Kitabı oku: «Europarecht», sayfa 9
3. Die unionsrechtlichen Asylvoraussetzungen und -folgen
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Asylberechtigt sind Flüchtlinge i.S.d. GFK und subsidiär Schutzberechtigte. Die Anerkennung eines solchen Status verläuft in unionrechtlich harmonisierten Verfahren insbesondere nach der Dublin-III-VO (s. Rn. 162). Materiellrechtliche Folge der Anerkennung als Flüchtling oder subsidiär schutzberechtigte Person ist ein Anspruch auf Gewährung internationalen Schutzes. Dies regelt näher die Asylqualifikations-RL, die jedoch nicht für Dänemark, Irland und das Vereinigte Königreich gilt (vgl. deren Erwägungsgründe Nr. 50 und 51). Darunter fallen gem. deren Art. 20 ff. der Schutz vor Zurückweisung (verbunden mit einem speziellen Aufenthaltstitel, Recht auf Freizügigkeit innerhalb des Aufenthaltsstaates und Ausstellung von Reisedokumenten), die Wahrung des Familienverbands, der Zugang zu Beschäftigung, Bildung und Anerkennungsverfahren von Befähigungsnachweisen, die Versorgung im Bereich der Sozialhilfe und Medizin, der Zugang zu Wohnraum, der Zugang zu Integrationsmaßnahmen sowie die Unterstützung im Falle eines Rückkehrbegehrens.
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Der Flüchtlingsbegriff wurde im unionsrechtlichen Zusammenhang zuletzt in der Asylqualifikations-RL definiert; deren Art. 2 Buchst. d spricht von einem „Drittstaatsangehörigen, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, oder einen Staatenlosen, der sich aus denselben vor genannten Gründen außerhalb des Landes seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts befindet und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht dorthin zurückkehren will“. Dies entspricht der Definition in § 3 Abs. 1 AsylG. Damit wurde jedoch bereits die GFK und der dort verwendete Flüchtlingsbegriff (Art. 1 GFK) umgesetzt. Die Definition der Asylqualifikations-RL spiegelt also lediglich das geltende Völkerrecht wider und projiziert es auf die Ebene des Unionsrechts.
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Subsidiär schutzberechtigt ist eine Person, die zwar keine Flüchtlingseigenschaft, aber „stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass [sie] bei einer Rückkehr in [ihr] Herkunftsland oder, bei einem Staatenlosen, in das Land seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts tatsächlich Gefahr liefe, einen ernsthaften Schaden [...] zu erleiden, [...] und [die] den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Gefahr nicht in Anspruch nehmen will“, Art. 2 Buchst. f Asylqualifikations-RL. Als ernsthafter Schaden gelten Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung sowie eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt i.R.e. internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts, Art. 15 Asylqualifikations-RL. Dies gibt auch § 4 Abs. 1 AsylG wieder.
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Die Eigenschaft als Flüchtling oder subsidiär schutzberechtigte Person wird indes v.a. dann versagt, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme der Täterschaft oder Teilnahme an einem Verbrechen gegen den Frieden, einem Kriegsverbrechen, einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder an einer sonstigen schwerwiegenden nichtpolitischen Straftat rechtfertigen, Art. 12 Abs. 2 und 17 Asylqualifikations-RL. Entsprechende Regelungen finden sich auch in § 3 Abs. 2 und § 4 Abs. 2 AsylG.
4. Das unionsrechtlich determinierte Asylverfahren
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Das Asylverfahren wurde für die meisten Mitgliedstaaten (d.h. mit Ausnahmen in Bezug auf Dänemark, Irland und das Vereinigte Königreich) harmonisiert, so dass nun vergleichbare Abläufe und Standards zur Bestimmung der Eigenschaft als Flüchtling bzw. subsidiär schutzberechtigte Person gelten. Die dafür maßgeblichen Rechtsquellen sind u.a. die Asylverfahrens-RL, die Aufnahme-RL, die Dublin-III-VO sowie die Eurodac-VO.
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Zu Beginn eines jeden Asylverfahrens ist gegenwärtig (Stand: Juli 2018) die Dublin-III-VO entscheidend, die auch für Irland und das Vereinigte Königreich, dagegen nicht für Dänemark gilt (vgl. in der VO die Erwägungsgründe Nr. 41 und 42). Nach ihr wird der für das Asylverfahren zuständige Mitgliedstaat bestimmt. Dabei gilt die in Art. 8 ff. Dublin-III-VO normierte Rangfolge von Kriterien. Abgesehen von Privilegien für unbegleitete Minderjährige und sonstige Familienangehörige kann von dem Grundsatz ausgegangen werden, dass derjenige Mitgliedstaat zuständig ist, den der Asylsuchende mit Einreise in das Unionsgebiet als ersten betreten hat. Aus diesem Grund wird die Dublin-III-VO häufig als ungerecht empfunden, da gerade die Mitgliedstaaten an den südöstlichen Außengrenzen der Union übermäßig von Asylverfahren betroffen sind. Lässt sich nach diesen Kriterien die Zuständigkeit nicht feststellen, gilt der Staat als zuständig, in dem der erste Asylantrag gestellt wurde, Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO. Unabhängig davon besteht gem. Art. 17 Dublin-III-VO ein Selbsteintrittsrecht, mit dem sich ein Mitgliedstaat in einem Verfahren für zuständig erklären kann. Hiervon hat insbesondere Deutschland häufig – u.a. ab dem Jahr 2015 zu Gunsten syrischer Bürgerkriegsflüchtlinge – Gebrauch gemacht.
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Verfahrenseinleitend wirkt stets der durch die asylsuchende Person eingereichte Antrag auf internationalen Schutz (Asylantrag), Art. 20 Dublin-III-VO. Die den Antrag entgegennehmende Stelle hat dann nach einem persönlichen Gespräch zu ermitteln, welche Stelle für die Bearbeitung des Antrags tatsächlich zuständig ist, Art. 5 Dublin-III-VO. Dabei soll sie nach Maßgabe der Eurodac-VO auch Fingerabdruckdaten abgleichen. Hält sie sich selbst für unzuständig, ersucht sie den für zuständig gehaltenen Mitgliedstaat dazu, das Verfahren zu betreiben, Art. 21 Dublin-III-VO. Hierauf hat der ersuchte Mitgliedstaat binnen zwei Monaten zu reagieren, Art. 22 Dublin-III-VO.
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Wenn der für das Asylverfahren zuständige Staat feststeht, richten sich die weiteren Verfahrensregeln nach dessen nationalem Recht, das jedoch durch die Asylverfahrens-RL und die Aufnahme-RL in wesentlichen Teilen vorbestimmt ist. Beide Richtlinien gelten nicht für Dänemark, Irland und das Vereinigte Königreich. Dabei bestimmt die Asylverfahrens-RL gemeinsame Regeln für das Verfahren selbst, z.B. was die einzelnen Prüfungsschritte von Asylanträgen, die Verwaltungsverfahrensschritte oder Rechtsschutzmöglichkeiten betrifft. Auch das Konzept des sicheren Herkunftsstaates ist in die Asylverfahrens-RL eingeflossen (Art. 36 f.). Dagegen regelt die Aufnahme-RL den Status und die Lebensbedingungen des Asylsuchenden während des laufenden Verfahrens, etwa in Bezug auf Dokumente, Bewegungsfreiheit, Beschäftigungsmöglichkeiten, Bildungsangebote und medizinische Versorgung.
5. Reformbedarf
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Die bestehenden unionrechtlichen Asylregelungen leiden (jedenfalls zum Zeitpunkt des letzten Bearbeitungsstands dieses Beitrags im Juli 2018) in zahlreichen Mitgliedstaaten unter Durchsetzungsdefiziten, Umgehungsversuchen bis hin zu Verweigerungshaltungen einzelner (meist osteuropäischer) Mitgliedstaaten. Zwar können als notstandsähnliche Reaktion Maßnahmen im Einzelfall auf Grundlage von Art. 78 Abs. 3 AEUV – wie etwa die Aktivierung eines Notfall-Umverteilungsmechanismus (Beschluss [EU] 2015/1601, vom → Europäischen Gerichtshof [EuGH] bestätigt: Urt. v. 6.9.2017, C-647/15) – getroffen werden; diese tragen aber nur wenig zu einer nachhaltigen Problemlösung bei. Es ist kaum von der Hand zu weisen, dass die bestehenden Zuständigkeitsregeln der Dublin-III-VO in Zeiten verstärkter Migrationsströme zu einer Verteilungsungerechtigkeit zulasten des ohnehin wirtschaftlich weniger begünstigten südlichen Teils des Unionsgebiets führen. Der Stellenwert des europäischen Asylrechts in seiner gegenwärtigen Form entfacht sogar angesichts politischer Instrumentalisierung durch nationalistisch-populistische Strömungen in einzelnen Mitgliedstaaten die Gefahr, die Errungenschaften der auf Frieden und Freiheit errichteten Union als solche in Frage zu stellen. Angesichts dessen besteht jedenfalls aus rechtspolitischer Sicht ein struktureller Reformbedarf des „Dublin-Systems“, auf den die Kommission mit dem Entwurf einer – jedenfalls der Sache, jedoch nicht der Bezeichnung nach – „Dublin-IV-VO“ reagiert hat (zuletzt i.d.F. vom 21.8.2016, Dokument COM[2016]270/F2). Hierüber setzen sich die schwierigen politischen Verhandlungen fort (Stand: Juli 2018).
A › Auslegung des EU-Rechts (Nico S. Schmidt)
Auslegung des EU-Rechts (Nico S. Schmidt)
I.Herausforderungen bei der Auslegung des EU-Rechts197 – 200
1.Komplexität der Wortlautinterpretation198, 199
2.Entscheidungskompetenz200
II.Auslegungsmethodik des Gerichtshofs der EU201 – 212
1.Sprachfassungsvergleichende Wortlautauslegung202 – 204
2.Acte-clair-Theorie205, 206
3.Implied-powers-Doktrin207, 208
4.Effet-utile-Grundsatz209
5.Rangfolge der Auslegungsmethoden210, 211
6.Teleologisch-systematische Herangehensweise212
III.Kritik an der Rechtsprechung des Gerichtshofs der EU213 – 215
Lit.:
C. Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1998; M. Dederichs, Die Methodik des EuGH, 2003; M. Derlén, Multilingual interpretation of European Union law, 2009; S. M. Grundmann, Die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den Europäischen Gerichtshof, 1997; G. Hirsch, Die Rolle des Europäischen Gerichtshofs bei der europäischen Integration, JöR 49 (2001), 79; A. von Oettingen, Effet utile und individuelle Rechte im Recht der Europäischen Union, 2010; M. Potacs, Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den Europäischen Gerichtshof, 1996; G. G. Sander, Der Europäische Gerichtshof als Förderer und Hüter der Integration, 1998; S. Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH, 2008.
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Die Kernaufgabe des Gerichtshofes der EU (→ Gerichtssystem der EU) ist es – also aller rechtsprechenden Institutionen gemeinsam –, die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge zu sichern. Diese Aufgabe ergibt sich unmittelbar aus Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV und ist aus mehrerlei Gesichtspunkten anspruchsvoll (Rn. 197 ff.). Hierzu verwenden der → Europäische Gerichtshof (EuGH) und das → Gericht der EU (EuG) grundsätzlich die juristischen Argumente der klassischen Methodenlehre. Zum Teil wird deren Inhalt jedoch modifiziert oder erweitert. Einige Argumente lassen sich auch mehreren Kategorien zuordnen (Rn. 201 ff.). Für seine Auslegungspraxis ist der Gerichtshof der EU zuweilen kritisiert worden (Rn. 213 ff.).
A › Auslegung des EU-Rechts (Nico S. Schmidt) › I. Herausforderungen bei der Auslegung des EU-Rechts
I. Herausforderungen bei der Auslegung des EU-Rechts
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Die Herausforderungen bei der Auslegung des Unionsrechts können inhaltlich kaum überschätzt werden. Dies liegt zunächst v. a. an der Sprachenvielfalt, in der sich das Unionsrecht darstellt (Rn. 198 f.). Darüber hinaus sind die unionsrechtlichen Regelungs- und Entscheidungskompetenzen nur insoweit gegeben, wie diese der Union von den Mitgliedstaaten ausdrücklich verliehen wurden, sog. → Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung. Ist das Unionsrecht nicht eindeutig, ergeben sich hieraus dogmatische Probleme (Rn. 200).
1. Komplexität der Wortlautinterpretation
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Ausgangspunkt bei der Auslegung des EU-Rechts ist der Wortlaut einer Vorschrift. Das Unionsrecht findet sich jedoch in zahlreichen Sprachfassungen. Maßgeblich für die Auslegung sind allerdings nur die verbindlichen Fassungen. Welche Sprachfassungen einer Vorschrift verbindlich sind, kann im Hinblick darauf, ob es sich um Vorschriften des → Primärrechts oder des → Sekundärrechts handelt, unterschiedlich sein (→ Sprachenregime der EU). In der weit überwiegenden Zahl der Fälle ist das Unionsrecht jedoch in den Sprachfassungen aller 24 Amtssprachen gleichermaßen verbindlich.
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Das Abfassen von Rechtstexten in derart vielen Sprachen bietet ein enormes inhaltliches wie linguistisches Fehlerpotenzial. Dies ergibt sich neben den unterschiedlichen Rechtssystemen, welche in den Mitgliedstaaten vorgefunden werden, v.a. aus der Übersetzung der Rechtstexte. Je nach Regelungsmaterie kommen neben den juristischen zudem fachsprachliche Herausforderungen hinzu (sog. doppelte Fachsprachlichkeit). Auch wenn es sich bei den Sprachfassungen juristisch betrachtet nicht um Übersetzungen handelt, so entstehen sie dennoch durch einen Übersetzungsprozess, welcher systemimmanent fehleranfällig ist. Daher war und ist es eine der zentralen Aufgaben des Gerichtshofs der EU, mögliche Unstimmigkeiten, Divergenzen oder Probleme in Bezug auf den Wortlaut der EU-Vorschriften aufzulösen und eine einheitliche Lesart herauszuarbeiten bzw. festzulegen.
2. Entscheidungskompetenz
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Der Gerichtshof der EU steht bei der Auslegung des EU-Rechts vor dem zusätzlichen Problem, dass er das Unionsrecht nur in der Weise interpretieren darf, wie die Mitgliedstaaten ihre gesetzgeberischen Kompetenzen ausdrücklich auf die Union übertragen haben. Andernfalls würde er mit einer zu weit gehenden Auslegung ggf. die mitgliedstaatlichen Regelungskompetenzen verletzen. Dabei kann die Grenzziehung zwischen den Kompetenzbereichen der EU und denen der Mitgliedstaaten durchaus schwierig sein, da mehrdeutige Rechtsnormen u.U. gerade keine klare Trennschärfe erlauben. Insoweit musste und muss sich der Gerichtshof der EU teilweise mit Rechtsnormen auseinandersetzen, die entweder unwissentlich mehrdeutig geblieben sind oder aber ganz bewusst offen formuliert wurden, da auf politischer Ebene kein Konsens bezüglich eines konkreten Wortlautes erzielt werden konnte. So wurde die Interpretation vieler Rechtsnormen anscheinend absichtlich der juristischen Bewertung durch den Gerichtshof der EU überlassen.
A › Auslegung des EU-Rechts (Nico S. Schmidt) › II. Auslegungsmethodik des Gerichtshofs der EU
II. Auslegungsmethodik des Gerichtshofs der EU
201
Grundsätzlich bedient sich der Gerichtshof der EU zur Auslegung des EU-Rechts der klassischen juristischen Methoden. So finden sich in den Entscheidungen von EuGH und EuG zahlreiche grammatikalische, historische, systematische oder teleologische Argumente. Innerhalb der Kategorien können die Argumentationsmuster jedoch zu kleineren Sinneinheiten zusammengefasst werden, insbesondere im Hinblick auf grammatikalische (Rn. 202 ff.) oder teleologische Argumente (Rn. 205 ff.). Stark diskutiert wurde in der Vergangenheit zudem die Rangfolge der Auslegungsmethoden zueinander (Rn. 210 f.). Insgesamt kann die Auslegung des EU-Rechts durch den Gerichtshof der EU als teleologisch-systematische Herangehensweise beschrieben werden (Rn. 212).
1. Sprachfassungsvergleichende Wortlautauslegung
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Die grammatikalische Auslegung durch den Gerichtshof der EU ist aufgrund der zahlreichen gleichrangigen Rechtstexte in verschiedenen Sprachfassungen höchst anspruchsvoll. Eine einsprachige Wortlautauslegung kann somit niemals der alleinige Ausgangspunkt der Interpretation sein. Vielmehr muss immer der Wortlaut aller authentischen Sprachfassungen interpretiert werden. Insofern erscheint eine Bezeichnung der grammatikalischen Auslegung als sprachfassungsvergleichende Wortlautauslegung inhaltlich treffender.
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Hierbei stellen sich dogmatische Herausforderungen. Divergieren die unterschiedlichen Sprachfassungen inhaltlich oder sprachlich voneinander, steht der Gerichtshof der EU bezüglich der Wortlautinterpretation vor einem dogmatischen Dilemma. Da alle Sprachfassungen gleichermaßen verbindlich sind, kann keiner Fassung nur aufgrund des Wortlautes ein Vorrang gegenüber den anderen eingeräumt werden. So können die rechtsprechenden Institutionen der EU weder der mehrheitlich noch der minderheitlich vorzufindenden Lesart folgen, da dies immer eine Auslegung gegen den Wortlaut der ebenfalls verbindlichen anderen Fassungen darstellen würde. Insofern kann die Wortlautauslegung in vielen Fällen nur als erstes Indiz für die Entscheidung dienen.
204
Darüber hinaus bietet die Wortlautinterpretation eine leicht zu übersehende Fehlinterpretationsmöglichkeit. So sind unionsrechtliche Rechtsbegriffe – wie auch die Begrifflichkeiten der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen – ausschließlich relativ auszulegen, also in dem Sinnzusammenhang und Kontext, in welchem sie verwendet werden. Dies bedeutet, dass juristische Fachtermini, die etwa in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen bereits über eine eingegrenzte oder gar eindeutige Semantik verfügen, im Unionsrecht nicht zwingend ebenso verstanden werden müssen, sondern unionsrechtlich autonom auszulegen sind (sog. Grundsatz der autonomen Begrifflichkeit des EU-Rechts).
2. Acte-clair-Theorie
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Für die Konstellation des eindeutigen Wortlautes hat sich im Völkerrecht der Grundsatz des in claris non fit interpretatio herausgebildet. Er besagt, dass der Wortlaut einer Norm immer dann verbindlich ist, wenn der natürliche oder gewöhnliche Sprachgebrauch eine unmissverständliche Bedeutung ergibt. Dieser Grundsatz wird auch als Acte-clair-Theorie, Acte-clair-Doktrin, plain oder ordinary meaning rule oder schlicht als acte clair bezeichnet. Prinzipiell wird dieser Grundsatz auch bei der Interpretation des Unionsrechts angewendet. So bezeichnen die rechtsprechenden Institutionen der EU den Wortlaut des EU-Rechts vielfach als eindeutig und urteilen dementsprechend. Allerdings wird für die Entscheidung einer Streitigkeit selten ausschließlich der Wortlaut einer Vorschrift als einziges juristisches Argument angeführt.
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Darüber hinaus bietet ein Fall des acte clair für die mitgliedstaatlichen Gerichte die Besonderheit, dass diese ausnahmsweise von ihrer grundsätzlichen Vorlageverpflichtung nach Art. 267 UAbs. 3 AEUV befreit sein können. Dies gilt jedoch nur unter besonderen Voraussetzungen, die in der Rechtsprechungswirklichkeit selten vorliegen. Diese Problematik wird in dem Begriff → Vorabentscheidungsverfahren näher dargestellt.
3. Implied-powers-Doktrin
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Die aus dem US-amerikanischen Rechtssystem stammende Implied-powers-Doktrin als besonderes teleologisches Argument wird in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der EU ebenfalls verwendet. Nach ihr sind die Kompetenzvorschriften völkerrechtlicher Verträge derart zu interpretieren, dass die ausdrücklich normierten Kompetenzen auch ungeschriebene Kompetenzen beinhalten können, wenn ohne diese die Wahrnehmung der explizit kodifizierten Kompetenzen nicht möglich wäre. Gerade die Implied-powers-Doktrin ist in besonderem Maße dazu geeignet, die Regelungskompetenz der Union auch für Bereiche anzunehmen, die nicht ausdrücklich geregelt wurden.
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Dieser Grundsatz weist Ähnlichkeiten zu den ungeschriebenen Gesetzgebungskompetenzen des Bundes gegenüber den Ländern in Deutschland auf. So sind auch in der Bundesrepublik nach Art. 70 Abs. 1 GG grundsätzlich die Länder zur Gesetzgebung befugt, soweit dem Bund ein Kompetenztitel nicht ausdrücklich durch das Grundgesetz verliehen wird. Gleichwohl wird angenommen, dass dem Bund eine Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusammenhangs, kraft Natur der Sache oder aufgrund einer Annexkompetenz zustehen kann.