des Turms war irgendwie … ging irgendwie nicht. Mit diesen Zweifeln lief ich weiter, an seinem Pfad vorbei, bis mir plötzlich bewusst wurde, dass ich bis Sztum laufen wollte. Dass ich die Grenze der Kindheit überschreiten und endlich jenes Städtchen sehen wollte, das sich einer so düsteren Berühmtheit erfreute.

Nachdem ich mich entschieden hatte, bewegte ich mich schneller voran. Zuerst lief ich noch, später begann ich zu rennen. Ich wusste nicht, ob in die richtige Richtung, ich wusste auch nicht, wie viele Kilometer ich vor mir hatte, aber das war alles nicht so wichtig. In diesem Moment genügte das schon; wichtig war, sich vorwärtszubewegen. Vor sich hin, die ganze Zeit vor sich hin. Flüchten, ja flüchten von jener Stelle, an der ich mich von Kazik getrennt hatte. Vor den Koperwasy und vor der Tante, von der er mir jene schreckliche, unbegreifliche und unerträgliche Sache erzählt hatte.

Ich rannte. Zuerst langsam, dann beschleunigte ich. Ich spürte, dass ich so rasch wie möglich müde werden musste. Rennen ist wie eine Erlösung. Es erlaubt einem, nicht nur sämtliche überflüssigen Kräfte, sondern auch Gedanken loszuwerden. Nach einigen hundert Metern hast du eine einfache, rhythmische Losung im Kopf, die du ebenso sinnlos wiederholst wie ein hundertfaches Mariengebet oder ein anderes, entliehenes Mantra. Ja eben, nur Körper sein. Ein ermüdeter Körper, der zu nichts Kraft hat. Nicht zum Denken, nicht zum Überlegen.

Der Waldweg war nicht länger als einige hundert Meter, er kreuzte die Chaussee, die von beiden Seiten von einer Baumreihe gesäumt wurde. Sie war wohl eher von den einstigen Bewohnern benutzt worden als von den heutigen, denn jetzt war, wohin das Auge auch reichte, keine lebendige Seele zu sehen. Der Asphalt fühlte sich unter den Füßen wie vermodert an. Niemand benutzte und niemand pflegte ihn. Ich überlegte einen Moment, ob ich weiterrennen sollte. Ich wollte nicht, dass mich jemand, ohne ersichtlichen Grund, rennen sah. Ich schaute noch einmal nach allen Seiten – da war niemand.

Ich rannte auf dem Straßenbankett. Vielleicht einen halben Kilometer, vielleicht etwas mehr. Als unweit hinter der Kreuzung die Gebäude eines verlassenen Bauernhofes dunkelten, beschloss ich, dort zu halten und auszuruhen. Den Atem für einen Moment beruhigen und dann weiterlaufen. So lange, bis ich nicht einmal die Kraft hätte, zu gehen. Ich verließ den Weg und sprang über den Graben.

Es sah aus wie das Gehöft von Onkel Fred, allerdings in einer noch tieferen Phase des Verfalls, wohl der letzten. Es stand einsam und unbewohnt da. Der Hof war schon lange von Grünzeug und verwildertem Gras überwuchert. Vor der nachgedunkelten Scheune versanken die rostroten Maschinen in Brennnesseln. Ihre hölzernen Teile waren verfault und abgefallen, die metallenen Nägel und Nieten wirkten – als ich mir sie näher betrachtete –, wie durch unbekanntes Gewürm abgenagt. Die Knäufe waren zwar noch da, aber der Rest war so abgefressen, dass sie bei der ersten Berührung brachen. Eine Seite der Scheune sah so aus, als wäre sie von einem apokalyptischen Ungeheuer aufgerissen worden. Über mir baumelten Bretter, die für die menschliche Hand unerreichbar waren.

Ich schaute durch das Fenster in das Innere des Hauses. Im Küchentrakt gähnte statt des Fußbodens ein großer Trichter, wie von einer Bombe. Über ihm hingen die an die Wand geklebten Reste eines gekachelten Küchenherds. Einige himmelblaue Hollandkacheln waren unversehrt geblieben. Im Hausinnern, in den anderen Zimmern, war sonst nichts. Gesplittertes Holz ragte aus den herausgerissenen Fensterrahmen.

Ich rannte weiter. Mich wieder an Sztum erinnernd, beschleunigte ich meine Schritte. Es musste schon Nachmittag sein und ich wusste weder, wie viel des Weges ich noch vor mir hatte, noch, ob ich auf dem richtigen Weg war. Einen Moment später klärte sich alles auf. An einen an der nächsten Kreuzung stehenden Baum hatte jemand ein – wie einen Wegweiser zugespitztes – Brettchen genagelt. Die handgeschriebene Aufschrift informierte: Brachlewo Wiel. 4 km.

Ich machte also einen Kreis, schlug einen großen Bogen um das Haus der Tante. Ich umkreiste die Sztumer Heide an ihren Rändern. Irgendwo – dachte ich – muss diese kleine Straße mit der am Haus der Tante vorbeilaufenden zusammentreffen. Mit der, auf der ich schon so oft herumgeschlichen war und niemals den Mut gehabt hatte, sie weiterzugehen. Ich entschied sofort. Ich werde weit entfernt von der verbotenen Kurve sein und – von niemandem bemerkt – bis nach Brachlewo gelangen können. Und sobald ich dort bin, gehe ich zum Pfarrer. Zu dem aus Brachlewo. Und erfahre mehr, als mir Kazik erzählt hat. Er, der schon seit Jahren hier ist, wird sicher wissen, wie das alles wirklich war.

Jetzt wusste ich, wozu ich unterwegs war. Und ich war überzeugt, dass sich die in Gesprächen chiffrierten Geheimnisse endlich würden erklären lassen. Diese vier Kilometer waren nicht weit, ich hatte doch genauso viel zur Bahnstation, von der ich zur Schule fuhr. Schon bald, nach der nächsten Biegung und unter der Wand des dunkelblauen Waldes, erblickte ich das Dorf.

Die zu einer Herde zusammengedrängten Häuser gruppierten sich um den Turm der neogotischen Kirche. Neben der Kirche stand, ebenfalls aus Backstein, das offensichtlich gleichzeitig errichtete Pfarrhaus. Die Fensterrahmen waren weiß, die Fensterläden und Türen dagegen von dunkelgrüner Farbe, die hier und dort in kleinen Spänen abblätterte. Ich klopfte an.

Ich wartete einen längeren Moment, aber niemand öffnete. Schon wollte ich zum zweiten Mal anklopfen, als ich auf dem Türrahmen eine runde Klingel entdeckte. Ich drückte auf den knochenweißen Knopf. Drinnen gab es irgendwo einen schrillen Ton und fast sofort begannen die Hunde zu bellen. Durch den Lärm drang die Bassstimme des Pfarrers hindurch. Ich kannte ihn nicht, aber niemand außer einem Dorfpriester besitzt eine so laute Stimme. Dem Eingang näherten sich allerdings nicht seine Schritte, sondern ganz deutlich solche in Damenschuhen. Die Tür öffnete sich so weit, wie die Kette dies zuließ, und im Türspalt zeigte sich das reife Gesicht einer Frau.

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