Kitabı oku: «Joseph Roth - Letzter Donauwalzer», sayfa 5
2. 5. Der Leviathan
2. 5. 1. Entstehung und Inhalt
Die erstmals 1938 in der Pariser Tageszeitung veröffentlichte Erzählung zu etwa 30 Seiten trägt ursprünglich den schlichten Titel „Der Korallenhändler". In Buchform findet sie Publikation im Verlag Allert de Lange kurz nach Roths Tod auf Betreiben Hermann Kestens unter „Die Legende vom Leviathan“. Der Bezug zur Legende bzw. Mythologie ist nicht nur durch den Titel indiziert. Schon der erste Satz im ersten von acht Kapitel belegt den märchenhaften Grundton: „In dem kleinen Städtchen Progrody lebte einst ein Korallenhändler, der wegen seiner Redlichkeit und wegen seiner guten, zuverlässigen Ware weit und breit in der Umgebung bekannt war“.65
Der Schauplatz ist im Gegensatz zu Lopatyny zwar fiktiv, klingt aber lautmalerisch an Brody an. Der letzte Satz schließt gleichfalls legendär mit einer seelischen Beheimatung, da der Chronist den Meeresgrund als wirkliche Heimat des Protagonisten angibt und schließt: „Möge er dort in Frieden ruhn neben dem Leviathan bis zur Ankunft des Messias.“
Neben Hiob und Tarabas wird keine Geschichte so sehr vom regionalen Brauchtum des Chassidismus geprägt. Der Leviathan ist eine religiöse Legende, die fast schon einem Bekenntnis zum Judentum gleichkommt. In der Retroperspektive dominiert Melancholie über eine verlorene Welt, einen Zeitgeist. Bewusst wendet sich Roth von der Neuen Sachlichkeit und vom Expressionismus ab, obschon er thematisch dem Motiv der verlorenen Generation treu bleibt.
Der Grundton ist elegisch, doch von besonderer Wehmut, weil sie nicht anklagt oder verklärt, sondern einzig festhält, dass sich viele Menschen in der neuen Ordnung nicht zurechtfinden. Über den orthodox-jüdischen und zunehmend unglücklichen Korallenhändler Nissen Piczenik sagt der Chronist: „Er war nicht einfach ertrunken wie die anderen. Er war vielmehr … zu den Korallen heimgekehrt, auf den Grund des Ozeans, wo der gewaltige Leviathan sich ringelt.“66 Seiner letzten Ruhestätte geht eine Transformation voraus, die aus dem kontinentalen, seiner ostgalizischen Scholle eng verbundenen Händler einen reisenden Vagabunden macht. Seelisch ist der Korallenverkäufer mit dem Grund des Ozeans verbunden „er sehnte sich nach dem Meere.“
Es bestehen drei Möglichkeiten, das Geschehen zusammenzufassen. Zunächst unter dem Aspekt Antagonismus zwischen Tradition und Moderne.
Der Protagonist Nissen Piczenik ist ein frommer, integrierter und geachteter Jude der wie alle Dorfbewohner nach alten Gesetzen und Brauchtum lebt. Spätestens seit dem Radetzkymarsch integriert der Autor den Genuss von Schnaps als soziales Kulturgut, das alle Menschen zu Brüdern macht: „und es gibt keinen Unterschied zwischen Bauer und Händler, Jud' und Christ; und wehe dem, der das Gegenteil behaupten wollte!“67
Der Zusammenhalt diverser Ethnien vor Ausbruch des Krieges und der Frieden zwischen den Bewohnern endet mit dem Auftauchen des Verführers Gorodotzki, der ihnen den Weg zum schnellen Geld durch billigen Tand weist. Die Profitgier des Fabrikanten wirkt wie eine Adaption von Walter Benjamins Essay Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935).
Der Umgang mit Korallen und Kunst führt zum Wertekonflikt zwischen dem Handwerk Nissens und der Massenware des Petersburger Perlenhändlers.
Der zweite gesellschaftliche Topos besteht in der Entfremdung des Menschen Nissen von seiner Frau und Familie. Seine Reise nach Odessa führt zum Rollentausch: „Indessen lag, unfruchtbar und häßlich, seine Frau daheim, in Progrody. Sie verkaufte heute an seiner Statt Korallen. Konnte sie es überhaupt? Wußte sie, was Korallen bedeuten?“
In diesem Kontext wird der bislang bodenständige und sesshafte Händler verführt von dem Matrosen Komrower, die Gebote seiner Religion zu vergessen. Es sind die ersten Ferien für Nissen überhaupt. Das Spannungsfeld liegt folglich in der Kollusion kontinentaler Kontinuität nomadischen Abenteuern.
Der dritte Gesichtspunkt liegt im theosophischen Duell mit dem diabolischen Charakter Jenö Lakatos, dessen Name magyarisch Schlosser bedeutet und an dem alles unecht aufgesetzt erscheint: ein „junger Mann, mit glatten, blauschwarzen, pomadisierten Haaren – nebenbei gesagt der einzige Mann weit und breit in der Gegend, der einen glänzenden steifen Kragen trug, eine Krawatte und ein Spazierstöckchen mit goldenem Knauf.“
Für Nissen ist Metaphysik alles, für Lakatos beruht sie auf Nichts. Zwischen den beiden Männern herrscht ein Generationenkonflikt vor, zudem handelt Lakatos mit Imitaten, die chemisch gewonnen werden. Anstelle lebendiger Korallen verkauft er Kunststoff. Der infernale Vergleich ist deutlich: „Korallen, die bläulich brennen, wenn man sie anzündet, wie das Heckenfeuer, das ringsum die Hölle umsäumt.“
2. 5. 2. Die Koralle und das Motiv der Fälschung
Fast jede Erzählung Roths hat mindestens ein tragendes Symbol oder dingliches Leitmotiv. In Radetzkymarsch, Die Kapuzinergruft und Die Büste des Kaisers ist es bereits im Titel enthalten. Im Fall dieser Erzählung ist zwar auch der Leviathan von signifikanter Bedeutung, doch im Grunde als Wächter der Korallen: „Dem Leviathan aber, der sich auf dem Urgrund aller Wasser ringelte, hatte Gott selbst für eine Zeitlang, bis zur Ankunft des Messias nämlich, die Verwaltung über die Tiere und Gewächse des Ozeans, insbesondere über die Korallen, anvertraut.“68
Acht Nennungen des Leviathans in der Novelle stehen allein im ersten Kapitel achtunddreißig Erwähnungen der Koralle gegenüber, das Wort Korallenhändler nicht eingerechnet. Würde man alle Stellen zitieren, könnte man fast den Gesamttext kopieren. Das vom Griechischen korállion abgeleitete Nesseltier kommt ausschließlich im Meer vor und symbolisiert in seiner Sesshaftigkeit das Gegenteil des Nomaden . Dies kann beinahe lebenslang auch vom Händler Nissan behauptet werden, deren Abbild die Korallen sind. Sie sind mehr als bloßes Attribut des Meeresungeheuers oder terrestrische Entsprechung.
Seemannsgarn fließt als Korallen-Theorie ein: das Lebewesen erstellt sich auf Meeresgrund, um gefunden zu werden und als Schmuck für die Frauen veredelt, die Liebeslust der Männer zu erwecken. Demnach repräsentiert das Meeresgeschöpf von Anfang an sakrale Wertigkeit und einen divinen Charakter. „Denn die Korallen sind die edelsten Pflanzen der ozeanischen Unterwelt, Rosen für die launischen Göttinnen der Meere, so reich an Formen und Farben, wie die Launen dieser Göttinnen selbst.“
Die Farbe Rot und das Organische der Korallen formen Einheit und Synonyme für natürliche Erotik, allerdings auch für den Tod, handelt es sich um das Skelett des Meeresbewohners und magisches Indiz für den physischen Zustand seiner Trägerin: „Denn er sah mit eigenen Augen, wie seine rötlichen Korallenschnüre an den Busen kranker oder kränklicher Frauen allmählich zu verblassen begannen, an den Busen gesunder Frauen aber ihren Glanz behielten.“
Zusammenfassend sind drei Ebenen über die Korallen abgedeckt: Verwurzelung, Verführung, Echtheit: die natürliche Wahrheit über Körper, Geist und Seele. Darüber hinaus dient die Koralle als Gleichnis für die Kunst, das Absolute, auf das der alte Gott Jehova eifersüchtig ist: Die berufsbedingte Liebe zu den Korallen geht dem Händler über alles, Frauen und Kinder sind ihm darüber längst gleichgültig geworden. Möglicherweise gilt dies auch für Roth, dem wohl keine Frau so nahe gekommen ist wie das Schreiben.
Rot, röter noch als rot, sind die wertvollsten Korallen. Die der Konkurrenz, speziell des Lakatos, sind das nicht, doch der Wert der Schönheit verliert zunehmend an Bedeutung, weil Gewinn und Effizienz wichtiger werden. Die materille Täuschung erfasst die Seele, bald niemand vermag niemand das Unechte vom Echten zu unterscheiden. Das natürliche Leben verschwindet und mit ihr die instinktive Urteilskraft der Menschen. „Er mischte Echtes mit Falschem – und das war noch schlimmer, als wenn er lauter Falsches verkauft hätte. Denn also geht es den Menschen, die vom Teufel verführt werden: an allem Teuflischen übertreffen sie noch sogar den Teufel.“
Nissan unterliegt diesem Taschenspielertrick, um sein ökonomisches Überleben zu sichern, „Verrat übend an sich selbst“. Folglich besitzen Korallen eine philosophische Dimension, da sie nach dem Wert der Wertigkeit fragen, wie viel ein Mensch täuschen darf, bis er die Grenze zum Unveränderbaren überschritten hat. Lakatos, Leiter eines amerikanischen Imperium mit Sitz in New York personifiziert mit seinem Hinkebein, Mausezahn, Schwefelgeruch und Brandröte den leibhaftigen Teufel. Er bringt den Zeitgeist auf den Punkt: „Die Bauern merken nichts … Echte Korallen können nicht so schön sein.“
Nicht nur der schöne Schein, die Illusion, verkauft sich gut, auch die mangelnde Bereitschaft zur Reflexion spielt dem Bösen in die Karten. Technik und Globalisierung sind nicht aufzuhalten, ihnen gehört die Zukunft. Nissen gehört der untergehenden Epoche; er fühlt, dass seine Zeit abläuft ist. Seine natürlichen Korallen will niemand, seine Ethik der Balance zwischen Natur und Kultur gilt als rückständig, seine Kunst als altbacken.
Entsetzt stellt der jüdische Korallenhändler fest, dass ihn die roten Brustwarzen der Prostituierten an das Rot der Korallen erinnert: „Und er, der nie in seinem Leben eine andere Frau gekannt hatte als seine nunmehr tote Ehefrau, er, der niemals eine andere Lust gekannt hatte als die, seine wirklichen Frauen, nämlich die Korallen, zu liebkosen, zu sortieren und zu fädeln, er fühlte sich manchmal in der wüsten Schänke Podgorzews anheimgefallen dem billigen weißen Fleisch der Weiber, seinem eigenen Blut …“
2. 5. 3. Tiefe und Rätsel
Die Tiefe des Meeres, im Hiob und in Der Leviathan von zentraler symbolischer Bedeutung, steht für die Unergründlichkeit des Glaubens. Der Genesis wird vom Himmel ins Meer, die Schöpfung auf den Meeresgrund verlegt. Gleichzeitig symbolisiert es mit seinen Korallen das Unbewusste; mehrfach gebraucht Roth Formulierungen wie „unter der Oberfläche seines Bewußtseins“ oder: „Denn der ewige Wind weht über das Meer, ja es scheint, daß aus dem Meer selbst ein Wind kommt, ein Wind aus den Tiefen des Wassers.“69
Das Spiel mit den Elementen erzeugt den archaischen Rückgriff auf den aus Lehm und Wasser geformten Golem. Das Meer ist gleichzeitig Rätsel der Schöpfung als auch zum Selbst. Seine Wellen sind Anfang, Zugang und Ende der Zeit.
Seine erste Reise führt Nissan von Odessa nach Petersburg. Dabei interagieren Farben mit dem Meer. Die Farbe Rot hat die Funktion eines abwesenden Gottes: die ganz roten Korallen sind selten, doch rote Perlen existieren nicht Weil das Meer alles ist, deckt es sämtliche Farben ab: „Das Schwarze Meer ist gar nicht schwarz. In der Ferne ist es blauer als der Himmel, in der Nähe ist es grün wie eine Wiese.“
Seine Nichtzugehörigkeit zum Kommunismus verkündet der farbliche Kontrast: „Vor der strahlenden weißgoldenen Pracht des Offiziers nimmt er die schwarze Mütze ab, und seine roten geringelten Haare flattern im Wind. Judentum rot, Revolution rot.” Rot wird folglich auch zum Symbol jüdischen Blutes.
Zwei Ereignisse verdeutlichen dem Korallenhändler, dass er seine Heimat verlassen und seiner Bestimmung, über das weite Meer zu fahren, folgen muss. Der Tod seiner kranken Frau, den er als Erleichterung empfindet – es fällt nicht schwer, diesen Gedanken biografisch zu deuten, da Frederike Roth unheilbar krank für den Schriftsteller zu einer enormen Belastung geworden ist – und das Ausbleiben von Kundschaft, die sich alle für die künstliche Pracht der Konkurrenz entscheiden, bilden den Auslöser für seinen Exodus.
Das Schiff, auf dem er untergeht, heißt bezeichnenderweise Phönix. Der Tod findet ihn weder überrascht noch ist er Nissan unwillkommen, denn er kehrt heim zum Meeresgrund, als sei es die Rückkehr zum verlorenen Paradies.
Der Tod der Ehefrau, die auf spiegelglatten Eis vor dem Haus stürzt und sich eine Gehirnerschütterung zuzieht, wird mystifiziert: „Kein Mensch hatte gewünscht, daß sie am Leben bleibe, und also war sie auch gestorben.“
Rätsel oder Geheimnisse unter der Oberfläche durchziehen die legendenhafte Erzählung. So führt die mangelnde Lebensfreude von Nissens Frau, bedingt durch die Lieblosigkeit ihres Gatten, der sich an den Korallen mehr erfreut als an ihrer Nähe, zu ihrem Tod. Einzelne Elemente der Erzählung wie die schmelzenden Eiszapfen im Frühling, schmetternden Lerchen und quakende Frösche erinnern an Das falsche Gewicht, andere wie der Kampf mit dem Teufel, gegen Zins und Geldwucher an Hiob, Raben und Kastanien als Todesboten an Radetzkymarsch („dunkelgrünen Schatten der Kastanien“) und Die Kapuzinergruft. So entsteht dadurch eine Grundmelodie biblische Musik.
Der topografische Vergleich von Häusern mit Schiffen und der Weite des Meeres mit Landschaften verbindet seelische Beheimatung und Drang nach Flucht.70 Menschliche globale Heimat ist der Himmel für Roth. Entwurzelung und Sehnsucht nach Rück- oder Heimkehr bedingen sich immer wechselseitig. „So hat sich Roth in seinem epischen Werk eine verlorene Heimat wieder geschaffen, etwa jenes in jedem Detail so lebenswahre, lebensträchtige Österreich-Ungarn, … so bevölkerte er mit dem Personal seines Lebens seine Romane und Geschichten und lebte auch mit seinen erfundenen Figuren wiederum, als wären sie Komparsen seines eigenen Lebens.“71
Zweifel an der Identität und der Selbstverständlichkeit der naturgemäßen oder göttlichen Ordnung spiegelt sich in allen Werken, doch im Leviathan besonders komprimiert. Die Erzählweise Roths ist grundsätzlich von der Perspektive der Auswanderer, Flüchtlinge oder Kriegsheimkehrer getragen; sie vereint mitunter das vermeintlich Unvereinbare wie Rastlosigkeit und Geborgenheit, Verlust und Gewinn von Freiheit.72 Deshalb nennt Arthur Zimmermann in der Neuen Züricher Zeitung (Ausgabe 7./8.März 1992) auch einen „unbehausten Grenzgänger“, der Traum und Alp ineinander überführt, wenn Nissan sich den Tod durch Ertrinken ersehnt. Der Leviathan ist eine Figur aus dem Alten Testament, der Sünder auf dem Meeresgrund verschlingt.
2. 6. Die Legende vom heiligen Trinker
2. 6. 1. Entstehung und Inhalt
Die letzte Geschichte, die Roth testamentarisch hinterlässt, erscheint im Amsterdamer Verlag Allert de Lange 1939 posthum Paris bietet Topographie für Teilhandlungen vieler Romane Roths, darunter Napoleon und die Hundert Tage, Flucht ohne Ende oder Beichte eines Mörders, zuletzt bietet es die Kulisse die Legende des heiligen Trinkers. Zudem hat er seit 1925 als Auslandskorrespondent auf eigenen Wunsch in der Stadt an der Seine gearbeitet und die letzten glücklichen Tage an der Seite seiner Frau vor Ausbruch ihrer Schizophrenie verlebt. Der prosaische Beginn ist typisch, weil symbolisch und mit Zeit- und Ortsangabe verbunden: „An einem Frühlingsabend des Jahres 1934 stieg ein Herr gesetzten Alters die steinernen Stufen hinunter, die von einer der Brücken über die Seine zu deren Ufern führen.“73
Das Gesicht seiner Zeit zeichnend, erzeugt Roth auch sein eigenes, das eines unrettbaren Säufers. Zum zweiten Mal nach Die Rebellion heißt der Protagonist Andreas; er ist jedoch als Alter Ego ein resignierter Trinker, der dennoch ein Mann von Ehre sein will. Als ihm ein Fremder, in dem man das Gott erkennt, Geld leiht, will er dieses zurückerstatten, was misslingen muss, weil er trinkt und sein Leben von Zufällen gesteuert wird.
Während Roth nach seinem Kollaps in das Armenspital Necker eingeliefert wird, wo er nach vier Tagen an einer Lungenentzündung bei progressiver Leberzirrhose qualvoll stirbt, erfährt Andreas in der Kirche ein sanftes Ableben: „Gebe Gott uns allen, uns Trinkern, einen so leichten und so schönen Tod!“
Über fünfzehn Kapitel erzählt Roth die Geschichte eines liebenswerten Alkoholikers, der um eine geprügelte Frau zu schützen, getötet und seine Schuld nie überwunden hat. Auch dieses Detail erinnert an den Autor selbst, der wesentliche Züge biografisch in seine Legende einschreibt, darunter die Herkunft Aus Osteuropa. Dass er sich schuldig an der Ohnmacht gegenüber der kranken Frau gefühlt und für seine rasende Eifersucht schämt, dokumentiert seine Selbstaussage lautet: „Ehe ich zu leben angefangen hatte, stand mir die ganze Welt offen. Aber als ich zu leben anfing, war die offene Welt verwüstet. Ich selbst vernichtete sie mit Altersgenossen.“74
Im ersten Kapitel erhält der verwahrloste Andreas Kartak unter einer Brücke Geld aus der Hand eines Fremden, mit dem Hinweis, er möge es sonntags der heiligen Theresia in der Kirche Sainte Marie des Batignolles zurückgeben. Der Ort bezeichnet ein Stadtviertel, das zu Roths Zeiten vorwiegend Künstlern vorbehalten und, vergleichbar mit Montmartre heute, äußerst populär ist. In der Kirche gedenkt man den von der heiligen Theresia gelehrte kleinen Weg: die Armut des Menschen, der vor Gott mit leeren Händen steht zu erkennen, der sich von ihm alles schenken lassen muss. Darum soll jeder seinem Nächsten gegenüber milde und freigiebig auftreten. Nach seiner Konvertierung zum Katholizismus, den Roth 1934 als symbolisches Bekenntnis zur Donaumonarchie versteht, trägt er selbst ein Medaillon der Theresia mit sich.
Im zweiten Kapitel steigt Andreas die Treppen hinauf; er hat durch dieses Wunder, die Geldgabe des Fremden, eine zweite Chance erhalten. Wenig später (3) steigt eine Verkäuferin die Leiter hinauf, um ihm eine günstige Brieftasche aus dem Regal zu holen, die Andreas sich erbittet, um das geliehene Geld dort sorgfältig zu verwahren. Der erste Wendepunkt erfolgt prompt.
Am Sonntag, auf dem Weg zur Kirche, holt ihn die Vergangenheit in Gestalt von Karolina ein, seiner einstigen Freundin, für die er getötet hat. Er verpasst den Kirchengang und verbringt den Tag und die folgende Nacht mit ihr. Am nächsten Morgen geht der Emigrant aus Olschowice, dem polnischen Schlesien, in ein Lokal und trinkt aus Kummer über sein Versäumnis (5).
Er träumt von der heiligen Therese, die traurig darüber ist, dass er nicht zu ihr gekommen ist (6) und findet auf wundersame Weise in der Brieftasche tausend Francs, ein Vielfaches von dem Betrag, den er zurückerstatten muss.
Als er in einem Lokal davon zwanzig vertrinkt, erkennt er auf dem Plakat eines Fußballspielers seinen einstigen Klassenkameraden wieder (7). Er spürt den Prominenten auf, der sich über das Wiedersehen ebenso freut wie er und ihm nebst Anzug ein gemietetes Zimmer als Geschenk überlässt (8). Die Männer tauschen Erinnerungen aus (9); als Andreas nach langer Zeit badet erscheint es wie eine Neugeburt oder Taufe.
Die Versuchung begegnet ihm bereits auf dem Gang in Gestalt seiner neuen Zimmernachbarin Gaby, einer Tänzerin(10). Er verbringt die Nacht mit ihr (11) und den anschließenden Tag auf Schloss Fontainebleau (Napoleon nahm hier 1814 seinen endgültigen Abschied) mit ihr: seine Schwierigkeit, sich tiefer auf einen Menschen einzulassen, wird offensichtlich.
Am Sonntag geht Andreas geht erneut zur Kirche, um seine Schuld zu begleichen (12). Er trifft jedoch wieder auf einen alten Bekannten, der ihn um Geld bittet, das er erhält. Ein zweites Mal ist die Chance vertan (13). Noch einmal trifft er auf den Fremden, der ihn noch einmal Geld für Theresia anvertraut. Andreas flüchtet in die Bar Taro-Bari, Schauplatz in Beichte eines Mörders Schauplatz und bleibt dort eine ganze Woche bis zum Sonntag (14). Er trifft auf ein unscheinbares Mädchen namens Therese, die er prompt für die Heilige hält und ihr das ihm anvertraute Geld gibt. Die junge Frau will seine Gabe nicht annehmen; stattdessen sie dem Verwahrlosten stattdessen selbst hundert Francs. Unmittelbar darauf stirbt Andreas (15).
2. 6. 2. Vorsehung, Schicksal, Zufall
Die Legende als Gleichnis oder Parabel zu betrachten liegt nahe. Eine Lesart bietet die, vom Autoren angebotene, das Leben aus der Vorsehung heraus zu betrachten: „Nun wollte es die Vorsehung – oder wie weniger gläubige Menschen sagen würden: der Zufall –, daß Andreas wieder einmal knapp nach der Zehn-Uhr-Messe ankam. Und es war selbstverständlich, daß er in der Nähe der Kirche das Bistro erblickte, in dem er zuletzt getrunken hatte, und dort trat er auch wieder ein.“75
Der Sinnspruch der Gruppe Anonyme Alkoholiker lautet: Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden. Für den Philosophen Odo Marquard in Apologie des Zufälligen (1986), der den Abschied vom Prinzip fordert, sind Menschen „mehr unsere Zufälle als unsere Wahl". Im Konflikt zwischen Optimismus der Veränderbarkeit und Pessimismus der Schicksal-Hörigkeit hält er für angebracht, die Balance zu halten und nicht in ein mögliches, doch fiktives, Krisenszenario einzustimmen. „Unsere Nichtkrise ist die eigentliche Krise unseres Denkens.“ Als Skeptiker plädiert er für den Abschied vom Dogma, da sich vermeintliche Wahrheiten als immer kurzlebiger erweisen. Für Marquard verhindert die Krise der Erwartung die Begegnung mit dem wirklichen Sein und seinen Möglichkeiten der Veränderung. In seiner Betrachtung liegt viel Denken Roths.
Dessen Lebenserkenntnis besteht darin, dass Menschen ratlos geworden sind; sie wissen nicht mehr, wie Zusammenleben funktioniert. Zudem gehen sie in ihrer Naivität fahrlässig mit Chancen um. Invertiert darf auch geschlussfolgert werden: gute Absichten allein genügen nicht, sie verhindern Rettung.
Drei Frauen begegnet Andreas und mit keiner weiß er mehr anzufangen als mit ihr zu schlafen oder wie bei der Verkäuferin davon zu träumen.
Ernst Bloch beobachtet in der Ethik die Kraft des Möglichen durch immerwährenden Versuch. Seine, verkürzt das Prinzip Hoffnung genannte Maxime lautet: „Die latente Tendenz zur Verwirklichung von Utopien steckt in den Dingen selbst, die Menschen müssen sie nur entdecken.“76 Menschen verlieren nach dem Krieg das Vorstellungsvermögen, etwas könnte veränderbar sein.
Dreimal versucht Andreas, sein Schicksal zu wenden und lässt sich dreimal von vermeintlichen Zufällen ablenken, zielgerichtet zu handeln. Er hat gewiss gute Absichten, wie jeder Alkoholiker, der schwört, nie wieder zu trinken und der an der Willensfrage scheitert. Eine Form von psychischem Determinismus liegt darin und führt zur Legende des guten Vorsatzes.
Gott scheint mit Andreas zu spielen. Das verlorene Geld vermehrt sich auf wundersame Weise immer wieder; es kehrt zu ihm wie Hoffnung oder Schicksal, das erhört und gelebt sein will, zurück. Im Zeitalter der Opulenz, steht er vor einem permanenten Dilemma, sich ändern zu können und es nicht zu vermögen, weil das Jasagern mit der verinnerlichten Legationsrat kollidiert.
Der Zufall – für Roth Fügung – hält mehrfach Einzug, doch unterscheidet Roth Begegnungen, die aus dem Verhalten resultieren und daher einem sozialen Magnetismus unterstehen von unbeeinflussbaren Ereignissen. „Es schien ihm, daß sein Freund verlorengegangen war im Regen, genauso, wie er ihn zufällig getroffen hatte, und da er kein Geld mehr in der Tasche besaß, ausgenommen fünfunddreißig Francs, und verwöhnt vom Schicksal, wie er sich glaubte, und der Wunder sicher, die ihm gewiss noch geschehen würden, beschloss er, wie alle Armen und des Trunks Gewohnten es tun, sich wieder dem Gott anzuvertrauen, dem einzigen, an den er glaubte.“
Die naturalistische Ethik - Ludwig Feuerbachs Religionsphilosophie - gründet auf der Überzeugung, dass erst in der Moral wahr oder falsch unterschieden wird und sie objektive Erkenntnisse vermittelt. Der Pragmatiker orientiert sich auf die Übereinstimmung von Erfolg und Handlung nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum. Tatsächlich weicht Andreas negativen Erfahrungen und Orten aus und sucht im übertragenen Sinn seinem Milieu zu entkommen. Doch die Übertragung von einer Situation oder einer Person auf eine andere gelingt ihm nicht, weil die Sucht es nicht zulässt. Andreas folgt einem Muster und gleicht einem Gefangenen in Freiheit.
Der Not-Naturalismus, vertreten von Albert Schweitzer, geht davon aus, dass spirituelle Wahrheiten nicht auf den Alltag übertragbar sind, ebenso wenig wie die Naturgesetze für Gott oder die Metaphysik gelten. Die Moral erfolgt intuitiv und nun – kognitive, sie kann nicht gelehrt, sondern muss erfühlt und erfahren werden. Anteile dieser Gesinnung, die eine reine Verantwortungsethik beinhaltet, finden sich in der Erzählung auch. Andreas ist ehrlich, er sucht in keiner Situation den eigenen Profit, was ihn zu einer Art „armen Verschwender“ macht, um einen Romantitel von Ernst Weiß aufzugreifen.
Es gilt, den Zufall der Gelegenheit von jenem der Bestimmung zu unterscheiden. Anfänglich heißt es über Andreas: „Und er lebte von Zufällen, wie viele Trinker.“ Zuletzt lebt von dem Geld, das ihm in Taro Bari zu-fällt. Mit dem geliehenen Geld verändert er sich; er hat Angst, es zu verlieren und beginnt zu rechnen. Das Geliehene ist folglich etwas anderes als das Erarbeitete oder das Geschenkte; es besitzt eine höhere Weihe. Schon seine Begegnung mit der Vergangenheit in Gestalt von Karoline ist es kein banaler oder beliebiger Zufall, der ihn von seiner Vorhabe abhält.
Andreas begleicht, symbolisiert durch das gemeinsame Abendmahl, eine alte Rechnung und will quitt mit dem Vermächtnis der Zeit sein. Andreas setzt hier ausdrücklich die Begriffe zufällig und schicksalshaft gleich Anders ist die Begegnung mit der Tänzerin Gaby, weil sie ohne Vergangenheit „nur zufällig zueinander gestoßen sind. Die Nacht breitete sich vor ihnen aus wie eine allzu lichte Wüste.“
So erscheint vordergründig alles zufällig wie in Beichte eines Mörders oder Das falsche Gewicht.77 Ebenso beiläufig findet das Topos des Fremdseins durch Andreas´ Einreise als polnischer Kohlenarbeiter Erwähnung. Das Schwinden vertrauter Welten und Improvisationskunst wirken als latenter Sündenfall.
Ein Topos, das auch in anderen Prosawerken Verwendung findet ist der Spiegel. „Er ging also, selbstbewusst, trotz seiner zerlumpten Kleidung, in ein bürgerliches Bistro, setzte sich an einen Tisch ... Und da sich seinem Sitz gegenüber ein Spiegel befand, konnte er auch nicht umhin, sein Angesicht zu betrachten, und es war ihm, als machte er jetzt aufs neue mit sich selbst Bekanntschaft. Da erschrak er allerdings. Er wusste auch zugleich, weshalb er sich in den letzten Jahren vor Spiegeln so gefürchtet hatte. Denn es war nicht gut, die eigene Verkommenheit mit eigenen Augen zu sehen.“78
Auch im Schlusskapitel wird der Blick in den Spiegel auf Andreas entscheidender Wendepunkt, diesmal ist es ein anderer Gast, der bemerkt, wie er gleiche einem Sack umfällt und stirbt. Spiegel gerät zur Metapher für Zufall.
Die Bilder und Metaphern wiederholen sich, daher erscheint die legende vom Heiligen Trinker als Abbreviatur der gesamten Prosa. Im Hotel Savoy und in Der stumme Prophet vervielfacht der Spiegel die Räume und die Perspektiven, er verdeutlicht Distanz zu dem Gespiegelten, den Objekten. Der Clown Komantschin stirbt vor einem Spiegel, in dem er sich rasiert.
Kühles Glas, das neben Transparenz auch für Kälte und Austauschbarkeit der Menschen steht, bildet ein dem Spiegel nahestehendes Motiv. In Tarabas fungier Glas und der Spiegel ebenfalls als Mittel der Selbstidentifikation. Roth modifiziert den Narziss-Mythos, der für Vereinsamung und Horizontverengung introvertierter Existenzen steht.Zu viel Sehnsucht auf die große Erlösung verstellt den Blick auf die kleinen Lösungen des Lebens.
Maßvolles Trinken ist bereits ein Thema in Platons Symposion, das hauptsächlich über die Liebe handelt. So gemahnt er über die rhetorische Figur des Aristophanes daran, ein Glas Wein für die Gesundheit, eines für Liebe und eines für guten Schlaf zu trinken; mehr Genuss führt zu negativem Verhalten. Der Alkohol fördert die schlechten und hemmt die guten Qualitäten; auch diesbezüglich erweist sich Roths Erzählung paradigmatisch als Variante und Replik auf antike Legenden.
Roth eignet sich einen mythisch-poetischen Stil an, für den Kassierers Begriff der „symbolischen Prägnanz“ zutrifft; eine immanente Gliederung im Akt der Wahrnehmung und eine anschließende Repräsentation.