Kitabı oku: «Joseph Roth - Letzter Donauwalzer», sayfa 6

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3 . Frühe Romane (vor 1930)
3. 1. Das Spinnennetz

3. 1. 1. Struktur und historischer Hintergrund

„Das Spinnennetz“ ist ein sich an realen politischen Ereignissen orientierender Fortsetzungsroman mit offenem Ausgang in dreißig Kapiteln, der vom 7. Oktober bis zum 6. November 1923 in der Wiener Arbeiterzeitung vor abgedruckt wurde. Der Buchdruck erfolgte erst postum 1967 in Köln und Berlin. Geschildert wird der Aufstieg eines skrupellosen Spitzels zum Parteifunktionär, der sich jedoch durch die vielen Komplizen auch immer mehr in Gefahr begibt, sich im eigenen Netz der Spionage und der Intrigen zu verfangen.

Die Komposition folgt einer journalistischen Vorgabe einer Fortsetzungsgeschichte: 30 kurze Kapitel, die an die Handschrift Massassaugas erinnern und deren Symmetrie in der Länge dem Zeitungsformat geschuldet ist. In jedem Abschnitt geschieht ein Ereignis, das Spannung aufbaut und halten muss. Dazu treten obligatorisch am Anfang und Ende Prophezeiungen, quasi Überschriften für den Verlauf der Handlung. Die Figuren sind klar umrissen; mehr Typen als Charaktere. Die Beschreibung erfolgt von außen mit sparsamen Kommentaren, folglich überwiegt die personale Erzählperspektive, nicht selten verbunden mit einer Kameraperspektive.

Die Handlung spielt zunächst in München, dann in Berlin. Die ersten Sätze dienen der Einstimmung und dem Aufbau einer Atmosphäre; der Schluss integriert neben dem Frankfurter Zeitung Ausblick auf das Kommende und evoziert Neugier. impliziert. Im Feuilleton entscheidet allein der Einstieg darüber, ob der Reiz zum Weiterlesen ausreicht, oder umgeblättert wird. Anders als beim Buch, das man aus der Hand legt und gegeben falls an einem anderen Tag weiterliest, folgen Zeitungen dem Tagesgeschäft; Suspension ist apodiktisch. Dem Literaten Roth ist seine journalistische Signatur anzumerken.

Die prägenden Ereignisse 1922 bis 1924, die in dem Roman einfließen, sind die Nachkriegsjahre. So ist Wien gerade ein eigenes Bundesland geworden. Nach Berlin zieht es viele Künstler, nicht nur Roth; u.a. lässt sich Marc Chagall hier nieder. Die Sh Bahn wird elektrifiziert, eine eigene Berliner Nachtausgabe erscheint, vorwiegend für die Berufspendler geschrieben. Die Streiks nehmen zu, Arbeit ist schlecht bezahlt und eine Kranken- oder Unfallversicherung gibt es noch nicht. Das politisch wichtigste Ereignis stellt die Ermordung Walter Rathenaus dar. Der deutschen Außenminister wird in der Königsallee (Wilmersdorf), auf dem Weg von seiner Villa im Grunewald zum Auswärtigen Amt, durch Angehörige der militaristischen Organisation Konsul niedergeschossen. Motiv ist die Unterzeichnung des Ratensparvertrags unterschrieben, den konservative Kräfte als Annäherung an den Kommunismus und eine zu starke Bindung an Russland interpretieren. Nationalsozialisten bzw. Reichswehr-Veteranen sehen in der Republik allgemein Verrat und in Rathenau als Kopf der DNVP – der linksliberalen Deutschen Volkspartei, mit der auch Roth sympathisiert – den Intimfeind. Roth berichtet über den Prozess gegen seine Mörder, die mit lächerlich geringfügigen Strafen davonkommen. Er prägt die Stilblüte: „der Staat ist auf dem rechten Auge blind.“

In dieses Klima der Öffnung gegenüber Russland fällt auch die erste Ausstellung russischer Künstler Unter den Linden, die nur unter Polizeischutz stattfinden kann. Thomas Mann hält, gleichfalls im Oktober, im Beethovensaal eine Rede anlässlich des 60. Geburtstages von Gerhard Hauptmann, die den sachlichen Titel Von deutscher Republik trägt, in der er sich zu dem neuen politischen System bekennt und von der vorherigen nationalistisch wilhelminischen Gesinnung Abstand nimmt. Gleichzeitig erfolgt eine Annäherung an seinen Bruder Heinrich. Thomas Mann, der bislang kein Verständnis für Sozialdemokraten besaß, hält Friedrich Ebert nun für den Mann der Stunde und spricht sich gegen den sentimentalen Obskurantismus der Revanchisten aus.

1923 erreicht die Inflation ihren Höhepunkt. Im Januar muss man für eine Goldmark 4.300 Papiermark zahlen, im August bereits 1.100.000,--. Ein Kilo Roggenbrot kostet im Oktober 1922 noch 23,15 Mark, im September 1923 3,6 Mio. Mark. Eine Straßenbahnfahrt, für die im Januar 1918 zehn Pfennig und im August 1920 50 Pfennig bezahlt wurde, kostete Anfang 1923 schon 50 Mark, im Juli 1.000 und am 22. November 150.000 Mark.

Ein anderes Ereignis stellt die Inbetriebnahme des Flughafens Tempelhof; dar oder der Bau der Gartenstadt Falkenberg (Bezirk Treptow) unter der Leitung des bekanntesten Architekten seiner Zeit, Bruno Taut. Es kristallisieren sich Kriegsgewinner und Verlierer heraus, die Gesellschaft spaltet sich.

Nicht nur neue Verbrennungsmotoren entstehen, sondern auch die Gründung des Theater wissenschaftlichen Instituts an der Berliner Universität. Im Sommer wird eine Messe GmbH gegründet und jährlich Ausstellungen mit diversen Themen durchgeführt. Die Funkindustrie erlebt einen rasanten Aufschwung, der sich einige Jahre später als Blase erweisen wird.

Zur den Gründungsmitgliedern Gesellschaft der Freunde des Neuen Russland zählt Albert Einstein. Im August kommt es zum ersten Generalstreik in Berlin (und in Gesamtdeutschland) gegen das Kabinett Cuneo, parteiloser Bürgermeister der Stadt und Direktor der größten Reederei HAAG. Der Streik basiert auf die Inflation, die wiederum den Reparationszahlungen an die Siegermächte geschuldet ist. Cuneo tritt zurück; in der Regierungsbildung herrscht bundesweit eine große Fluktuation und Koalitionen sind instabil.

Der Pferdeomnibusbetrieb wird eingestellt; alle Fahrzeuge sind nun mit Motoren ausgestattet. Im November beendet die eingeführte Rentenmark die Inflation. Allein Berlin hat 250 000 Arbeitslose, das ist ein Viertel der Beschäftigungsbefähigen.

Die innenpolitische, vor allem ökonomische Krisenbewältigung, findet nicht statt; es herrschen Unruhe und extreme Schwankungen in der immer wieder neu gebildeten Regierung. Berlin ist ein Spiegelbild der gesamtdeutschen Schieflage, von der einige wenige Großindustrielle profitieren. Nach wenigen Jahren der Stabilisierung steht die Weimarer Republik durch die Besatzung des Rheinlands durch französische Soldaten infolge nicht gezahlter Reparationen mit dem Rücken zur Wand. Die Nationalisten fordern Mobilisierung. Die Nationalsozialisten erhalten starken Zulauf. Ungestört von den Behörden heuern sie ihre eigene Schlägertruppe an und drangsalieren Sozialisten, Pazifisten, Juden. Die Regierung duldet diese Gesetzesübertretung. Nach Mussolinis Marsch nach Rom hoffen die Faschisten von einem Marsch nach Berlin und einen Diktator, der die Schande der Republik beendet.

Auch die Kommunisten glauben, dass ihre Stunde gekommen sei. Unterstützt von der neugegründeten Sowjetunion bereiten sie einen Aufstand in Deutschland vor mit dem Ziel einer Räteregierung und der Weltrevolution. Die Politik findet auf der Straße und in Straßenschlachten statt.

Erstmals wird 1923 ein Georg Bücher und damit nationaler Buchpreis ausgelobt und vergeben an Adam Karrieren, der sich mit Heimatromanen aus dem Odenwald einen Namen machte, die durch Humor und realistische Darstellungen von Kritik und Kollegen wie Hermann Hesse durchweg wohlwollend aufgenommen wurden. Der Nobelpreis für Literatur geht an den irischen Schriftsteller William Butler Maleats, der durch seine literarische, symbolistische Verarbeitung der irischen Kultur und Märchenwelt, seine mystisch-poetischen Dramen und als irischer Nationaldichter gilt. In diesem Jahr erscheint auch Lion Feuchtwangers Die hässliche Herzogin, ein historischer Roman über das 13. Jahrhundert. Der in München lebende Feuchtwanger erkennt hellsichtig als einer der Ersten die Gefahren der NSDAP. Bereits 1920 erscheint in seiner Satire Gespräche mit dem Ewigen Juden als Vision, die später als Folge antisemitischen Rassenwahns Wirklichkeit wird.

3. 1. 2. Roths Furcht vor dem Nationalsozialismus

Der satirische Roman – seine Erzählhaltung erinnert an Der Untertan, beginnt mit der Vorstellung Theodor Lohses, Sohn eines Wachtmeisters: „Man kann sagen: er übertraf die Erwartungen, die er niemals auf sich gesetzt hatte.“79

Theodor ist durch den im Krieg gefallenen Vater Halbwaise: ein Schicksal, das viele deutsche Familien teilen. Er stammt aus dem Kleinbürgertum, deren Mitwirken im Nationalsozialismus erstaunliche Karriere zeitigen und die in der k. u k. Monarchie undenkbar sind. Parallelen zwischen Lohse und dem Führer der Nationalsozialisten sind unübersehbar, so dass Roths Roman als früheste literarische Warnung vor der Diktatur betrachtet werden kann. Der junge Mann stammt aus Wien und flieht „mit gescheiterten Hoffnungen und begrabenem Mut“ nach Berlin.

Wie fast alle Deutschen gibt er den Juden die alleinige Schuld an seinem beruflichen Misserfolg. Er wird zum fanatischen Anhänger Ludendorffs und glorifiziert die vermeintlichen Heldentaten deutscher Soldaten im ersten Weltkrieg. Symbolisch durchschreitet Lohse das Brandenburger Tor.

„Manchmal überfiel ihn sein eigener Stolz wie eine fremde Gewalt, und er fürchtete seine Wünsche, die ihn gefangen hielten. Aber sooft er durch die Straßen ging, hörte er Millionen fremder Stimmen, flimmerten Millionen Buntheiden vor seinen Augen, die Schätze der Welt klangen und leuchteten. Musik wehte aus offenen Fenstern, süßer Duft von schreitenden Frauen, Stolz und Gewalt von sicheren Männern.“

Bald gerät der leicht manipulierbare Lohse unter den Einfluss eines nationalsozialistischen Spionagenetzes und muss zu Beginn des dritten Kapitels einen Eid darauf schwören, wobei sein Vorgesetzter durch animalische Äußerlichkeiten auffällt wie eine „behaarte Tatze“. Die Organisation bleibt unbenannt obskur, doch durch Roths Beschreibung deutlich als NSDAP erkennbar..

Sein Leben verliert sich in Nebensächlichen, in Trieb und Zufall, wie der Beginn des vierten Kapitels offenbart: „Drei Tage, drei Nächte genoss Theodor sein Geld. Es nahm ihm die Besinnung, zu wählen und sich mit Bedacht zu freuen. Er beschliff Mädchen von der Straße und kostspieligere, die in den Lokalen warteten.“

Mehr und mehr assimiliert er sich: „Seine Bewunderung genügte allen und ersetzte die Legitimation“ heißt es. Lohses Spezialität ist das Aufdecken und Vereiteln kommunistischer Agitation, worüber die Presse auch voller Lobes ist. Im Gegensatz zur Gefahr von rechts wird in der Öffentlichkeit nur das rote Gespenst wahrgenommen und gebrandmarkt. Folgerichtig setzt das sechste Kapitel mit dem Satz ein: „In den Zeitungen flackerten die Sensationen auf: Kommunistischer Anschlag von einem Mitglied der Technischen Nothilfe vereitelt.“

Das siebte Kapitel in Anlehnung an die Genesis handelt vom -fememord an einem mutmaßlichen Verräter durch Lohses Vorgesetzten Klitsche, der einen Denunzianten mit dem Pickel erschlägt. Lohse hat seinen ehemaligen Kriegskamerad denunziert; da sein Vater Kommunist ist; dies macht den Sohn automatisch zum Feind des Geheimbunds. Das Wort Verrat wird im faschistischen Jargon durch „Fememord“ ersetzt. Die Hinrichtung im Wald inkludiert eine apokalyptische Vision kommender Gewaltorgien.

Roth vergleicht Lohse mit einer Mücke, die unscheinbar ist und unten in der Nahrungskette und der evolutionären Hierarchie steht, aber in ihrer Menge unbesiegbar erscheint. Durch seine Hautinfektion versinnbildlicht der Autor die rechte Gesinnung als Volkskrankheit. Die Zeugenschaft des Mordes fördert Lohses Ehrgeiz, vom Mitläufer zum Anführer zu reifen. Er tötet folgerichtig seinen Vorgesetzten Klitsche und stellt dies als Folge eines Kampfes dar.

Roth kann mit dieser Episode auf die Fälschung der Geschichte durch Ideologie, die Walter Benjamin die „Geschichte der Sieger“ nennt, verweisen. Lohse nimmt die Rolle seines Vorgesetzten als Kommandoführer der Organisation ein; er beginnt, die Geschichte zu fälschen, nicht nur seine persönliche, sondern die allgemeine des Volkes und die der ganzen Welt: „Er übertrieb, korrigierte Tatsachen, sein Verdacht ruhte auf irgendeinem Ereignis.“ Folgerichtig setzt das zehnte Kapitel ein mit: „Er war ohnmächtig, erbittert, rachelüstern.“ Das Ressentiment wird zur entscheidenden Antriebsfeder eines mediokren Charakters und talentfreien Menschen. Nietzsche bezeichnet es als die Rache der Ohnmächtigen und Sklaven an den Edlen und Herrschende.

Lohse entwickelt durch seinen „Raubtierinstinkt“ jenes Talent, Untaten zu rechtfertigen und seine Amoralität als Volksdienst zu tarnen. Seine Raffinesse ersetzt ihm fehlende Bildung. Es gelingt ihm, sich selbst von der Reinheit seiner Taten zu überzeugen und sein Gedächtnis zu belügen. Damit stellt er bereits ein Paradigma der Verdrängung dar, das Grausamkeit erleichtert.

Die Vernunft kapituliert; Besinnung geht im Lärm unter, demokratische Versuche zur moralischen Erziehung sind zu zögerlich, um dem pöbelhaften Lärm der Nationalsozialisten auf Dauer zu widerstehen. Als Gefahr wahrgenommen werden nur die Kommunisten Bald lässt er im Namen der Arbeiter auf diese schießen. Die Farbe Rot ist omnipräsent. Zum einen dient sie als Symbol des Kommunismus, zum zweiten als Ausdruck des Ressentiments, zum dritten als Zeichen des vergossenen Blutes; es hat eine reale und symbolische (rassische) Komponente, symbolisch im Wald beim Doppelmord eingeführt, im zehnten und elften Kapitel bei der Niederschlagung der Kommunisten durch die Reichswehr variiert: „Theodor hörte das rote Blut, es schrie, es brüllte, wie aus tausend Kehlen, es flammte, wie tausend Feuersbrünste, purpurne Räder kreisten in der Luft, purpurne Kugeln rollten auf und nieder. Aus seinem Innern kam das rauschende Rot, es erfüllte ihn und machte ihn leicht, ein roter Jubel kam über ihn, ein Triumph hob ihn empor.“80

Lohses Erfolg beruht objektiv betrachtet darauf, dass er der Presse völlig unbekannt ist und lange nicht ernst genommen wird. Man unterschätzt ihn und die Partei. Journalisten schreiben gedankenlos: „Nationalsozialismus war ein Wort wie andere.“

Mehr durch die Umstände - die Vermischung des Blutes durch eine Ehe - als durch eigenes Geschick kommt er zu Erfolg und Ehren. Für Roth spielt der Zufall als bestandsbeeinflussender Faktor eine zentrale Rolle Historiker sind heute weitgehend der Übereinstimmung, Hitler habe instinkthaft die Gunst des Momentes zu nutzen gewusst, als Stratege hingegen kläglich dilettiert. „Durch die wachen Nächte kreiste ohne Ende der planlose Entschluss: mächtig zu werden. Die flinken Ereignisse kamen ihm zuvor, überrumpelten ihn.“

Visionen Lohses sind unklar, aber genau ihre Unbestimmtheit macht sie geeignet für die führerlose Zeit. Er ist ein Mensch, der Wille an die Macht verspürt und dabei über Leichen geht. Sein Aufstieg scheint unaufhaltsam.

3. 1. 3. Antisemitismus und Verrat

Antisemitismus ist für die Rechtsradikalen gleichwertig mit Antikommunismus dargestellt, denn beide gelten als Volksfeinde: „Der Verräter zahlt mit Blut, Schlagt sie tot, die Judenbrut, Deutschland über alles.“81

Lohse macht auch aufgrund seines Antisemitismus Karriere in der Reichswehr, doch es gibt einen modernen Judas: Benjamin Lenz, Jude aus Loden, ist nicht nur ein Lockmittel im Spionagenetz Lohses, sondern zugleich Zeuge und Täter, und erpresst seinerseits die Organisationsmitglieder. Roth beschreibt das System als Konkurrenzprinzip der Intriganten, in dem Lohse nur einer von vielen Kommandanten ist. Bezeichnend ist das Klima des Misstrauens: „Sie saßen, drei Männer, im Café auf dem Potsdamer Platz. Zwischen ihnen flogen gleichgültige Worte, Misstrauen würgte in ihren Hälsen, Angst lähmte ihre Zungen. An einem Nebentisch saß Benjamin Lenz.“

Roth identifiziert Judentum nicht als Opfer, denn zum einen empfinden sich viele Westjuden nicht als semitisch, sondern wähnen sich durch ihre Assimilation als Deutschliterale oder Deutschnationale. Zum anderen typologisiert Roth nicht den Juden, sondern differenziert deutlich in West- und Ostjuden in ihrer Heterogenität, deren Mitglieder zur Solidarität unfähig sind, weil sie in Halb oder Vierteljuden unterscheiden. Benjamin mit dem deutschen, an den Schriftsteller erinnernden Namen Lenz, spielt an den Mythos des allmächtigen Leviathan an: „Wie wuchs er unter ihnen, gedieh, sammelte Macht, sammelte Geheimnisse, sammelte Geld, sammelte Freuden, sammelte Hass. Sein lauerndes Auge trank das Blut Europas, sein halb höriges Ohr den Klang der Waffen, den scharfen Knall der Schüsse, das Heulen der Gewalt, das letzte Gestöhn der Sterbenden und die rauschende Schweigsamkeit der Toten.“

Am Vorabend der Demission Gustav Stressmanns lässt Lohse bei einem Streik auf Arbeiter und Juden schießen; Lenz sieht das Massaker „Ein Schuss knallt … Der Hunger dringt gegen die Sattheit vor.“ Von den vielen Toten wird nach der Niederschlagung eines Arbeiteraufstandes auf dem Alexanderplatz kaum Notiz genommen. „Es war ein Sieg der Ordnung. Man stürzte zwei Minister. Sie wussten Zuviel von den geheimen Organisationen.

Der Untergang der Weimarer Republik erscheint sicher. Lohse heiratet, wobei die adelige Frau ganz nach der Mode und Umkehrung aller Werte seinen bürgerlichen Namen annimmt. Bezeichnenderweise ist Lenz sein Trauzeuge, da ihre beiden Schicksale im Spinnennetz längst untrennbar verwoben sind. Ihre Allianz ist ein Zweckbündnis und von wechselseitigem Misstrauen.

Symbolträchtig bezahlt Lenz die Feier und begleicht die Rechnung „Lenz hat es mit Dollars bezahlt, er hat es nicht zu teuer bezahlt. Theodor ertrug sein Porträt. Er fürchtete es nicht mehr.“ Künftig geschieht, was Lohse befiehlt. Er findet seine Papiere Waffen, Uniform stets nach Wunsch vor. Nicht Eva Braun, sondern Elsa von Schliffen heißt seine antisemitische, blonde Braut mit den blauen Augen; sie putzt seine Waffen, den Rest besorgt die Organisation. Zunehmend fürchtet Lohse Neider und Spitzel im eigenen System und lässt sie liquidieren.

Menschen sind längst in Zahlenkolonnen aufgegangen, Eine Folge des Apparats. Der Roman endet mit der Arbeit an einer chemischen Erfindung zum anonymen Massenmord und einem Durcheinander der Stimmen: „»Woran arbeitest du?«-»An einem Gas.«-»Sprengstoff?«-»Ja!« sagte Lahar.-»Für Europa«, sagte Benjamin.“

Der Name mit dem gleichen Initial erzeugt einen Doppelgänger-Effekt zwischen Lenz und Lohse, eine unheilvolle Allianz zwischen verdrängter Vergangenheit und Geltungssucht. Roth schildert den moralischen Verfall der Persönlichkeit, die charakterliche Fehlbildung als eine Folge politischer Missstände, zu denen auch die mangelnde Wehrhaftigkeit der Republik gehört.

3. 1. 4. Komparatistik mit Heinrich Mann, Der Untertan

Der vereitelte Kapp-Putsch, der geplante Marsch von München auf Berlin und der Mord an Walther Rathenau (nur einer von vielen Attentaten der Rechtsextremen) stellen die noch junge Demokratie auf die Probe. Als er den Roman schreibt, trifft Roth im Café Schafskopf häufig die ausnahmslos links engagierte Avantgarde (Döblin, Brecht, Bloch, Tucholsky, Kisch) Zudem orientiert sich Roth an der Frage, wie das Mittelmaß und das Kleinbürgertum zu Macht und Aufstieg gelangt, an Heinrich Manns „Der Untertan“ (1918) und Ernst Trolles Drama „Masse Mensch“ (1920). Die dahinter liegende Mettage lautet, ob Kunst die Wirklichkeit beeinflussen damit der Dichter vom Schreibtisch her Einfluss auf die Politik seiner Zeit gewinnen kann. Roth glaubt, dass Kunst magische Wirkung entfalten kann wenn sie berührt und mitreißt.

Mann ist einer der frühsten und eindringlichsten Propheten vor der rechten Gefahr; der politische Zwist führt zu seiner Entzweiung mit dem national gesinnten jüngeren Bruder. Für Roth ist der im Jahr der Reichsgründung Geborene stets ein Vorbild. Zu den Analogien zählt der scheinbar unaufhaltsame Aufstieg zweier biederer und zudem schüchterner Männer, die sich hinter einer Burschenschaft bzw. Geheimorganisation verstecken und ihre Minderwertigkeitskomplexe durch forsches Auftreten, aber auch Taktieren kaschieren.

Der Romanbeginn weist eklatante Überschneidungen auf: „Diederich Helling war ein weiches Kind, das am liebsten träumte, sich vor allem fürchtete und viel an den Ohren litt. Ungern verließ er im Winter die warme Stube, im Sommer den engen Garten, der nach den Lumpen der Papierfabrik roch und über dessen Goldregen- und Fliegerbäumen das hölzerne Fachwerk der alten Häuser stand.“82

Dem gegenüber heißt es bei Roth:Theodor wuchs im Hause seines Vaters heran, des Bahnzollrevisors und gewesenen Wachtmeisters Wilhelm Lohse. Der kleine Theodor war ein blonder, strebsamer und gesitteter Knabe.“

Der Beginn verweist bereits auf den auffälligsten Unterschied: Manns Ausgang im „Untertan“ ist humorvoll, denn Helling stolpert einer kaiserlichen Droschke hinterher und fällt in den Dreck, doch im Schlusssatz erweckt Diederich Helling einen diabolischen Eindruck: „»Er hat etwas gesehen! Er hat den Teufel gesehen!« Judith Lauer stand langsam auf und schloss die Tür. Diederich war schon entwichen.“

Das Entweichen oder Verlassen der Bühne des Schurken ist beiden Romanen gemein. Zudem ist auch Roths Schluss von düsterer Komik: „Und der Zug glitt aus der Halle. Leer war der Bahnsteig, und ein Mann sprengte Wasser aus einer grünen Kanne. Viele Lokomotiven pfiffen irgendwo auf Geleisen. Viele Lokomotiven pfiffen irgendwo auf Geleisen“.83

Das Ende lässt in seiner Symbolkraft zwei Deutungen zu: Revolution und Gewalt nehmen einen neuen Anlauf. Der leere Bahnhof wirkt als Ausdruck für Inhumanität, die vielen Geleise für eine unbestimmte Zukunft. Was soll man mit einem Volk machen, das jeden Befehl blind und gehorsam ausführt, damit nur alles seine Ordnung hat und keiner aufmuckt.

Formal besteht der größte Unterschied in den langen Kapiteln Manns umfassenderen Roman im Vergleich zu den äußerst kurzen Roths, die dem Feuilleton geschuldet sind. Zudem handelt Manns Roman vor dem Ersten Weltkrieg und deckt einen größeren Zeitraum von etwa zehn Jahren ab; Roth beschränkt sich auf die Ereignisse von 1922. Stilistisch schreibt Mann eine Parodie mit satirischen Elementen, Roths Werk lässt sich der Neuen Sachlichkeit zurechnen mit vielen kurzen Sätzen und präziseren Zeitangaben.

Gemeinsam ist, dass sie das an die Macht drängende Bürgertum in ihrer Zeitgeschichte einfangen und daher Zeitgeschichte dokumentieren. Trotz der integrierten Lokalpolitik enthüllen sie allgemeine Strukturen; Roths nicht näher benannte Organisation wirkt wie Operation Konsul, doch ihre straffe Hierarchie unterscheidet sie kaum von Manns schlagender Kommilitonen-Burschenschaft. In den Fokus rücken Assimilationszwang und Kollektivversagen der liberalen Kräfte (bei Mann personifiziert durch Zellulosefabrik Klöppel), die passiv und reaktionär bleiben. Auf dem Weg zur Skrupellosigkeit bieten sich Diederich und Alternativen durch Liebe, die Veränderungen bewirken könnten, doch der Drang, zur Masse dazuzugehören und etwas zu gelten, obsiegt. Der Protagonist wird nicht dämonisiert, sondern erweist sich als ein Mitläufer. Viel später, bedingt durch die Nürnberger Prozesse und den Eichmann-Prozess, wird Hannah Arendt den Begriff des Schreibtischtäters prägen und den von der Banalität des Bösen sprechen. Beides betont Mann stärker als Roth.

Sowohl die Metapher „Untertan“ als auch das „Spinnennetz“ sind prägnante symbolische Titel für Freiheitsberaubung und Bereitschaft, sie sich nehmen zu lassen. Die Transparenz von Verdauungs- und Entsorgungsmentalität verdeutlicht Heinrich Mann durch die Erfindung von Toilettenpapier bzw. ihre Effizienzsteigerung: „Man brauchte besondere Toiletten“. Helling macht sein Vermögen durch und mit Unrat. Auch dieses Detail findet sich in Roths kürzerem Roman, wenn Lohse träumt: „Rauschende Feste in weißen Sälen, marmorne Treppen, goldene Lüster, große Abendtoilette, klirrende Sporen, Musik, Musik.“

Beide Protagonisten entscheiden sich für Vernunftehen, die ihnen Vermögen und Reputation einbringen und gegen ihr Gefühl und erfinden Rechtfertigungen für ihre zunehmende Kälte, vornehmlich ideologischer Art. Beide bezeichnen die Stimme des Gewissens als „inneren Feind“. Obschon Manns Roman noch vor dem Krieg in der Kaiserzeit situiert ist, bleibt der Tenor gleich, zumal Roth Lohse als „Platzhalter für den Kaiser“ bezeichnet.

Der inhaltlich größte Unterschied besteht darin, dass Lohse gemordet hat und generell Gewalt ungeniert auf allgemeine Toleranz stößt. „Wie ein lächelnder Mörder ging der Frühling durch Deutschland.“ Doch tendenziell ist auch Helling zum Töten bereit; so fordert er den altersschwachen Klöppel zum Duell, als ihn dieser wegen der von ihm schwangeren Agnes ins Gewissen redet. Dazu gehört auch seine Selbstaussage: „Der Teufel ist Ihr lieber Helling! ... Wollen Sie vielleicht auch noch meine Standesehre antasten?“84

In beiden Fällen wird die Ehre ihres Wertes beraubt und pervertiert. Es braucht nicht viel Fantasie sich vorzustellen, dass Helling tötet ohne mit der Wimper zu zucken, wenn es nötig sein sollte und er sich sicher fühlen kann, mit seiner Tat unbehelligt davonzukommen. In Die Armen (1917) lässt Helling auf die Arbeiter in seiner Papierfabrik schießen.

Beiden Romanen liegen eine sozialistische Haltung, ein vehementes Nein zum Nationalsozialismus und die Solidarität mit den moralisch Integren der Bevölkerung zu Grunde. Beide Autoren schildern die Atmosphäre in bzw. um Berlin.

Dabei weisen auch Details Analogien auf Diederich Helling erschrickt vor sich selbst beim Blick in den Spiegel: „Er ließ vermittels einer Bartbinde seinen Schnurrbart in zwei rechten Winkeln hinaufführen. Als es geschehen war, kannte er sich im Spiegel kaum wieder. Der von Haaren entblößte Mund hatte, besonders wenn man die Lippen herabzog, etwas Vaterhaft Drohendes, und die Spitzen des Bartes starrten bis in die Augen, die Diederich selbst Furcht erregten, als blitzten sie aus dem Gesicht der Macht.“

Erschrecken und Verzerrung werden durch das Topos Spiegel reflektiert. So porträtiert der Maler Klaftern den aufgestiegenen Theodor Lohse: „Er erschrak vor seinem eigenen Bildnis. Es war, als hatte er in einen furchtbaren Spiegel gesehen. Sein Angesicht war rund, rötlich, die Nase platt, mit leise angedeuteter Spaltlinie auf dem breiten, flachen Ricken. Der Mund war breit, mit aufgeworfenen Schaufellippen. Der kleine Schnurrbart verhüllte die wirkliche Lippe zwar, aber die gemalte nicht. Es war, als hatte der Maler den Bart wegrasiert - und er hatte ihn doch mit gemalt.“85

Helling erhält in seiner Studentenzeit einen anderen, körperlich robusteren Verführer in Mehlmann an die Seite gestellt; Lohse muss sich mit dem klügeren Lenz arrangieren. Mann betont in weit stärkerem Maße die Transformation vom Macht-Erleiden (masochistische Züge) in Macht-Ausüben (sadistische Züge).

In Manns Roman spielen drei verschiedene Frauentypen als mögliche Braut Goeßlings eine konkurrierende Rolle für die psychologische (Fehl) Entwicklung des Protagonisten; im Spinnennetz kommt erst gegen Ende die Rede auf eine potentielle Heiratskandidatin, die zudem wenig Aussagekraft für die gesellschaftliche Erstarrung besitzt.

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