Kitabı oku: «Die Zecke auf Abwegen», sayfa 2
4. Weihnachten bei Familie Schminke
Heiligabend, 07:14 Uhr. Ich war in Topform, hatte bereits elf Steuererklärungen bearbeitet. Die Faltboxen wurden trotzdem kaum leerer. Für jeden Steuerpflichtigen hatte ich mir ein kleines Weihnachtsgeschenk überlegt: Lehrer bekamen ihre Arbeitszimmer anerkannt, auch wenn sie mit Whirlpool ausgestattet waren, und einem Klempner gestattete ich den Roman Feuchtgebiete als Fachliteratur abzusetzen. Dazu gesellten sich großzügige Zahlendreher und imaginäre Pauschalen. Ein Rentner hatte der Steuererklärung eine Weihnachtskarte beigefügt und darauf vermerkt: „Sehr geehrtes Finanzamt! Tut mir leid, wenn ich nicht alles richtig eingetragen habe. Ich weiß leider nicht, wo was reinkommt.” – Ein klarer Fall von Hilflos im Sinne des § 33b Absatz 6 Einkommensteuergesetz. In Zeile 33 ein Kreuz und der Herr Büttner konnte sich zusätzlich zum Schwerbehinderten-Pauschbetrag auf einen Weihnachtsbonus von 3.700 Euro freuen.
Ganz uneigennützig waren meine Weihnachtsgeschenke allerdings nicht. Ich wollte vermeiden, dass es nach Weihnachten Einsprüche regnete, die unser Team völlig lahm legten.
Die Zwillinge waren auch schon seit 06:30 Uhr auf. Sie fegten über den Flur und waren jetzt schon völlig durch den Wind. Mit roten Wangen sangen sie „Leise rieselt der Schnee”. Draußen hatten wir 12 Grad mit leichtem Nieselregen – also typisches Heiligabend-Wetter.
Britta verbreitete Hektik. „Hartmut, ich sauge und wische jetzt noch die Wohnung und dann stellst du den Baum auf”, befahl sie, und schon hatte ich den Staubsauger zwischen meinen Füßen.
Um 12:00 Uhr klingelte es. Papa stand mit dem Vogel vor der Tür. Papa hatte mir noch gefehlt! Eigentlich war ich gerade so schön im Fluss.
Noch völlig außer Atem setzte er die schwere Wanne vor mir ab. „Hier guck mal, Hartmut!” Er zog das Handtuch von der Wanneund zeigte mir stolz seinen Gänsebraten. „Echt Öko! 90 Euro wollte der olle Flachsbart dafür haben – Wucher!”
Bei dem Anblick der frisch aufgetauten goldgelben Gans mit den dicken Keulen lief mir schon das Wasser im Mund zusammen. Seit unserer Hochzeit war es Tradition, dass Papa die Weihnachtsgans bei uns zubereitete – für Papa das größte Weihnachtsgeschenk. Mama wollte den tagelangen Gestank nicht in ihrer Wohnung haben.
Papa legte sich Einmalhandschuhe an und breitete auf der Anrichte chirurgisches Werkzeug aus. Spätestens wenn er seine grüne Schürze anlegte, strahlte er eine Fachkompetenz aus, dass man ihm die Durchführung einer spektakuläre Gehirntransplantation zutraute. Während Britta um ihn herumwischte, setzte er die letzte Spritze unter die Haut und dozierte: „Britta, wusstest du, dass der Ananassaft die molekulare Struktur vom Eiweiß im Muskel zerstört und das Fleisch dadurch besonders zart wird?” Noch hatte Papa wenig getrunken und brachte so einen komplizierten Satz fließend über die Lippen. Britta hatte im Moment keinen Sinn für die molekulare Zerstörung von Eiweißstrukturen und trieb Papa an: „Kalle, jetzt schick endlich den Vogel auf seine letzte Reise, sonst müssen wir Heiligabend ohne ihn feiern.”
Wieder bekam ich einen Einlauf: „Hartmut, jetzt reicht’s! Leg endlich die Steuererklärungen zur Seite. Du musst dringend den Baum aufstellen!”
Widerstrebend packte ich die noch nicht bearbeiteten Steuererklärungen in die Box zurück und trollte mich auf den Balkon, um den Tannenbaum ins Wohnzimmer zu schleppen – die Zwillinge „Alle Jahre wieder” singend hinterher.
Was hatte Britta sich denn da für einen Strunk andrehen lassen? Ein erbärmliches grünes Gerippe wurde von einem Plastiknetz notdürftig zusammengehalten. Braune Nadeln rieselten heraus, wenn man den Baum nur schief ansah. Das Schlimmste aber war der Fuß: krumm wie ein Regenschirm.
Auf dem Weg vom Balkon ins Wohnzimmer hinterließen das Gerippe und ich eine Spur brauner Nadeln und kleiner Käfer, die schnell hinter die Fußleiste huschten. Lucy schnitt mit einer Schere das Plastiknetz auf: „Papa, warum hat denn der Baum so wenig Nadeln?”
„Lucy, die Tannenbäume haben heute nicht mehr so viele Nadeln – liegt am Waldsterben.”
„Ist der Baum auch schon tot?”, fragte Luisa mich mit besorgtem Blick.
Mir war jetzt nicht danach, philosophische Kinderfragen zu beantworten. „Nein, der wird jetzt von euch ganz toll geschmückt und dann geht es ihm wieder gut”, lautete meine pädagogisch inkorrekte Antwort.
Ich versuchte, den Baum mit Gewalt in den Tannenbaumständer zu zwängen, aber sein Fuß war einfach zu krumm. Als er endlich in der Halterung steckte, schwebte der Baum in einem 60 Grad-Winkel.
Der Baum hatte sich noch nicht ganz entschieden, ob er stehen bleiben wollte, da hing bereits die erste Glaskugel, ein mundgeblasenes Einzelstück für 34 Euro.
„Lucy, warte noch!” Keine zehn Sekunden später – süßer die Glocken nie klingen! Die Scherben lagen sogar in der Yuccapalme.
Britta rief vom Flur aus: „Na, Harti, alles okay? Ich geh mal eben rüber zu LiDL.”
„Ja, lass dir Zeit”, flötete ich in Richtung Flur. Wenigstens war Britta aus der Schusslinie. Aber da kam Papa und latschte wie blind durch Nadeln und Scherben in Richtung Backofen. Er riss die Backofentür auf und schwärmte: „Mein Gott, wird die Haut heute wieder knusprig!”
Es half nichts: Wollte ich den Baum nicht in der Horizontalen schmücken, musste ich den Fuß der Tanne radikal kürzen. Im Keller fand ich den elektrischen Fuchsschwanz aus dem Nachlass von Onkel Lothar. Das Ding war mir nicht ganz geheuer. Noch waren alle Finger dran – bei meinem Talent wahrscheinlich eine Fragevon Minuten. Ich rief nach Papa, aber Papa klebte am Fernseher: Richterin Barbara Salesch. Ich schickte Luisa vor: „Luisa, geh doch mal zum Opa. Der Opa soll ganz schnell kommen.”
Nur widerwillig und mit ständigen Blicken zum Bildschirm ließ sich Papa von Luisa abführen.
„Beeil dich, Hartmut, ich muss mich noch um die Gans kümmern! Wie viel soll denn ab?”
„Zehn Zentimeter müssten reichen.”
Papa schmiss die Höllensäge an. Noch bevor ich „Halt” schreien konnte, hatte er bereits die Spitze um 20 Zentimeter gekürzt.
Luisa plärrte los und hielt mir heulend die kahle Spitze vor die Nase: „Wieder ankleben!”, schluchzte sie. Lucy stimmte solidarisch in ihr Geheule ein.
Papa hatte mit der Säge schon wieder Gas gegeben und malträtierte nun den Fuß des Baumes. Langsam kamen mir Bedenken. Vier Bier hatte Papa schon getrunken – vielleicht war es doch besser, die Aktion abzublasen.
„Papa!” Papa hörte nichts.
Die Sägespäne stoben nach allen Seiten, hingen in der Gardine, im Obstkorb und zwischen Brittas Dekoplunder, der in jeder Ecke herumstand.
„Aufhören, Papa!”, schrie ich.
„Bin gleich durch!”, schrie Papa zurück. Rums! Eine tiefe Schramme war im Parkett.
Papa versuchte sie unsinnigerweise wegzureiben und murmelte: „Ach, das kriegt man schon wieder weg.” Dann stürmte er Richtung Backofen: „Muss nur mal eben die Haut pflegen. Mein Gott, wird die Haut wieder … Scheiße!” Er hatte die Fettpfanne mit zu viel Schwung aus dem Backofen gezogen. Plötzlich war sie aus der Führung geraten und landete auf dem Fußboden. Die Sägespäne saugten sich voll Fett und wurden unter den Esstisch geschwemmt.
In dem Moment hörte ich den Schlüssel im Haustürschloss – Britta. „Bin wieder da!” Schon stand sie in der Tür. Auch Lucy undLuisa hatten mit ihren fünf Jahren die Lage bereits begriffen und heulten wie die Sirenen los. Britta zitterte, war bleich vor Zorn. „Raus!”, sagte sie leise.
Wir mussten die Treppe nehmen, weil der Fahrstuhl mal wieder ausgefallen war. In jeder Etage hörte man kreischende Kinder und meckernde Frauen. Und immer wieder aus dem Radio „Oh du Fröhliche”. Aus Kochs Wohnung drang eine schrille Frauenstimme: „Wenn der Backofen nicht in einer Stunde wieder läuft … Weihnachten ohne mich!”
Dann standen wir an der frischen Luft.
„Ist Britta immer so schnell auf 180?” – Papa war wirklich so verpeilt, wie Mama es immer beklagte.
Schweigend gingen wir eine Weile nebeneinander her. Der Regen war stärker geworden.
„Und was machen wir jetzt mit dem angebrochenen Tag?”
„Wenn deine Mutter mich Heiligabend rausgeschmissen hat, bin ich immer zum ‚Lustigen Johannes‘ gegangen – zum Leberzirrhose-Stammtisch.”
„Dann gehen wir da jetzt auch hin.”
Papa schien allen bekannt zu sein. Der lustige Johannes brachte sofort für jeden ein Helles und einen Korn und klopfte Papa aufmunternd auf die Schulter: „Kalle, Heiligabend geht auch mal vorbei.”
Dann musste ich mir eine Stunde lang Papas Finanzamtsgeschichten anhören: Von den Lochkarten in der Finanzkasse, von Regierungsdirekter Bölke, der um 07:30 Uhr jeden Bediensteten, der sich verspätet hatte, per Handschlag an der Eingangstür begrüßte. Immer wieder die gleiche Story: „Junge, einmal in der Woche sind wir mit ’nem Benzinkanister in die Garage zu unserem Dienstwagen gegangen. Die Anwärter mussten immer mit dem Mund den Sprit ansaugen und jeder bekam zwei Liter.” Papa hatte Tränen in den Augen vor Lachen.
Plötzlich sah er auf die Uhr und fuhr nervös mit der Hand über seine sorgsam quer über die Glatze gekämmten Haarsträhnen:”Hartmut, wir müssen nach Hause. Die Gans ist noch im Ofen!”
Wie durch ein Wunder hatte sich Britta beruhigt und war dabei, mit den Mädchen den Baum zu schmücken. Papa wollte schon mit Schuhen zum Backofen stürmen, doch Britta hielt ihn resolut zurück: „Kalle, Hartmut: erst Schuhe ausziehen!”
„Die Gans, die Gans!”, jammerte Papa. Panisch zerrte er an seinen Schuhen, die Socken blieben stecken, aber egal. Er wetzte Richtung Küche, riss den Backofen auf und starrte auf den Gänsebraten – und dann lächelte er glücklich: „Mein Gott, ist die Haut dieses Jahr knusprig!”
Schließlich kam Mama mit dem Christstollen und der Schwarzwälder Kirschtorte. Der Tölzer Knabenchor sang „Es ist ein Ros entsprungen” und die Zwillinge standen hinter der Gardine und warteten auf den Weihnachtsmann.
Es klingelte. Endlich mal ein pünktlicher Weihnachtsmann! Erwartungsvoll öffnete ich die Haustür, die Mädchen in einem Sicherheitsabstand hinter mir. Kein Mann mit rotem Kittel und Rauschebart, sondern Herr Speer, der Vorsitzende der Eigentümerversammlung.
„Entschuldigen Sie, dass ich Sie störe, Herr Schminke, aber es ist wirklich dringend: Wir müssen leider eine außerordentliche Eigentümerversammlung einberufen. Übermorgen um 19:00 Uhr in unserer Wohnung.”
„Übermorgen?” Ungläubig starrte ich ihn an. „Übermorgen ist der zweite Weihnachtstag.”
Herr Speer zuckte nur mit den Achseln. „Ich weiß. Der Termin ist etwas unglücklich, aber es ist wirklich dringend!”
Schon war er einen Treppenabsatz tiefer bei Familie Koch.
Wir hatten die Nachricht noch nicht verarbeitet, da klingelte es erneut. „Jetzt! Jetzt ist er da!”, rief Luisa aufgeregt und sprang im Flur umher.
Frau Koch stand zitternd vor mir, war vollkommen aufgelöst: „Haben Sie schon gehört, wir sind pleite!”
„Kommen Sie doch herein.” Britta schob Frau Koch in unseren Flur. Betroffen blickte ich sie an. Sie hatte geheult. Ihr schwarzer Kajal war an ihren Krähenfüßen heruntergelaufen.
So lange war es auch noch nicht her gewesen, dass die Bank uns die Versteigerung der Eigentumswohnung angedroht hatte. Nur meine geniale Idee, einen Imbiss auf Brittas Namen zu eröffnen, hatte uns vor dem Ruin gerettet.
„Eine Privatinsolvenz kann auch ein neuer Anfang sein”, versuchte ich Frau Koch zu trösten.
Frau Koch sah mich entrüstet an: „Aber Herr Schminke, was denken Sie eigentlich von uns! Nicht wir sind pleite, sondern die Eigentümergemeinschaft! Wir alle sind pleite! Weiß ich von Herrn Higgins. Soll was ganz Schlimmes passiert sein.”
Britta und ich schauten uns erschrocken an.
„Was ist denn passiert?”, fragte Britta besorgt.
„Wenn ich das wüsste! Aus dem Speer ist nichts rauszukriegen. Er will uns erst am zweiten Weihnachtstag genauer informieren.”
Und endlich kam dann doch noch der Weihnachtsmann. Er brachte die beiden Dackel mit der Zwei-Kanal-Funkfernsteuerung, die wir ihm tags zuvor in seinem Lager neben dem Reifencenter vorbeigebracht hatten. Mit ruckartigen Bewegungen stapften die Hunde um den Tannenbaum und krächzten mechanisch: „Füttere mich, sonst beiß ich dich.”
Papa knabberte selig das Gerippe des Gänsebratens ab und strahlte: „Mein Gott, ist die Haut dieses Jahr wieder knusprig.”
5. Krisensitzung
Wir feierten den zweiten Weihnachtstag. Speers Wohnung platzte fast aus allen Nähten. Sonst hatten wir immer den Konferenzsaal im Kreisverwaltungsamt für Eigentümerversammlungen angemietet. Aber heute war ja Feiertag. So hatten Speers ihre Wohnung zur Verfügung gestellt. Immer noch drängten sich die Eigentümer in die Wohnung. Auch die letzten Schnarchsäcke, die sich sonst nie blicken ließen, hatte Herr Speer aufgeschreckt. Wer nicht mehr ins Wohnzimmer passte, konnte durch ausgeteilte Babyphone das Geschehen im Wohnzimmer mitverfolgen.
Wir saßen in einem Raum, der dazu diente, Bügelwäsche und ausrangierten Wohlstandsmüll aufzubewahren. Heute waren es die Eigentümer, die sich nirgendwo mehr unterbringen ließen. Auf einem klapprigen Kleiderschrank verhüllte eine karierte Wolldecke einen langen, unförmigen Gegenstand. Neugierig zog Britta die Decke ein Stück beiseite: rotblondes Haar kam zum Vorschein. Unglaublich! War es das, was ich vermutete? Ich weiß nicht, ob Britta wirklich so begriffsstutzig war oder was sie sonst getrieben hatte, jedenfalls zog sie noch einmal kräftig an der Decke.
„Britta”, zischte ich, „lass das!” Doch es war schon zu spät. Die schwere Decke verlor an Halt und rutschte herunter. Alle starrten verdutzt auf die nackte Frau auf dem Schrank, die mit ihrem weit geöffnetem Mund und den dunklen Kulleraugen ziemlich belämmert aussah.
Ein junger Mann, Typ Seebär, mit Bauch und Vollbart, fing dröhnend an zu lachen und prustete: „Wusst ich gar nicht, dass Speers hier zu dritt wohnen.”
Frau Tunte-Grieshalm schüttelte tadelnd den Kopf und versuchte die Brüste der Schrank-Frau mit einem Oberhemd aus der Bügelwäsche zu bedecken.
„Guck da nicht so hin, Hartmut!”, zischte Britta mir zu und versuchte die Decke wieder über die Gummipuppe zu ziehen. Endlich guckte nur noch ein großer Zeh hervor.
Aus dem Schlafzimmer hörten wir wütende Stimmen: „Und in so eine Ruine haben wir unser ganzes Geld gesteckt!”
„Man sollte ihn anzeigen – oder besser gleich lynchen!”
Die Stimmung heizte sich jetzt auch in unserer Abstellkammer auf. Herr Dr. Keuscher, der zwischen mir und einer hölzernen Skulptur eines Deutschen Schäferhundes eingeklemmt war, jammerte: „Vor zwölf Jahren hat sich der Betonsockel geneigt! Wusste ich doch gleich, dass bei der Sanierung gepfuscht wurde. Kostet Hunderttausende, wenn man das vernünftig machen lässt!”
Ich rechnete mit dem Schlimmsten. Jeder suchte Streit. Der über die Weihnachtstage aufgestaute Ärger über die Verwandtschaft und dazu das Völlegefühl von dem fetten Gänsebraten suchten jetzt dringend ein Ventil. Nicht ohne Grund werden an Weihnachten die meisten Verwandten umgebracht.
Alle redeten durcheinander. Auf einmal eine schrille Frauenstimme: „Da kommt das Schwein!”
„Wer?” Von meinem Platz aus sah ich niemanden.
„Kuckuck natürlich”, raunte mir Frau Tunte-Grieshalm zu. Offenbar wusste sie mehr. Ihr süßliches Parfum, ein Lamöff übelster Sorte, nahm mir fast den Atem.
Herr Speer bahnte sich jetzt einen Weg durch den Flur, vorbei an unserer Abstellkammer. Für einen Moment konnte ich sehen, wie er Herrn Kuckuck, den Hausverwalter, durch die Menge schob. Kuckuck wurde im Wohnzimmer vor eine Anrichte gestoßen, die als Pult für den Beirat diente.
Dann begann Herr Speer mit seinen Ausführungen. Mit seinem Gewerkschaftler-Organ konnte er sich auch ohne Babyphone verständlich machen.
„Wie ich Ihnen bereits bei unserer letzten Eigentümerversammlung ausführlich mitgeteilt habe, sind in den nächsten Wochen einige Reparaturarbeiten dringend erforderlich: Das Flachdach in Block B ist undicht und muss komplett saniert werden. Die Heizung wurde vom Schornsteinfeger wegen der schlechten Emissionswerte nicht mehr abgenommen. Außerdem steht der Heizöltank auf Reserve. „Na, und?”, wandte Herr Higgins mürrisch ein. „Wozu gibt‘s denn die Instandhaltungsrücklage? Für das, was ich da jeden Monat einzahle, hätte ich mir schon einen richtig dicken Mercedes kaufen können.”
Zustimmendes Gemurmel und Gefluche über die Höhe der Rücklagebeiträge und über den Bezirksschornsteinfeger, diesen Pendanten.
„Da kommen wir langsam zu unserem kleinen Problem, Herr Higgins”, fuhr Herr Speer fort: „Heiligabend habe ich Herrn Kuckuck gebeten, mir einen aktuellen Kontoauszug von unserem Festgeldkonto zu geben. Er hat sich zuerst geweigert. Aber Sie kennen mich ja …” Anerkennendes Gemurmel.
Bewohner, die es wagten, irgendwelche Faxen zu machen, bekamen von Herrn Speer einen Hausbesuch, den sie so schnell nicht wieder vergessen sollten. „Herr Kuckuck, sagen Sie den Damen und Herren doch bitte selbst, was los ist”, beendete Herr Speer seinen Vortrag.
Herr Kuckuck hatte die ganze Zeit zu Boden geblickt. Der kleine Mann mit Habichtsnase und hängenden Augenlidern schluckte und fing an zu stottern: „Das, das … habe ich alles nicht gewollt. Können Sie mir glauben.” Schweigen.
Günther Balzak vom Beirat mischte sich ungeduldig ein: „Um es mal auf den Punkt zu bringen, das Geld ist weg. Futsch! Aus die Maus! Nix mehr da – haben jetzt alle verstanden?”
Ein paar Sekunden Stille. Dann war die Hölle los.
Frau Knarrsack keifte: „Und so was läuft noch frei rum!”
Frau Hopfgartner, die gerade neu gebaut hatte und ihre jetzige Wohnung nächste Woche bei Immobilien-Scout einstellen wollte, schnappte ein paar Mal nach Luft, verdrehte unnatürlich die Augen und wurde in letzter Sekunde von dem Seebären aufgefangen.
„Wir müssen sie auf den Boden legen und ihre Beine hochlegen”, forderte Seebär uns auf. Zu Britta gewandt sagte er mit einem Blick auf den Schrank: „Geben Sie mir mal die Decke da oben.”
Britta zog erneut an der Decke.
„Das geht so nicht!”, schimpfte Frau Grieshalm. Aber Seebär konnte auch anders: „Junge Frau”, fuhr er sie an, „das ist ein Notfall! Angekommen bei Ihnen?”
Frau Hopfgartner kam wieder zu sich und murmelte: „Es geht schon wieder.”
„Liegen bleiben”, befahl der Seebär. Frau Hopfgartner wagte nicht, ihm zu widersprechen.
Aus dem Augenwinkel sah ich an meinem rechten Fuß einen Schatten: eine fette Kreuzspinne. Bestimmt hatte sie unter der Wolldecke Winterschlaf gehalten. Mir kam eine perfide Idee. Mit einem schnellen Griff fing ich die Spinne und setzte sie direkt vor Frau Hopfgartners Nase wieder aus. Frau Hopfgartner starrte die Spinne an. Ein gellender Schrei. So schnell konnten wir gar nicht gucken, wie Frau Hopfgartner wieder auf den Beinen war und sich an Britta festklammerte. Am ganzen Leib zitternd zeigte sie auf mich: „Ihr Mann will mich umbringen!”
Die Spinne versuchte zu flüchten. Doch Herr Dr. Keuscher war schneller, schnappte sich den schweren Korb mit Bügelwäsche und ließ ihn auf die Spinne fallen. Drei Beine guckten noch hervor. Vorsichtig hob ich den Korb an. Die Spinne war zäh, sie hinkte weiter in Richtung Fußleiste. Frau Hopfgartner war kurz davor zu hyperventilieren.
Im Wohnzimmer war Herr Kuckuck dabei, stotternd zu erklären: „Ich wollt halt auch mal jemanden kennenlernen. Und dann hab ich der Lucky-Farm die Provision überwiesen.”
„Von unserem Konto!”, quakte eine Frauenstimme.
„Ich wollt’ das Geld doch nur ausleihen”, versuchte Herr Kuckuck sich zu rechtfertigen.
„Aber da war doch noch erheblich mehr Geld auf dem Konto”, forschte Herr Speer nach.
„Ja, natürlich. Ich hab’ doch nur 25.000 Euro gebraucht.”
„Wahnsinn!”, Britta schüttelte fassungslos den Kopf.
„Die restlichen 50.000 Euro habe ich in einen Immobilien-Fond bei Payman-Brothers angelegt.”
„Na, hoffentlich gut verzinst”, redete Frau Knarrsack dazwischen.
„Auf welchem Stern leben Sie denn?”, erregte sich Herr Balzak „Noch nie was von Finanzkrise gehört? Das Geld ist futsch! Nix mehr da!” Wieder tobende Empörung.
Frau Hopfgartner fing leise an zu schluchzen: „Eugen hat sich auch ein Depot bei Paymann-Brothers aufschwatzen lassen. Mein Erbteil von Tante Iris – alles weg!”
Nachdem sich der erste Sturm gelegt hatte, wandte sich Frau Tolle an Herrn Kuckuck: „Wo ist denn Ihre Frau? Ich habe sie schon lange nicht mehr gesehen.” Und flüsternd an Frau Haschemeier gewandt: „Thailänderin! Fast noch ein Kind.”
Das war zu viel für Herrn Kuckuck. Sein hängendes Augenlid begann zu zucken, der kleine Mann verlor alle Hemmungen: „Das ist es ja gerade”, schluchzte er. „Ten-Pas-Pu hat alles von mir bekommen. Selbst den Skianzug von Nike, den sie im thailändischen Werbefernsehen gesehen hat – und sicher nie tragen wird. Ich bin nur ganz kurz in den Heizungskeller gegangen, um nach dem Rechten zu sehen. Als ich wieder in die Wohnung kam, war sie weg. Auf dem Spiegel im Schlafzimmer hat sie noch mit ihrem Lippenstift geschrieben: Dear Detlef, thanks for all!”
Frau Haschemeier-Dieterich, die heute ein fliederfarbenes Gewand mit Fransen trug, reichte Herrn Kuckuck ein Taschentuch.
„Haben Sie denn der Lucky-Farm den Schadensfall gemeldet?”, fragte Herr Hecke, Vertrauensmann der Gothaer-Versicherung.
„Natürlich! Ich hab mich sofort beschwert”, versicherte Herr Kuckuck, „aber die Tante von der Lucky-Farm hat nur mit den Achseln gezuckt und gesagt, sie würden schließlich keinen Menschenhandel betreiben.”
Die Lage verbesserte sich nicht gerade als Herr Speer dem Mob eröffnete, jeder Eigentümer müsste jetzt zunächst eine Sondereinlage von 3.000 Euro einzahlen.
Frau Knarrsack schrie Kuckuck empört an: „Ich zeige Sie an! Wegen Betrugs und Menschenhandels!”
Erst als Herr Mollenhauer, ein Diakon der katholischen Kirchengemeinde, sich zu Wort meldete, wurde es wieder ruhiger.
„Herr Kuckuck, Sie haben mir doch nach der Christmette erzählt, dass Sie aus der NS-Zeit alte Säbel, Wappen und Orden sammeln.”
Herr Kuckuck, der sonst keine zwei Sätze hintereinander fließend herausbekam, fing jetzt an zu sprudeln: „Neulich habe ich auf einem Trödlermarkt in Osnabrück einen traumhaften Reichssäbel von 1939 erstanden.”
Diakon Mollenhauer unterbrach ihn: „Dann schlage ich vor, die Sammlung im Rahmen unserer Ausstellung ‚Verbrechen in der NS-Zeit‘ in St. Jakobus zunächst auszustellen und sie anschließend bei ebay zu versteigern.” 20 Prozent des Erlöses sollte St. Jakobus zukommen.
„Das … das können Sie mit mir doch nicht machen!”, stammelte Herr Kuckuck. Erst als Herr Speer ihn mit der Einleitung eines Strafverfahrens wegen Veruntreuung gehörig eingeschüchtert hatte, gab er resigniert seine Zustimmung zum Verkauf. Alle klatschten.
„Wer übernimmt den Verkauf?”, fragte Herr Balzak.
„Das wird Herr Schminke übernehmen”, sagte Herr Speer bestimmend. Ich dachte, ich hätte mich verhört.
„Herr Schminke, kommen Sie doch mal nach vorne. Ich weiß, dass Sie da hinten sind.”
„Los!”, trieb mich Britta an. „Du bist gemeint.”
„Ich verstehe doch gar nichts von diesem Plunder”, raunte ich ihr zu.
„Kannst dich ja reinlesen!”
So war es immer bei uns. Wenn es unangenehm wurde, musste ich mich „reinlesen”. Unsanft wurde ich ins Wohnzimmer geschoben. Herr Speer legte seinen Arm um mich: „Herr Schminke ist Finanzbeamter. Der weiß, wie man den Leuten das Geld aus der Tasche zieht.”
„Aber ich verstehe doch gar nichts von Säbeln und diesem ganzen Kram!”
„Verstehen Sie die Steuergesetze?”
Ich schwieg eisern.
„Na, also! Kann man gar nicht. Alles Schwachsinn! Deshalb sind Sie für uns auch der richtige Mann.”
Wieder johlten und klatschten alle.
Herr Speer beendete die Sitzung und wies Diakon Mollenhauer an, die Sammlung sicherzustellen.