Kitabı oku: «Europarecht», sayfa 10
4. Effet-utile-Grundsatz
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Darüber hinaus arbeitet der Gerichtshof der EU mit einem weiteren besonderen teleologischen Argument. Nach dem Effet-utile-Grundsatz kann eine Norm so interpretiert werden, dass bei mehreren denkbaren Lesarten derjenigen der Vorzug gegeben wird, welche den größten praktischen Nutzen für die EU und die Unionsrechtsordnung mit sich bringt. Diese Methode der praktischen Wirksamkeit bzw. der nützlichen Wirkung dient dem Gerichtshof der EU v.a. zur Sicherstellung der Funktionsfähigkeit des Unionsrechts. Der Inhalt des effet utile wurde dabei kontinuierlich fortentwickelt, so dass bei mehreren denkbaren Interpretationen i.d.R. derjenigen Auslegung der Vorzug eingeräumt wird, welche die Verwirklichung der Vertragsziele der Union am besten fördert oder gewährleistet. Dieses Verständnis hat dazu geführt, dass der effet utile zur größten Antriebskraft für den Integrationsprozess der Union geworden ist und ihm eine überragende Bedeutung für die Entscheidungen des Gerichtshofs der EU bescheinigt wird.
5. Rangfolge der Auslegungsmethoden
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In dem Verhältnis der Auslegungsmethoden zueinander wurde hin und wieder versucht, eine Rangfolge zwischen ihnen zu erstellen. Insbesondere die Bedeutung des Wortlautarguments wurde dabei sehr unterschiedlich bewertet. Da die Auslegung nach dem Wortsinn abstrakt betrachtet wenig zielführend erschien, wurde ihr schnell eine nur geringe Bedeutung für die Entscheidungen der rechtsprechenden Institutionen der EU zugemessen, als wichtigste Auslegungsvariante dagegen die teleologische Methode ausgemacht.
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Allerdings greift diese grundsätzliche Bewertung zu kurz. So konnte empirisch nicht nur nachgewiesen werden, dass der EuGH in der weit überwiegenden Zahl seiner Entscheidungen u.a. eine grammatikalische Argumentation zur Entscheidungsfindung verwendet, sondern auch, dass diese Argumente aufgrund des eindeutigen Wortlautes zudem sehr wohl entscheidungserheblich waren. Insofern wurde die tatsächliche Bedeutung der grammatikalischen Auslegung in der Vergangenheit oftmals unterschätzt. Richtig bleibt jedoch, dass die sprachfassungsvergleichende Wortlautauslegung in Problemfällen wenig zielführend ist, so dass dem Wortlautargument in diesen Konstellationen eine nur unterstützende, ergänzende oder aber begrenzende Funktion zukommen kann.
6. Teleologisch-systematische Herangehensweise
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Die Methodik der Auslegung des EU-Rechts durch den Gerichtshof der EU kann insgesamt als teleologisch-systematische Herangehensweise beschrieben werden. Ausgehend von einer sprachfassungsvergleichenden Wortlautinterpretation werden die unionsrechtlichen Vorschriften nach ihrem Sinn und Zweck (teleologisch) dahingehend ausgelegt, dass sie der Besonderheit der EU-Rechtsordnung gerecht werden und den Zielen der Union insgesamt den größten Nutzen bringen (systematisch). Durch diese unionsrechtsfreundliche Auslegungsform wurde dem Gerichtshof der EU – insbesondere dem EuGH – vielfach der Beiname Integrationsmotor der EU bzw. Förderer und Hüter der Integration zuteil.
A › Auslegung des EU-Rechts (Nico S. Schmidt) › III. Kritik an der Rechtsprechung des Gerichtshofs der EU
III. Kritik an der Rechtsprechung des Gerichtshofs der EU
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Der Gerichtshof der EU war von Anfang an mit der Aufgabe betraut, das Unionsrecht auszulegen. Die Mehrdeutigkeiten des Unionsrechts hat er mit den dargestellten Methoden aufgelöst und ggf. gebliebene Regelungslücken geschlossen. Seine Entscheidungen hatten und haben dabei z.T. weitgehende Folgen für die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen. Ergehen Urteile etwa im Wege der Vorabentscheidung nach Art. 267 AEUV, bindet die Sichtweise des Gerichtshofs grundsätzlich zwar nur das vorlegende Gericht. Die tatsächliche Wirkung ist jedoch deutlich größer. So gilt die in diesem Urteil geäußerte Auslegung des Unionsrechts für sämtliche vergleichbaren zukünftigen Streitigkeiten in allen Mitgliedstaaten.
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Aufgrund seiner integrationsfreundlichen Rechtsprechung wurde dem Gerichtshof der EU daher vielfach eine vom europäischen Primärrecht nicht intendierte politische Einflussnahme vorgeworfen. Dabei wurde ihm angelastet, sich wissentlich und willentlich über die Regelungskompetenzen der Union hinwegzusetzen und das Unionsrecht dadurch bewusst in mitgliedstaatliche Regelungsbereiche auszudehnen, obwohl ein politischer Konsens über die jeweiligen Rechtsmaterien nicht erzielt werden konnte. Der Vorwurf der politischen Wirkungskraft der Entscheidungen des EuGH wurde etwa in Bezeichnungen wie „LʼEurope des juges“ oder „Le gouvernement des juges“ zum Ausdruck gebracht.
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Auch als Folge dieser Kritik wurde in Art. 5 Abs. 3 EUV der sog. → Grundsatz der Subsidiarität in die Vertragstexte aufgenommen. Allerdings hat die Kodifikation dieses Grundsatzes das integrative Selbstverständnis des Gerichtshofs der EU bis heute nicht merklich geändert. So lässt sich bezüglich der unionsrechtsfreundlichen Auslegung weder qualitativ noch quantitativ eine veränderte Rechtsprechungspraxis des Gerichtshofs der EU ausmachen.
A › Auslegung des nationalen Rechts (Nico S. Schmidt)
Auslegung des nationalen Rechts (Nico S. Schmidt)
I.Unionsrechtskonforme Auslegung des mitgliedstaatlichen Rechts217 – 235
1.Methodenbeschreibung218 – 223
a)Inhalt der unionsrechtskonformen Auslegung219
b)Abgrenzung zum Anwendungsvorrang des Unionsrechts220, 221
c)Funktion der unionsrechtskonformen Auslegung222
d)Einordnung in den klassischen Methodenkanon223
2.Terminologische Varianten224, 225
3.Rechtsgrundlagen226 – 228
4.Verpflichtung zur unionsrechtskonformen Auslegung229, 230
5.Grenzen der unionsrechtskonformen Auslegung231 – 235
a)Absolute Auslegungsgrenzen des mitgliedstaatlichen Rechts232, 233
b)Relative Auslegungsgrenzen des Unionsrechts234, 235
II.Grenzen der Auslegungszuständigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte236
Lit.:
M. Frisch, Die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts, 2001; O. Gänswein, Der Grundsatz unionsrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts, 2009; H. D. Jarass, Richtlinienkonforme bzw. EG-rechtskonforme Auslegung nationalen Rechts, EuR 26 (1991), 211; M. Klamert, Die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts, 2001; K. Krieger, Die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung des deutschen Rechts, 2005; A. S. Metallinos, Die europarechtskonforme Auslegung, 1994; J. Suhr, Richtlinienkonforme Auslegung im Privatrecht und nationale Auslegungsmethodik, 2011; M. Weber, Grenzen EU-rechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung, 2010.
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Die Auslegung des nationalen Rechts ist ausschließlich Aufgabe der nationalen Gerichte. Das Recht der Mitgliedstaaten wird jedoch durch das Unionsrecht beeinflusst. EU-Recht und nationales Recht können sich dabei inhaltlich überschneiden. Für die → Auslegung des EU-Rechts ist nach Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV demgegenüber allein der Gerichtshof der EU zuständig (→ Gerichtssystem der EU). Insgesamt ist die Auslegung des nationalen Rechts in Bezug auf das Unionsrecht daher von einem Zusammenspiel der mitgliedstaatlichen Gerichte mit dem → Europäischen Gerichtshof (EuGH) geprägt. Dazu wurde zum einen für die Gerichte der Mitgliedstaaten die Methode der unionsrechtskonformen Auslegung entwickelt (Rn. 217 ff.), zum anderen hat sich eine verzweigte Verteilung der Entscheidungskompetenzen zwischen dem Gerichtshof der EU und den mitgliedstaatlichen Gerichten herausgebildet (Rn. 231).
A › Auslegung des nationalen Rechts (Nico S. Schmidt) › I. Unionsrechtskonforme Auslegung des mitgliedstaatlichen Rechts
I. Unionsrechtskonforme Auslegung des mitgliedstaatlichen Rechts
217
Die unionsrechtskonforme Auslegung ist eine durch den EuGH entwickelte Interpretationsmethode, die von den mitgliedstaatlichen Gerichten angewendet werden soll (Rn. 218 ff.). Bezogen auf das deutsche Recht weist sie Ähnlichkeiten mit der Methode der verfassungskonformen Auslegung auf und wurde entsprechend mit dieser häufig verglichen. Inhaltlich darf die unionsrechtskonforme Auslegung nicht mit dem → Anwendungsvorrang des EU-Rechts verwechselt werden (Rn. 220 f.). Die unionsrechtskonforme Auslegung wurde über viele Jahre hinweg v.a. im Hinblick auf ihre Rechtsgrundlagen (Rn. 226 ff.), ihre Anwendungspflicht (Rn. 229 f.) sowie ihre Grenzen (Rn. 231 ff.) diskutiert.
1. Methodenbeschreibung
218
Bei der unionsrechtskonformen Auslegung handelt es sich um eine Auslegungsmethode zur Interpretation des nationalen Rechts. Sie dient als ergänzende Methode zum jeweiligen nationalen Auslegungskanon. Notwendig wird eine unionsrechtskonforme Auslegung u.U. dann, wenn für die Entscheidung in einem mitgliedstaatlichen Verfahren als anwendbare Rechtsnormen sowohl mitgliedstaatliche als auch unionsrechtliche Regelungen in Betracht kommen und die Anwendung der einen oder anderen Norm zu unterschiedlichen Ergebnissen in dem Rechtsstreit führen würde.
a) Inhalt der unionsrechtskonformen Auslegung
219
Steht eine nationale Rechtsnorm mit dem Unionsrecht im Widerspruch, müssen die entscheidungserheblichen Rechtsnormen miteinander in Einklang gebracht werden. Aufgrund der Vorrangigkeit des Unionsrechts muss allerdings stets gewährleistet sein, dass die unionsrechtlichen Normen zumindest inhaltlich in vollem Umfang zum Tragen kommen. Diesen Ausgleich soll die unionsrechtskonforme Auslegung leisten. Hierbei wird die nationale Vorschrift „im Lichte des Unionsrechts“ interpretiert. Die Auslegung einer nationalen Vorschrift darf nach der unionsrechtskonformen Auslegung somit nur zu einem Ergebnis gelangen, welches mit der Regelung der Vorschrift des EU-Rechts inhaltlich übereinstimmt. Entschieden wird der mitgliedstaatliche Rechtsstreit jedoch weiterhin unter Anwendung der nationalen Rechtsnorm.
b) Abgrenzung zum Anwendungsvorrang des Unionsrechts
220
Die Auflösung eines inhaltlichen Widerspruchs zwischen einer mitgliedstaatlichen Regelung mit dem Unionsrecht könnte grundsätzlich auch über einen Anwendungsvorrang des EU-Rechts erfolgen. Dieser unterscheidet sich von der unionsrechtskonformen Auslegung jedoch v.a. im Hinblick auf die angewendete Rechtsnorm.
221
So wird beim Anwendungsvorrang des Unionsrechts die mitgliedstaatliche Rechtsnorm verdrängt und findet auf den konkreten Rechtsstreit keine Anwendung mehr (lex superior derogat legi inferiori). Bei einer unionsrechtskonformen Auslegung bleibt hingegen die mitgliedstaatliche Rechtsnorm weiterhin maßgeblich. Hierdurch erfährt der nationale Gesetzgeber eine stärkere Berücksichtigung. Daher ist die unionsrechtskonforme Auslegung gegenüber dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts vorzugswürdig. Der Anwendungsvorrang kann somit lediglich dann zum Tragen kommen, wenn eine unionsrechtskonforme Auslegung nicht mehr möglich ist. Dies ist nur bei einer Kollision der relevanten Regelungen der Fall.
c) Funktion der unionsrechtskonformen Auslegung
222
Der Sinn und Zweck einer unionsrechtskonformen Auslegung besteht im Wesentlichen darin, rechtliche Kollisionen zwischen nationalen und unionsrechtlichen Vorschriften zu vermeiden. So werden die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen dadurch geschont, dass das nationale Recht durch die unionsrechtskonforme Auslegung nicht ausgehebelt wird und – in unionsrechtskonformer Lesart – weiterhin anwendbar bleibt.
d) Einordnung in den klassischen Methodenkanon
223
Das Verhältnis der unionsrechtskonformen Auslegung zu den klassischen Auslegungsmethoden wird unterschiedlich bewertet. Teilweise wird die unionsrechtskonforme Auslegung als Korrektiv innerhalb der klassischen Argumente verstanden, teilweise aber auch als eigenständige Methode außerhalb des Kanons gesehen. Ob eine unionsrechtskonforme Auslegung innerhalb der klassischen Methoden vorgenommen wird oder als eigene Methodik erst anschließend erfolgen kann, ist für die Rechtsprechungswirklichkeit aber zumeist unerheblich, da durch die Gerichte i.d.R. ohnehin keine schulbuchmäßige Prüfung der einzelnen Argumente nacheinander erfolgt. Aufgrund der inhaltlichen Vorrangigkeit des Unionsrechts ist jedoch klar, dass der unionsrechtskonformen Auslegungsmethode im Verhältnis zu den anderen Methoden grundsätzlich die entscheidende Bedeutung zukommen muss.
2. Terminologische Varianten
224
Das methodische Konzept der unionsrechtskonformen Auslegung lässt sich z.T. auch unter anderer Bezeichnung finden. Jedoch sind diese Benennungen nicht ohne weiteres austauschbar. Das einzige tatsächliche Synonym zur unionsrechtskonformen Auslegung ist die EU-rechtskonforme Auslegung. Die terminologischen Vorläufer hierzu sind die gemeinschaftsrechts- und die EG-rechtskonforme Auslegung. Diese entsprechen heute jedoch nicht mehr der Vertragswirklichkeit und sind damit letztlich veraltet. Die Bezeichnung als europarechtskonforme Auslegung ist hingegen ungenau, da das Europarecht i.w.S. neben dem Unionsrecht auch bspw. das Recht des Europarates umfasst (→ Europarecht: Begriff).
225
Die richtlinienkonforme und die rahmenbeschlusskonforme Auslegung beschreiben dagegen nur die Auslegung des nationalen Rechts im Einklang mit einer → Richtlinie oder einem Rahmenbeschluss. Dementsprechend stellen sie lediglich Unterfälle der unionsrechtskonformen Auslegung dar. Neben diesen beiden Spezifika schließt die unionsrechtskonforme Auslegung als methodischer Oberbegriff zudem das sonstige Unionsrecht ein, das bei der Auslegung nationaler Normen ebenfalls berücksichtigt werden muss (z.B. Allgemeine Rechtsgrundsätze, Gewohnheitsrecht).
3. Rechtsgrundlagen
226
Die rechtlichen Grundlagen für eine unionsrechtskonforme Auslegung finden sich sowohl im Unionsrecht als auch im nationalen Recht. Nach überwiegender Auffassung wird die Verpflichtung zur unionsrechtskonformen Auslegung aus dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit in Art. 4 Abs. 3 EUV hergeleitet (→ Unionstreue). Diese allgemeine Loyalitätspflicht stellt sich nicht nur für die Mitgliedstaaten selbst, sondern für alle ihre Träger öffentlicher Gewalt. Daher haben auch diese nach Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUV jegliche Maßnahmen zu ergreifen, welche zur Erfüllung der Unionsverpflichtungen geeignet sind und sich aus den Verträgen oder den Handlungen der Unionsorgane ergeben. Dementsprechend sind auch die mitgliedstaatlichen Gerichte dazu verpflichtet, die Unionsziele zu schützen, was über die Methode der unionsrechtskonformen Auslegung erreicht wird.
227
Darüber hinaus wird die richtlinienkonforme Auslegung als Teil der unionsrechtskonformen Auslegung auch auf Art. 288 UAbs. 3 AEUV gestützt. Hiernach ist zunächst das Ziel einer Richtlinie für die Mitgliedstaaten verbindlich. Zudem regeln Richtlinien u.U. auch Detailaspekte, die ebenfalls Anspruch auf rechtliche Verbindlichkeit erheben. Ist also das Ziel oder ein Detailaspekt einer Richtlinie nur unzureichend in mitgliedstaatliches Recht transformiert worden, kann es den Gerichten dieses Mitgliedstaates als innerstaatlicher Stelle nach Art. 288 UAbs. 3 AEUV obliegen, eine zielgerichtete Umsetzung der Richtlinie im Wege der unionsrechtskonformen Auslegung sicherzustellen.
228
Im mitgliedstaatlichen Recht lässt sich die EU-rechtskonforme Auslegung v.a. durch die klassischen juristischen Argumente begründen. So dokumentiert bspw. die Transformation einer Richtlinie den Willen des nationalen Gesetzgebers, die Vorgaben dieser Richtlinie erfüllen zu wollen. Damit kann die Notwendigkeit einer richtlinienkonformen Auslegung als Unterfall der unionsrechtskonformen Auslegung (dazu bereits Rn. 225) einerseits aus der Intention des Gesetzgebers und dem Sinn und Zweck der Regelungen abgeleitet werden. Andererseits werden ggf. Begriffe, Formulierungen oder auch Regelungszusammenhänge aus dieser Richtlinie übernommen, so dass als Rechtsgrundlage für die unionsrechtskonforme Auslegung im mitgliedstaatlichen Recht auch der Wortlaut und die Systematik angeführt werden können.
4. Verpflichtung zur unionsrechtskonformen Auslegung
229
Die Verpflichtung zu einer umfänglichen unionsrechtskonformen Auslegung durch die mitgliedstaatlichen Gerichte besteht spätestens seit der Marleasing-Entscheidung (EuGH, Urt. v. 13. 11. 1990, C-106/89). Bezogen auf umsetzungsbedürftige Rechtsakte (z.B. Richtlinien) muss jedoch hinsichtlich des Ablaufes der Transformationsfrist differenziert werden. Vor Ablauf der Umsetzungsfrist besteht für die Richter der mitgliedstaatlichen Gerichte grundsätzlich nur die Möglichkeit zu einer unionsrechtskonformen Auslegung. Gleichwohl kann eine Verpflichtung ausnahmsweise auch schon vor dem Umsetzungsakt gegeben sein. Dies gilt jedoch ausschließlich dann, wenn die Auslegung des nationalen Rechts andernfalls das Ziel oder den Zweck des Rechtsaktes insgesamt gefährden würde, sog. Frustrationsverbot.
230
Nach Ablauf der Transformationsfrist besteht hingegen eine prinzipielle Verpflichtung zur unionsrechtskonformen Auslegung. U. U. sogar dann, wenn der Rechtsakt noch nicht in mitgliedstaatliches Recht umgesetzt wurde. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass nach den Auslegungsgrenzen des jeweiligen Mitgliedstaates eine den Wortlaut der nationalen Regelung überschreitende Rechtsfortbildung vorgesehen bzw. möglich ist.
5. Grenzen der unionsrechtskonformen Auslegung
231
Die Grenzen der unionsrechtskonformen Auslegung sind sowohl im mitgliedstaatlichen Recht als auch im Unionsrecht verankert. Dabei muss bezüglich der absoluten Grenzen im nationalen Recht (Rn. 232 f.) und der relativen Grenzen aus dem Unionsrecht (Rn. 234 f.) unterschieden werden.
a) Absolute Auslegungsgrenzen des mitgliedstaatlichen Rechts
232
Die Möglichkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte, das nationale Recht auszulegen, unterliegt den nationalen verfassungsrechtlichen Grenzen. Bezogen auf das deutsche Recht können hierfür v.a. die Grundsätze der verfassungskonformen Auslegung herangezogen werden. Dementsprechend leiten sich die Grenzen der unionsrechtskonformen Auslegung für das deutsche Recht aus der Gesetzesbindung in Art. 20 Abs. 3 GG, dem Gewaltenteilungsprinzip in Art. 20 Abs. 2 GG sowie dem Rechtsstaatsprinzip in Art. 20 Abs. 3 GG ab.
233
Im Hinblick auf die Gesetzesbindung darf eine Vorschrift somit niemals contra legem ausgelegt werden. Entscheidend für einen Verstoß gegen diese Bindung des Richters an das Gesetz ist dabei die Eindeutigkeit der Vorschrift. Er darf diese somit niemals gegen den eindeutigen Wortlaut, den eindeutigen Willen des Gesetzgebers bzw. den eindeutigen Sinn und Zweck der Vorschrift auslegen. Sollte eine unionsrechtskonforme Auslegung wegen dieser verfassungsrechtlichen Grenzen nicht möglich sein, könnte das Unionsrecht somit nur über einen Anwendungsvorrang seine rechtliche Wirkung entfalten.
b) Relative Auslegungsgrenzen des Unionsrechts
234
Grundsätzlich unterliegen die mitgliedstaatlichen Gerichte ausschließlich den nationalen verfassungsrechtlichen Auslegungsgrenzen. Regelungen, die auf der Transformation von Unionsrechtsakten beruhen, stellen jedoch abgeleitetes Unionsrecht dar, so dass für diese Normen ggf. auch unionsrechtliche Auslegungsgrenzen in Betracht kommen können. Diese Grenzen bestehen zum einen in den Allgemeinen Rechtsgrundsätzen der Union: dem Vertrauensschutz, der Rechtssicherheit, dem Bestimmtheitsgrundsatz oder dem Rückwirkungsverbot. Zum anderen sind sie in dem Verbot einer sog. horizontalen Direktwirkung von umsetzungsbedürftigen Rechtsakten (z.B. einer Richtlinie) zu sehen.
235
Gleichwohl stellen die unionsrechtlichen Auslegungsgrenzen – anders als die nationalen Grenzen – für den mitgliedstaatlichen Richter keine absoluten Auslegungsgrenzen dar. Würde eine unionsrechtskonforme Auslegung gegen die unionsrechtlichen Grenzen verstoßen, bestünde die rechtliche Folge vielmehr allein darin, dass der Richter von seiner grundsätzlichen Verpflichtung zur unionsrechtskonformen Auslegung befreit würde. Allerdings bliebe ihm weiterhin die Möglichkeit, eine nationale Vorschrift unionsrechtskonform auszulegen, wenn dieses Ergebnis von den absoluten Auslegungsgrenzen des jeweiligen Mitgliedstaates gedeckt wäre. Dementsprechend können die Grenzen des Unionsrechts als relative Auslegungsgrenzen des nationalen Richters bezüglich der Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung bezeichnet werden.
A › Auslegung des nationalen Rechts (Nico S. Schmidt) › II. Grenzen der Auslegungszuständigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte