Kitabı oku: «Courage. Im Schatten des Nanga Parbat 1934», sayfa 3
Die beeindruckende Nordansicht des Kangchendzönga-Massivs vom Ostgipfel des Jongsong Peak, © Pradeep Ch.Sahoo/The Himalayan Club.
Die abweisende Gletscherlandschaft des dritthöchsten Berges der Welt, Kangchendzönga
Memsahb sah nicht gerade wie eine Bergheldin aus: Sie war zierlich und adrett und schien eher für die Salons der Intellektuellen ihrer Heimatstadt Breslau als für die Härten einer Expedition gebaut zu sein. Als die Expedition vorüber war, sprach sie über ihre Freude, zu heißen Bädern und weichen Betten zurückzukehren. „Pudern konnte ich mich allerdings nicht, denn ich war einfach schwarz geworden – so dunklen Puder gibt es sicher gar nicht.“39 Hettie stammte aus einer bekannten Familie jüdischer Industrieller und war Meisterin im Damentennis. Sie scheute sich nicht, soziale Konventionen hinter sich zu lassen und die körperlichen Anforderungen und die Unbequemlichkeit einer Himalaya-Expedition auf sich zu nehmen. Dass sie drei junge Kinder zuhause zurückließ, um ihren Mann bei der Erfüllung seines Lebenstraums, dem Bergsteigen im Himalaya, zu begleiten, wurde von vielen argwöhnisch betrachtet. Aber es war erst nach der Expedition, als Memsahb erfuhr, wie negativ die Engländer ihre Teilnahme gesehen hatten. Smythe hatte mehrfach gewarnt, dass Frau Dyhrenfurth nur für Probleme sorgen würde. Als einzige Frau sei sie den Anforderungen des Expeditionslebens nicht gewachsen. Nach und nach belehrte sie ihn eines Besseren. Andere Expeditionsmitglieder hingegen respektierten sie sehr und profitierten von ihren großen organisatorischen Fähigkeiten, die sie selbst ihren alltäglich zu meisternden Aufgaben als Mutter und Hausfrau zuschrieb.40 Pallas zählte zu ihren stärksten Unterstützern; er fand sie warmherzig und fröhlich.
Hettie Dyhrenfurth
Von ihrem zweiten Basislager aus hatte die Expedition Zugang zu mehreren unbestiegenen Bergen, der höchste davon der Jongsong Peak (7483 m). Sein Gipfel war das Dreiländereck von Tibet, Nepal und Sikkim und wartete mit seinen eigenen Herausforderungen auf: starke Winde, Hängegletscher, Eiswände und weicher Schnee, in dem Bergsteiger wie Träger bis zum Bauch versanken. Der bevorstehende Monsun, missmutige Träger und zur Neige gehende Lebensmittel drängten zu einem schnellen Aufstieg. Während sie aufgrund tobender Stürme einige Nächte lang festsaß, hatte die führende Seilschaft Schneider, Hoerlin, Smythe und Wood-Johnson keinerlei Brennstoff mehr – nicht einmal, um Tee zu kochen. Sie ernährten sich von Schokolade und Plum-Pudding. Am 3. Juni riss der Himmel auf und die vier begannen den Gipfelaufstieg von Lager 3. Am Ende hatten nur Pallas und Erwin die Kraft, den höchsten Punkt zu erreichen. Es war der damals höchste bestiegene Berg der Welt.41
Die Fahnen von Schwaben und Tirol wehen 1930 auf dem bis dahin höchsten bestiegenen Berg der Welt.
Mein Vater schrieb später: „Es ist schwer, die Gefühle zu beschreiben, die uns beim Betreten des Gipfels erfüllten. Vorherrschend war zunächst sicher die Freude über den errungenen Sieg; bald überwog aber die Bewunderung der erhabensten Aussicht, die wir je gesehen haben. […] Nirgends waren wir dem Glauben der Bergvölker – ähnlich dem der alten Griechen und Römer – näher als hier: Auf den höchsten Bergen der Erde ist der Sitz der Gottheit.“42 Die beiden „Jungs aus Hall“ – mein 27 Jahre alter Vater aus Schwäbisch Hall und der 24-jährige Erwin Schneider aus Hall in Tirol – hissten die Flaggen ihrer jeweiligen Bundesländer auf dem Gipfel. Fünf Tage später begrüßten die Flaggen sechs weitere Expeditionsmitglieder, die ebenfalls den Gipfel bestiegen.43 Fünf Jahre später schrieb ein erfahrener Bergsteiger, der Nationalsozialist war, einen giftigen Brief, in dem er meinen Vater verunglimpfte, er habe nicht den „Mut“ gehabt, auf diesem Gipfel des Sieges die deutsche Flagge zu hissen.44 Die spaßige und freundschaftliche Geste von meinem Vater und Schneider war offenbar 1935 ein Schlag ins Gesicht des in Deutschland überhandnehmenden Nationalismus gewesen.
Schneider und Hoerlin müde nach ihrer Besteigung des Jongsong Peak
Im Basislager wurde Pallas’ und Erwins Erfolg mit einigen Runden Rum gefeiert. Die überglückliche Seilschaft plante sofort die Besteigung eines weiteren Gipfels, des Dodang Nyima (7150 m), der zwar etwas niedriger als der Jongsong Peak war, dafür aber technisch schwieriger.45 Nach zwei Tagen Erholung von der Besteigung des Jongsong Peak brachen sie zum Dodang auf und untermauerten damit ihren Ruf als „unersättliches“46 Paar mit „unerschöpflicher Energie“.47 Abermals kamen ihnen ihre ergänzenden Fähigkeiten zugute und ihre unterschiedlichen Stile hielten sich die Waage: Erwins Impulsivität und Beweglichkeit mit Hoerlins Bedächtigkeit und Beständigkeit. An einem kritischen Punkt, der Überkletterung eines schwierigen Überhangs, bemerkte Erwin „zu [des] Freundes seelischer Beruhigung“: „Pass auf, Pallas, gleich werde ich fliegen!“48 Der Moment der Anspannung ging vorüber, mein Vater hielt fest das Seil, mit dem er seinen Partner sicherte. Schneider „flog“ nicht, doch sowohl beim Auf- wie auch beim Abstieg wurden beide nur knapp von etlichen Lawinen verfehlt. Mit typischer Bescheidenheit, die niemandem etwas vormachte, spielte die erschöpfte Seilschaft nach der Rückkehr ins Basislager die Gefahr herunter und berichtete der versammelten Mannschaft von ihrem Erfolg. Mit Tee und Keksen wurden die beiden Bergsteiger gefeiert.
Es war Zeit für die Expedition, zusammenzupacken. Weil sie unbedingt noch ein weiteres Königreich besichtigen wollten, führte ihr Rückweg nach Darjeeling durch Sikkim. Als die Gruppe sich der Hauptstadt Gangtok näherte, wurden sie auf einem Aussichtspunkt von den Dienern des Maharadschas empfangen. Im Schlepptau hatten sie Rennpferde aus dem Reitstall des Herrschers, welche die Bergsteiger auf direktem und schnellem Weg in die Stadt hinabtrugen – ein Abenteuer, welches ihnen mehr Angst einjagte als das Abseilen von jeder Felswand. Am selben Abend bewirtete sie der Maharadscha mit einem üppigen Festmahl in seinem Palast. Es gab viel zu feiern: Pallas und Schneider hatten einen neuen Gipfelrekord aufgestellt. Hettie hatte den Höhenrekord für Frauen gebrochen. Und von den sieben Siebentausendern, die bis zu diesem Zeitpunkt bestiegen worden waren,49 waren allein drei auf das Konto der IHE gegangen. Die Expedition hatte einen bislang unkartierten Gletscher entdeckt und weitere interessante wissenschaftliche Entdeckungen gemacht. Ein weiteres Novum war die Fertigstellung des Films, „Himatschal – Thron der Götter“, der heute als historisch wichtige alpine und kulturelle Dokumentation gilt. Niemals zuvor war eine Kamera im Himalaya den Bergsteigern bis auf einen Gipfel gefolgt und hatte jeden ihrer Atemzüge und Schritte verfolgt.50 Zur damaligen Zeit wurde er ein Klassiker. Gleichzeitig hatte die Expedition auch negative Seiten: Es hatte ein Todesopfer gegeben, Fehler wurden gemacht und nicht alles war reibungslos verlaufen. Vor allem aber blieb der Kangchendzönga unbestiegen.
Smythe blickte mit besonders schlechten Gefühlen auf den Berg zurück: „Der Kangchendzönga ist mehr als unfreundlich; er ist durchdrungen von einem blinden, vernunftlosen Hass gegen Bergsteiger … er unterliegt keinem Gesetz … und zählt zu den gefährlichsten, verzweifeltesten Bergflanken der Welt.“ Seine Schwierigkeiten nahmen mit der Zeit nicht ab. Als der Leiter der erfolgreichen Everest-Erstbesteigung 1953, Sir John Hunt, gefragt wurde, „Was kommt als Nächstes?“, antwortete dieser: „Kangchendzönga … die technischen Probleme der Kletterei und die objektiven Gefahren sind nochmals eine Stufe höher als jene, denen wir am Everest begegneten.“ Zwei Jahre später und 25 Jahre nach dem Versuch der IHE wurde der Kantsch von einer britischen Expedition bestiegen. Aus Respekt vor dem Glauben der Einheimischen hielten die Bergsteiger einige Meter unterhalb des Gipfels an. Für diesen Moment waren die Götter besänftigt.
KAPITEL 3: IN DEN FUSSSTAPFEN VON HUMBOLDT
Als die Bergsteiger aus dem Himalaya zurückkehrten, wurden sie von Presse, Regierungsbeamten, den Freunden und Familien mit Lob und Auszeichnungen für ihre Erfolge überschüttet. Die Deutschen waren gebannt von der Gefahr und dem Glanz des Bergsteigens, ähnlich wie Amerikas Faszination für die Raumfahrt in den 1960er-Jahren. Mitten in wirtschaftlich harten Zeiten und den nachklingenden Folgen des Ersten Weltkriegs war das Land hungrig nach Helden. Nun hatte Deutschland sie gefunden. Über die Bergsteiger brach ein Wirbelwind von Interviews, öffentlichen Vorträgen und Auftritten herein. Gespannt wollten ihre Fans hören, wie es auf dem Gipfel der Welt (oder knapp darunter) gewesen war. Der Film „Himatschal“, der im März 1931 uraufgeführt wurde, war eine hochgepriesene Sensation und trug zum Rummel bei, als er in Deutschland, der Schweiz und Österreich die Kinosäle füllte. Der Film bot dem Publikum völlig neue Bilder von exotischen Kulturen, unfassbaren Höhen und monströsen Schnee- und Eisformationen. Die gefesselten Zuschauer fühlten sich, als hätten auch sie auf Himalayagipfeln gestanden. Der Deutsche und Oesterreichische Alpenverein war stolz auf seine drei Mitglieder – Hoerlin und Schneider, denen die Erstbesteigung des Jongsong Peak gelungen war, und Uli Wieland, dem die Zweitbesteigung glückte – und ehrte sie mit eigens angefertigten Ringen, auf deren Innenseite Jongsong, 1930 eingraviert war. Ich erinnere mich nicht, dass mein Vater jemals diesen oder einen anderen Ring getragen hat. Aber ich weiß, dass er die Auszeichnung in Ehren hielt. Jahre später, als mein erster Sohn heiratete, gab ich ihm die bescheidene Trophäe, die mit einem graugrünen Opal verziert war – eine Farbe, die an die Augen seines Großvaters erinnerte.
Auf der Rückreise hatten Hoerlin und Schneider einen Abstecher nach Ägypten unternommen, wo sie eine andere Art der Kletterei durchführten: Sie bestiegen die Pyramiden, die Tausende Jahre lang die höchsten Gebäude der Erde gewesen waren. Von dort reisten sie weiter nach Palästina und besuchten das Tote Meer, 394 Meter unter dem Meeresspiegel. Und nachdem sie in Venedig wieder europäischen Boden betreten hatten, machten sie auf dem Rückweg nach Deutschland noch einen Umweg und bestiegen als Zugabe noch den höchsten Berg der Schweiz, Monte Rosa, über seine gewaltige Ostwand. Mit 2400 Metern Höhe ist sie die höchste Bergflanke der Alpen, weshalb ihre Dimensionen bisweilen mit dem Himalaya verglichen werden.51 Pallas und Schneider, die zuvor auf einem der höchsten Punkte der Erde und einige Wochen später an einem der tiefsten gestanden hatten, fügten nun eine der höchsten Wände der Welt zu ihrer Liste herausragender Unternehmungen hinzu.
Nach all diesen Abenteuern war es Zeit für Hoerlin, sich anderen Aufgaben zu widmen. Er war gereift, sicherlich durch seine Reisen, aber auch durch den Mantel des Rekordhalters. In seinen Vorträgen über die Expedition, die bisweilen bis auf den letzten Platz ausverkauft waren, betonte er mehr die Schönheit der Berge als ihre bergsteigerische Leistung, und die Großartigkeit der Naturgewalten mehr als individuelle Heldentaten.52 Gleichzeitig sprach er über die Eigenschaften eines guten Bergsteigers – Verantwortungsbewusstsein, das Suchen von Herausforderungen und das Erreichen von Zielen. Diese Qualitäten wandte er nun auf eine ernsthafte Karriere als Physiker an und nahm sein Studium an der Technischen Universität Stuttgart wieder auf. Das sorglose Studentenleben wich der stetigen Arbeit an einem höheren akademischen Grad. Nun ja […] vielleicht blieb noch etwas Zeit für Kletter- und Skitouren mit alten Freunden.
Hoerlin trat dem wissenschaftlichen Labor seines Lieblingsprofessors aus Studententagen bei: Erich Regener, ein bekannter Experimentalphysiker. Im Gegensatz zur sprichwörtlichen Reserviertheit und Förmlichkeit deutscher Professoren der damaligen Zeit war Regener zugänglich und freundlich. Er und seine Frau luden Studenten in ihr Haus zum Abendessen oder zu sonntäglichen Wanderungen in den Hügeln der Umgebung ein, gemeinsam mit ihrem Sohn und ihrer Pflegetochter. Mein Vater wurde ein enger Freund dieser reizenden Familie.
Regener war einer der führenden deutschen Experten53 in einem besonders aufregenden Forschungsgebiet: kosmische Strahlung. Wissenschaftler in Amerika, der Schweiz, Holland, Österreich, Schweden und Deutschland wetteiferten darum, die Herkunft und Eigenschaften dieser hochenergetischen Teilchen zu erklären, die beim Durchdringen der Erdatmosphäre beobachtet wurden. Wo kamen sie her und wie wurden sie gebildet? Es war seit Jahrzehnten bekannt, dass Strahlung in der Luft existierte, Nach der Entdeckung der Radioaktivität 1895 glaubten die meisten Physiker, dass eine ähnliche Art Strahlung aus der Erde die vermutliche Quelle der kosmischen Strahlung sei – eine Hypothese, die bald widerlegt wurde. 1912 zeigte ein wissenschaftlicher Instrumentenballon, dass die Strahlung in 5000 Metern Höhe viermal stärker war als auf Meereshöhe, was eindeutig bewies, dass die Erde nicht die Quelle dieser Strahlung war. Ebenso wenig war es die Sonne – eine Schlussfolgerung, zu der man durch die Beobachtung gelangt war, dass die Strahlungsintensität während einer Sonnenfinsternis nicht nachließ.54
Erich Regener beaufsichtigt Höhenexperimente, ca. 1927.
©Wikipedia Creative Commons
Nach einer Flaute in der Forschung während des Ersten Weltkriegs wurde die Theorie von der Herkunft der Strahlung aus der Atmosphäre ebenfalls verworfen. Der amerikanische Physiker Robert A. Millikan,55 der den Begriff „kosmische Strahlung“ prägte, postulierte 1922, dass sie aus Teilchen aus dem Weltall bestünde. Darüber hinaus schloss er, dass sie die Erde mit genügend hoher Energie bombardierte, um Atome zu zertrümmern. Diese dramatische Erkenntnis erhöhte die Dringlichkeit eingehenderer Forschungsarbeiten und brachte weitere berühmte Physiker an den gemeinsamen Tisch. Zusammen mit Rutherfords Entdeckung des Atomkerns 1911 und dem Geheimnis, was ihn zusammenhielt, machte das Wesen der kosmischen Strahlung zunehmend deutlich, das es bislang ungeahnte Energiequellen gab. Obwohl es etliche Jahre dauerte, führten diese Erkenntnisse schließlich zum Atomzeitalter – einem Zeitalter, das sowohl durch nie dagewesene Schrecken und Zerstörung wie auch unangefochtene Fortschritte in Medizin und Technik gekennzeichnet war.
Die Zeit zwischen den Jahren 1927 und 1937 war eine Periode intensiver weltweiter Forschung, mit dem Ziel, das Wesen des Bombardements mit kosmischer Strahlung und seine Herkunft zu ergründen. Die Tatsache, dass die Strahlung aus dem Weltall kam und von der Erdatmosphäre absorbiert wurde, machte ihre Erforschung in großen Höhen unumgänglich – ein weiterer Anreiz für meinen Vater. Wie er es einmal ausdrückte: „Es war nutzlos, kosmische Strahlung im Labor zu studieren, also begannen Physiker die gesamte Welt zu bereisen. Ihre Ergebnisse waren widersprüchlich – eine goldene Gelegenheit für Physiker, noch mehr zu reisen.“56 In einem Forschungsfeld mit zahlreichen Nobelpreisträgern, das stark von Konkurrenz geprägt war, wurde über Regener und seine Arbeitsgruppe gesagt, sie hätten die Entwicklung und Konstruktion von Instrumenten zur Messung der Strahlungsintensität in verschiedenen Höhenlagen „… zu einem bislang nie dagewesenen Perfektionsgrad gebracht“57, und sie wurden für ihre „weitreichenden Experimente“58 weithin bewundert.
Kurz nachdem er 1931 sein Diplom erhalten hatte59, wurde mein Vater von Philipp Borchers60 kontaktiert. Er war einer jener Akademiker, welche ihre Forschungsinteressen mit der Liebe zum Bergsteigen verbanden. Als aktives Mitglied des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins war Borchers ein starker Befürworter der beiden Ziele des Vereins, den Alpinismus wie auch die Wissenschaft zu fördern und Expeditionen, die auf beiden Gebieten tätig waren, zu sponsern.61 Für Borchers war eine Expedition in die Anden, im Speziellen in die Cordillera Blanca in Nord-Peru, eine perfekte Gelegenheit, beides zu kombinieren.62 Ihre knapp südlich des Äquators gelegenen Gipfel formen die höchste und mit über 3400 Kilometern längste tropische Bergkette der Welt. Der höchste Berg der Kette und von ganz Peru ist der Huascarán, mit 6768 m knapp unter der Siebentausend-Meter-Marke. Von seinen beiden Gipfeln war der höhere noch niemals bestiegen worden. Borchers reichte einen überzeugenden Antrag beim Alpenverein ein, der im Einzelnen die Durchführung geologischer und glaziologischer Forschungen sowie die Vermessung und Kartierung der Region als Expeditionsziele aufführte. Und, wie Borchers ergänzte, „darüber hinaus stellt sich die Frage nach der Messung kosmischer Strahlung“.63
Anfangs war mein Vater noch vorsichtig, Borchers’ Einladung zur Expedition 1932 anzunehmen. Aber es wurde deutlich, dass sich die jeweiligen Pläne von Borchers, Regener und Hoerlin zum gegenseitigen Vorteil kombinieren ließen. Borchers suchte herausragende Bergsteiger für sein Team und wollte gleichzeitig wissenschaftliche Untersuchungen fördern. Regener hing an seinem emsigen Assistenten und sah eine Gelegenheit, die Erforschung der kosmischen Strahlung durch Beobachtungen in großen Höhen nahe dem Äquator vorwärtszubringen. Mein Vater stand gerade am Beginn seiner ernsthaften Karriere, die er nicht aufgeben wollte – und doch war da der Ruf der Berge. Südamerika war aus einem weiteren Grund besonders faszinierend für ihn: Einer der Helden seiner Kindheit, Alexander von Humboldt, war berühmt für seine Forschungsreisen auf diesem Kontinent. War dies eine Chance, in Humboldts wissenschaftliche und bergsteigerische Fußstapfen zu treten?
Die Zeit und die Umstände waren perfekt. Rund um die Welt wurde eine hitzige wissenschaftliche Debatte um das Wesen der kosmischen Strahlung geführt – bestand sie aus Photonen oder Protonen? Protonen, die Kerne der Wasserstoffatome, sind Teilchen mit positiver elektrischer Ladung und Grundbestandteile größerer Atomkerne. Im Gegensatz dazu sind Photonen im Wesentlichen Teilchen elektromagnetischer Strahlung, d. h. Licht, und tragen keine elektrische Ladung. Einer der führenden Physiker auf diesem Gebiet, Millikan, war ein tiefreligiöser Mann und argumentierte, kosmische Strahlen seien Photonen. Er beschrieb sie populär als „Geburtsschrei“ von Atomen und behauptete, sie wären von Gott ausgesandt, um der Zunahme der Entropie („Unordnung“) im Universum entgegenzuwirken. Diese Sicht wurde von anderen Wissenschaftlern in Frage gestellt, vor allem durch Millikans Landsmann Arthur Compton, ebenfalls ein Nobelpreisträger.64 Es war ein Kampf zwischen den Nobel-Giganten, der überdeutlich anhaltende Spannungen zwischen Religion und Wissenschaft illustrierte – Spannungen, die sich bis heute fortsetzen.
Die Antwort auf das Rätsel der kosmischen Strahlung lag im Verstehen der Auswirkungen des Erdmagnetfelds auf die Strahlung. Ein entscheidender Unterschied zwischen Photonen und Protonen ist, dass Letztere aufgrund ihrer elektrischen Ladung den Einfluss des Erdmagnetfelds spüren, während die ungeladenen Photonen dies nicht tun. Die wechselnde Stärke des Erdmagnetfelds in Abhängigkeit von der geografischen Breite bedeutet, dass sich in einem Fall die kosmische Strahlung auf den Äquator hinbewegen würde, im anderen Fall nicht. Zusammengefasst: Kosmische Strahlung würde sich nicht nur mit der Höhe unterschiedlich verhalten, wie zum Beispiel zwischen den Alpen und dem Bodensee (wo Regener Experimente durchführte), sondern auch mit der geografischen Breite – wie zwischen Stuttgart und Lima. 1932 waren drei unterschiedliche Forschungsgruppen auf der Suche nach dem Breiteneffekt: Compton mit seinem Team verteilte sich auf fünf Kontinente, Millikan bereiste den Polarkreis und schickte einen seiner Doktoranden nach Südamerika, und Regener schickte Hoerlin nach Peru.
Die fünfzehn Monate vor der Abreise der Expedition am 31. März 1932 mühte sich mein Vater mit der Anfertigung und Verbesserung der Ausrüstung ab. Er versuchte, sie widerstandsfähig genug gegenüber der langen Reise, der Hitze und Feuchtigkeit der Tropen, dem Transport auf Maultieren und Trägern und schließlich den verheerenden Höhenstürmen zu machen. Obwohl Borchers seine Forschungen ohne Einschränkungen unterstützte, ließ ihn die Ankunft des „Reisegepäcks“ meines Vaters am Bremer Hafen nach Luft schnappen: 550 Kilo an Ausrüstung, zwei Kubikmeter im Volumen. „Du hast wohl die Kaaba aus Mekka geraubt!“, rief Borchers aus.65
Während der fünfwöchigen Reise vertrieben sich die Bergsteiger – unter ihnen Pallas’ Kletterpartner Erwin Schneider – die Zeit, indem sie tagsüber Shuffleboard spielten (eine Art Curling auf dem Schiffsdeck) und abends Spanisch lernten. „Der Einzige, der von Anfang an wirklich intensiv arbeitete – war Hoerlin.“ Stundenlang nahm er im stickig heißen, von den Dieselabgasen der Motoren durchdrungenen Frachtraum des Schiffs Messungen vor, wo seine Instrumente installiert waren.66 Als das Schiff die Hitze und Feuchtigkeit des Panamakanals durchfuhr, wurden die Bedingungen an Bord unerträglich.
Bei der Fahrt durch den 77 Kilometer langen Kanal richtete sich die Aufmerksamkeit von jedem an Bord auf diesen überwältigenden Triumph der Ingenieurskunst. Ein kompliziertes System aus drei massiven Schleusen, von denen jede einzelne ein Schiff um gut 25 Meter anhob, erlaubte die Passage zwischen den großen Ozeanen Atlantik und Pazifik. Der Frachter erreichte den Pazifik Ende April, wo er bei Vollmond und unter einem sternenklaren Himmel von einem Schwarm Delfine wie von einer Eskorte begrüßt wurde. Der Zauber dieser Begrüßung der Gruppe in Südamerika verstärkte sich noch, als sie bei Sonnenaufgang die schneebedeckte Kette der Cordillera im Sonnenlicht erglühen sah. Schneider war so inspiriert von dem Anblick, dass er es „Gottes eigenes Land“ nannte – eine Bezeichnung, die er noch 35 Jahre später benutzte.67
Die Täler der Cordillera Blanca in den Anden
Die Verbindung zwischen Deutschland und Südamerika ist historisch gewachsen. Der deutsche Kosmopolit und die Inspiration meines Vaters, der Wissenschaftler, Forscher und Naturalist Alexander von Humboldt (1769–1859), hatte viele Jahre in Südamerika zugebracht. Wie sein schriftstellerisches Gegenüber, der Dichter und Freund Johann Wolfgang von Goethe, reichte Humboldts Berühmtheit über die Grenzen seiner Heimat hinaus. Unter seinen Bekannten und Bewunderern waren Napoleon, der venezolanische Unabhängigkeitskämpfer Simon Bolivar und der amerikanische Founding Father Thomas Jefferson. Humboldt legte die Grundlagen für die moderne Geografie und Meteorologie und war darüber hinaus ein Pionier bei der Erforschung des Erdmagnetfelds. Außerdem war er ein Bergsteiger, der 1802 am Chimborazo in Ecuador einen damaligen Höhenrekord von rund 5900 m aufstellte, auch wenn er den Gipfel nicht erreichte.68 Humboldts kleines Buch mit dem passenden Titel Über einen Versuch, den Gipfel des Chimborazo zu ersteigen69 hatte mein Vater mit 12 Jahren von seinem Vater geschenkt bekommen. Es begleitete Pallas auf seiner Reise nach Peru. Heute steht es in meinem Bücherregal, abgegriffen vom vielen Lesen meines Vaters, während er zweifellos davon träumte, Humboldts Spuren zu folgen. Zeit seines Lebens bewunderte Hoerlin, wie Humboldt seine Unternehmungen mit Beiträgen zur Wissenschaft verbunden hatte.70 Der Gedanke machte ihm besondere Freude, dass die Untersuchung der Effekte des Magnetismus in großen Höhen zwei bedeutende Vermächtnisse Humboldts kombinierte.
Alpamayo, der perfekte Berg
Spanische Übersetzungen von Humboldts Schriften gab es seit 1822 und sie halfen, seinen Ruf dauerhaft zu festigen. Weitere Beziehungen zwischen Deutschland und Südamerika wurden mit Handelsabkommen untermauert, mit deutschen Siedlungen und – überraschenderweise – mit zwei Sektionen des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins in Chile. Dank dieser starken Verbindungen erwarteten die Einheimischen mit Freude die Ankunft der Expedition von 1932 in Peru. Als die Gruppe am 2. Mai in der kleinen Hafenstadt Casma an Land ging, stellte die peruanische Regierung alle Zollformalitäten zurück und transportierte sie (samt Gepäck) zügig nach Huaraz, der Provinzhauptstadt. Ihre Ankunft wurde mit einem offiziellen Fest gefeiert, das bis zum frühen Morgen dauerte und an dem hohe Regierungsbeamte, der oberste Verwaltungsbeamte, der Bischof und Offiziere des Militärs teilnahmen. Auf das Fest folgte die ernüchternde Nachricht von Unruhen in Peru, die einen bevorstehenden anti-imperialistischen Aufstand ankündigten.71
Meinem Vater fiel auf, dass er bereits zum zweiten Mal in ein Land kam, das am Rand einer Revolution stand. Erst Indien, nun Peru. Während des folgenden Monats erkundete die Expedition die Cordillera Negra (eine der Cordillera Blanca vorgelagerte Bergkette) und das Land wirkte friedlich. Doch als sie Yungay ansteuerten, die Stadt, die als Ausgangsbasis für eine Besteigung des Nevado Huascarán dient, schallte immer wieder Gewehrfeuer durch die Vorberge. Am 13. Juli riegelte ein Aufstand von Reformisten Yungay ab, als die Expedition gerade dabei war, Träger, Pferde und Packesel für den Marsch zur Schneegrenze auszuwählen. Fast hätten sie ihre Pläne aufgeben müssen. Eine Order war ausgegeben worden, alle Lasttiere in der Region zu beschlagnahmen, was im Endeffekt die Expedition gelähmt hätte. Die Gruppe war sehr erleichtert, als ein Stellvertreter der Revolutionskräfte Borchers zuflüsterte, er könne die Order nicht ausführen, wenn die Tiere den Ort verließen. „Den Rat befolgten wir gerne“, meinte der Expeditionsleiter72 und machte sich geschwind mit seinen Bergsteigern, neun Trägern, sechs Pferden und sieben Packeseln auf den Weg.
Während der nächsten sechs Monate bestieg das Cordillera-Blanca-Team fünf Gipfel über 6000 Meter, 14 Gipfel zwischen 5000 und 6000 Metern, und erkundete viele weitere. Unter den erkundeten Gipfeln war auch der Alpamayo, das „Matterhorn der Anden“, eine beeindruckende Pyramide, die viele für den schönsten Berg der Welt halten.73
Die bedeutendste Besteigung war die des Nevado Huascarán, der nach einem Inkafürsten und rechtmäßigen Erben des Inkareichs benannt war. Der Berg weist zwei ausgeprägte Gipfel auf. Die umstrittene Besteigung des niedrigeren Nordgipfels durch die Amerikanerin Annie Peck 1908 führte zu einer bitteren Kontroverse um die Frage, ob sie oder ihre Rivalin, Fanny Bullock Workman, den Höhenrekord für Frauen hielt. Peck bestand auf den Titel, zumal sie behauptete, der Huascarán Norte sei höher als der von Bullock Workman 1906 bestiegene Pinnacle Peak (6930 m) im Himalaya.74 Der sehr öffentliche Disput war besonders unglücklich, da beide Frauen viele Gemeinsamkeiten hatten. Beide stammten aus wohlhabenden amerikanischen Familien, waren erfahrene Bergsteigerinnen und sprachen sich für das Wahlrecht von Frauen aus – was sie nicht selten zur Zielscheibe von Verachtung und Spott männlicher Bergsteiger machte.75 Um der Stichelei die Krone aufzusetzen, hatte sich Peck vor der Besteigung des Nevado Huascarán sogar einen Schnurrbart aufgemalt.