Kitabı oku: «Auf Gottes Wegen», sayfa 11
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Den nächsten Morgen wachten sie durch ein lautes, anhaltendes Dröhnen auf. Als sie ganz munter wurden, merkten sie, daß es die Kirchenglocken waren, die zum Kirchgang läuteten; beide hatten lang geschlafen; aber sie hatten auch bis gegen drei Uhr, also bis in den hellen Morgen hinein, gearbeitet.
Eins, zwei, drei war Kallem aus dem Bett und im Badezimmer nebenan, wo er sich mächtig abduschte. Dafür hatte der alte Doktor also doch Sinn gehabt! Und kaum war er halb angezogen, so lief er auch schon hinaus auf die Altane, zu der herrlichen Aussicht. Er rief Ragni zu, sie solle ebenfalls duschen und sich ankleiden und herauskommen; aber sie hatte schon gestern gemerkt, wie gräßlich kalt das Wasser war und lag nun mit großen, offenen Augen da und überlegte, ob sie mogeln oder es wirklich wagen solle. Sie zog es vor, zu mogeln und stand gleich darauf in einem allerliebsten Morgenkleid neben ihm. Aber wie unschuldsvoll sie ihn auch anblickte, und wie eifrig sie die wundervolle Aussicht, den köstlichen Tag rühmte – er vergaß die Dusche nicht. Sie hatte gestern feierlichst gelobt, sie gleich vom ersten Tag an zu nehmen; eben weil sie sich so leicht erkältete, sollte sie sich's zum täglichen Brot machen, und ganz besonders hier, wo Wärme und Kälte so schroff wechselten. Also —! Sie setzte ihr kläglichstes Frätzchen auf – sie versuchte, darüber wegzuscherzen; aber er deutete unbeirrt auf das Badezimmer. Wollte sie ihr Gelübde brechen? Wenn sie's ein erstes Mal tat, so tat sie's später noch oft. Sie küßte ihn und sagte, er sei ein Scheusal; er küßte sie, und sagte, sie sei ein süßes Ding. Aber die Dusche! Sie rannte hinein, streifte ihren Morgenrock ab, als wolle sie unter die Dusche gehen … Aber husch! lag sie wieder unter der Decke. Als er kam, zog sie die Decke über den Kopf. Da nahm er ohne weiteres Decke samt Inhalt und trug beides nach der Tür; und jetzt bat sie so rührend um Gnade, und das klang so verängstigt, daß er alles beides wieder zurücktrug. Sie schlang die Arme um ihn und zog ihn zu sich nieder; und vor ihren warmen Gliedern zerschellte alle Logik.
Die Glocken läuteten und läuteten. Wagen rollten vorüber, alle von der Stadt her. Kaum war der eine vorbei, so kam schon ein anderer. Die Tür stand offen. Sooft die Glocken nach ihren drei bekannten Schlägen aussetzten, hörte man im Zimmer das Surren der Fliegen, und von draußen die Vögel. Jetzt vernahmen sie auch von der Bucht her das Schnauben eines kleinen Dampfers; sie hatten ihn vorhin vom jenseitigen Ufer abstoßen sehen, vermutlich mit Ausflüglern an Bord. Irgendwo mußte ein Fest sein, zu dem die Leute strömten.
Von Südwest wehte eine leichte Brise, und bei jedem Windstoß füllte sich das Zimmer mit Wohlgeruch; es strömte förmlich von Bäumen und Wiesen herein. Zwischen dem Glockenklang flüsterte es und wisperte; die Luft war trunken.
Eine Weile später standen sie wieder auf der Altane und sahen die Leute zur Kirche gehen. Aber fortwährend zogen daneben mit Menschen vollgepfropfte Wagen an der Kirche vorüber und weiter. Der Dampfer war schon ganz nahe; da pfiff es auch von der Eisenbahn her. Beide verfolgten nun mit den Augen zwei Schwalben, die offenbar mit ihrem eigenen Schatten auf dem Sand vor der Veranda spielten. Über- und nebeneinandervorbei flogen sie – die Schatten auf dem Sand machten die Schwingungen nach; die Vögel waren bald ganz unten, dann wieder höher; wenn sie zu hoch geflogen waren und die Schatten verloren hatten, senkten sie sich wieder und suchten nach ihnen. "Nächstes Jahr", sagte sie flüsternd, "wollen wir Nistkästen anbringen!"
Sie kleideten sich völlig an, gingen hinunter und frühstückten. Sören Pedersen und seine Frau waren längst da und hatten längst gefrühstückt; sie waren schon in voller Tätigkeit.
Sie erfuhren jetzt, daß fast alle Leute in das benachbarte Kirchspiel fuhren, wo der Bezirkspfarrer Meek sein fünfzigjähriges Jubiläum feierte und zugleich seine Abschiedspredigt hielt. Seit heut früh seien schon die Fußgänger unterwegs; jetzt kämen die zu Wagen, und außerdem noch ein ganzes Schiff voll Menschen vom andern Ufer. Meek sei die ganzen fünfzig Jahre in einer und derselben Gemeinde gewesen – "ein ganz absonderlicher Mann". Kallem und Ragni frühstückten im Verandazimmer. Aber das Frühstück wurde unterbrochen. Es klopfte, und herein trat lächelnd, bescheiden, ein älterer hagerer Mann mit einer Hornbrille; es war Doktor Kent, der zeitweilige Leiter des Krankenhauses. Er kam eben von dort. Kallem und Ragni standen beide auf. Doktor Kent hatte eine angenehme, leise Stimme und ein ruhiges Lächeln bei allem, was er sagte. Er setzte sich etwas abseits, während sie weiter aßen, und machte einige kurze Angaben über die Kranken in der "Anstalt" und über den allgemeinen Gesundheitszustand in Stadt und Umgegend. Auf Befragen erteilte er bündigen Bescheid, welchen von den Beamten Kallem seine Aufwartung machen müsse, welches die Stadtverordneten, Gemeindevorsteher und Mitglieder des Amtsgerichts waren, deren Bekanntschaft wünschenswert sei. Selbst das rein Geschäftsmäßige klang freundlich in Doktor Kents Mund. Als sein leichter Einspänner vorfuhr – er hatte einen Krankenbesuch auf dem Lande zu machen – bat Kallem, er möge ihn mitnehmen; sofort war auch Ragni dabei, und so bestellten sie denn einen größeren Wagen und saßen bald alle drei darin. Als sie eben abfahren wollten, fiel Ragni ein, daß der Flügel leicht übergestimmt werden mußte, und sie fragte Sören Pedersen, ob er jemand wisse, der stimmen könne, wenigstens einmal fürs erste. Freilich – Kristen Larssen. So kam es, daß die Fahrt mit Mitteilungen über Kristen Larssen begann. Kent erzählte, er sei in einer der abgelegensten, elendesten Gemeinden aufgewachsen, und dereinst einer Lappalie wegen mit dem Gesetz in Konflikt geraten – Kent hatte eine schwache Erinnerung, als sei es geschehen, weil er einen Tanz, den er spielte, die "Vergebung der Sünden" betitelt hatte. Kristen Larssen sei Erfinder; eine jetzt ganz allgemein verbreitete Strickmaschine und verschiedenes Handwerksgeräte stammten von ihm. Er sei ein kalter Mensch – kalt, wie Eisen im Winter, und Sören Pedersen und seine Frau seien sein einziger Umgang. Was denn das eigentlich für Leutchen seien? – Ihre Antezedentien kenne er nicht; sie stamme aus hiesiger Gegend, er von Fünen. Beide tüchtig in der Arbeit; aber man habe bald gemerkt, daß sie tranken. Der Pastor hatte dem abzuhelfen versucht; er hatte sie liebgewonnen, während sie bei ihm in seinem Haus arbeiteten. Merkwürdigerweise glückte es; sie hörten nicht allein auf zu trinken, sondern Sören Pedersen wurde ein überaus eifriger Temperenzler und äußerst fromm; er konnte schließlich die ganze Bibel auswendig. Buchstäblich wahr – ganz auswendig! Er erzählte selber oft, daß es sein größtes Vergnügen sei, wenn Aase ihm zuhöre, und in kleineren Versammlungen trug er ganze Kapitel aus der Bibel aus dem Kopfe vor, während die Leute dabei saßen und nachlasen. Der Pastor meldete ihn in einer Bibelschule an, und er selbst hatte keinen höheren Wunsch, als dahin zu kommen; aber Aase mußte auch mit! Da man ihm hierin nicht willfahren konnte, verzichtete er auf die Bibelschule und wurde an allem irre.
So traf er mit dem Tausendkünstler Larssen zusammen, der sich gerade damals hier in der Stadt niederließ. Kristen Larssen hatte von Sören Pedersens Gabe zum Auswendiglernen gehört und versuchte, hinter den Mechanismus der Sache zu kommen. Aber da war keinerlei Mechanismus; "alles ist eine Gnadengabe Gottes; denn bei Gott ist kein Ding unmöglich."
"Das steht in Matthäus", antwortete Kristen Larssen; "aber im Buch der Richter steht, daß der Herr mit Juda war, aber Juda vermochte nicht den Feind aus dem Tal zu vertreiben, weil der Feind eiserne Wagen hatte!"
Der ehrliche Sören Pedersen erschrak aufs tiefste darüber, daß der Gott der Juden die eisernen Wagen nicht besiegen konnte. – "In einem und demselben Buch Mosis", fuhr Kristen Larssen fort, "steht ferner geschrieben: Du sollst nicht töten! – und gleichzeitig auch, daß der Herr unablässig gebot, zu töten. Also sind da Widersprüche."
Das war für Sören Pedersen etwas ganz Neues, trotzdem er die Bibel auswendig konnte. Er wollte wissen, wie das zusammenhänge, und verlangte nun in jeder religiösen Versammlung Auskunft darüber. Schließlich hatte er mindestens hundert Widersprüche herausgefunden, nach denen er fragte; es war nicht mehr auszuhalten. Die einen lachten sich halb krank, die anderen nahmen Ärgernis daran. Zuletzt wurden er und Aase von den Zusammenkünften ausgeschlossen. "Ich weiß nicht, ob ich es Ihnen erzählen darf" – sagte Doktor Kent – "aber Ihr Schwager hat Sören Pedersen und Frau Aase eigenhändig hinausgeworfen – zum Betsaal hinaus! Sie waren früher als die andern gekommen und wollten nicht gehen. Ihr Schwager ist sehr stark; aber Sören Pedersen behauptete sich, bis der Pastor auf den Gedanken kam, erst Aase vorzunehmen, und nun rissen sie sich um die Frau, als sei sie ein Stück Holz." Kallem und Ragni lachten ausgelassen. "Ich habe selber einen andern Zusammenstoß miterlebt", fuhr Doktor Kent fort. "Der Pastor hielt Prüfung ab in der Schule; ich gehöre zur Schulkommission. Sören Pedersen und Frau Aase waren auch da und allen ahnte Unheil. "Gott kann nicht lügen!" sagte unter anderem der Pastor. Da stand Sören Pedersen auf: "Es steht geschrieben: Siehe der Herr hat einen falschen Geist gegeben in aller dieser seiner Propheten Mund." Wieder wurde Sören Pedersen hinausbefördert."
Die Landschaft, durch die sie unter solchen schnurrigen Histörchen fuhren, war eine hochgelegene, frühlingshelle freie Ebene, unterbrochen von größeren oder kleineren Stücken Waldes, oder besser gesagt – eines Waldes, der von bebauten Feldern durchzogen war. Die Gehöfte stattlich, die Felder fruchtbar, der Weg führte in Windungen abwechselnd durch Wälder und Felder, über Hügel und Bäche. Steingehege, wo man's am wenigsten vermutete, und Wege und Stege die Kreuz und die Quer. Wer von den Prärien Amerikas und dem Flachland Mitteleuropas kam, den mußte all diese Unruhe in gute Laune versetzen. Derselbe flimmernde Sonnenschein wie gestern, der gleiche kräftige Duft von Wiese und Wald – und dazu eine Blumenpracht und ein Vogelsang! Da rief der Kuckuck!
Es war kurz vor Johannis mit seiner üppigen Flora. Ragni freute sich über den Reichtum ringsumher. Von allen Fächern war ihr Botanik das liebste, und der Gegensatz zwischen der Flora, die sie studiert hatte, und dieser hier interessierte sie lebhaft. Sie fragte, ob in vielen Gegenden Norwegens Berberitze und Akelei wild wüchsen? Doktor Kent meinte, sie müßten vor langer Zeit einmal eingeführt worden sein, vielleicht von den Mönchen aus dem Kloster drunten.
Als sie aus den Wiesen wieder in einen kleinen Streifen Wald, größtenteils Tannenwald, kamen, sah sie zum drittenmal Linnäa; da hielt es sie nicht länger im Wagen; alle drei stiegen aus.
Die Linnäa hatte eben angefangen ihre glockenförmigen lichtroten Blüten zu öffnen. Ragni und sie begannen sogleich miteinander zu wispern und zu tuscheln: ach, wenn sie nur einmal miteinander allein sein könnten! Sechs Jahre lang hatten sie sich nicht mehr gesehen – nein, sie war ja im Frühling abgereist – also sechseinhalb Jahre! Sie hob einige zu sich empor; und da entdeckte sie auch die Pyrola uniflora2 – einsam, mit wehmütig gesenktem Köpfchen. Kallem hatte gerade auch eine gefunden; sie fragte, wie sie auf norwegisch heiße. Er fragte Kent, ob man sie nicht den "Leuchter des heiligen Olaf" nenne. Er fragte wie ein Apotheker und erhielt Antwort wie aus einem Herbarium. Ragni verlor sich immer weiter von den beiden weg. Der Duft, der ihr aus dem Blütenkelch entgegenströmte, mahnte sie, weiter vorzudringen; die Blume war ja gesandt, um sie immer tiefer hineinzulocken. Tiefer hinein und ein bißchen weiter zurück – fort von den andern. Sie hörte sie plaudern; im Wald klingt jeder Laut so deutlich; sie hörte ein paar aufgescheuchte Vögel. Doch jetzt, nur ein Stückchen weiter weg, hörte sie bloß noch das Knistern ihrer eigenen Schritte auf dem Waldboden. Eine einzige kleine Sauerkleeblüte fand sie noch, einen kleinen Nachzügler. Verstimmt lugte sie aus ihren vielen kleeartigen Blättchen hervor; – ob sie wußte, daß sie ihre Genossen verloren hatte?
"Weiter, weiter!" sagten sie alle; ja, dort hinein lockten sie alle, die Linnäen und die heiligen Leuchter und der Sauerklee; bloß deswegen war der eine, letzte noch zurückgeblieben. Und jetzt war Ragni bei den Siebensternen3, die große Familienzusammenkunft abhielten. Alle warteten darauf, sie zu sehen; kein Fuß noch war hier geschritten in diesem Jahr. Ragni kniete zwischen ihnen nieder und erzählte, daß sie von weit, weit hergekommen sei – erzählte ohne Worte; die waren unter ihnen nicht nötig: Tür um Tür hatte sie aufgeschlossen, um in Norwegen einzudringen; kaum hatte sie die eine geöffnet, so lag dahinter eine andere … bis Ragni jetzt endlich zu ihnen kam. Gleich, als sie die Linnäa sah, wußte sie – jetzt stand sie vor der letzten Tür. Und hier war das Innerste. All das Große, Gefahrvolle draußen – vom Meer an – all das Mächtige und Böse, das Bunte und Geschäftige, all die Herrlichkeit und all die Schrecken,.. sie wiesen nur tiefer hier herein; hier herein müssen wir, um zu verstehen, weshalb nicht alles in tausend Stücke bricht. Ihr hier drinnen, ihr sitzt am Steuer.
"Auch wir haben auf Dich gewartet. Hier ist das innerste Geheimnis." – "Ach! Sagt es mir!" – "Gut sein!" – "Ach ja, ich glaube, das ist auch das einzige, wozu ich wirklich Anlage habe. Wenn nun aber die andern nicht – —?" – "Laß die andern sein, wie sie wollen. Du aber sei gut!"
Und sie verstand jetzt, denn sie war ja ins Innerste gedrungen. Sie verstand jetzt, was das Stärkste war. Die Sternblumen.
"Ragni!" rief Kallem aus weiter Ferne; der Wald hallte wieder von seiner klaren Stimme. "Ja!" – Ein paar von der Familie wollten gern mit; sie hob sie zu sich empor. Dann eilte sie wieder dem Wege zu. Am Waldrand stand eine Actaea4 – die stand dort, damit sie ihr den Weg ins Innere hätte weisen können, falls sie hier ausgestiegen wäre. Jetzt wollte sie mit. Und dicht am Weg stand ein Busch und darunter, wohlverborgen, eine ganze Gesellschaft Maiglöckchen; wo hatte sie nur ihre Augen gehabt? Sie wußten, woher sie kam; auch sie waren als Wachen ausgestellt, um ihr den Weg ins Innere zu zeigen. Sobald sie einander sahen, verstanden sie sich. Das ist so bei allen, die "von einem Stamme sind". Einige wollten mit.
"Ragni!" rief Kallem. "Ja, ja!" Und sie trat auf den Fahrweg hinaus. Jetzt sah sie, wie weit zurück sie war. Die beiden Männer standen am Wagen und unterhielten sich; sie waren ganz oben auf der Höhe. Die schlanke Gestalt Kallems und die kleine, schmächtige Figur des Doktors hoben sich scharf ab. Beide hatten alle Hände voll. Sie kam eilig heran und hörte schon von weitem Kallem Vortrag halten über einen jungen Sturmhut, den er in der Hand hielt und hin und herschwenkte; er gab, auf Deutsch, die begeisterten Worte eines deutschen Botanikers über diese prachtvolle Giftpflanze wieder, die er in Norwegen gefunden hatte. Doktor Kent überreichte ihr liebenswürdig eine Pelygala amara5; er wußte, daß ihr, die von Amerika kam, diese blaue Blume neu war. Sie bedankte sich herzlich. Sie stiegen in den Wagen und fingen gleich an, ihre Ausbeute zu ordnen. Die Herren baten Ragni, sich auszusuchen, was ihr gefiel. Sie kamen von einem kleinen Moor; Kent hatte die Blüte einer Moortanne im Knopfloch stecken; sie hatten überhaupt alles mitgenommen, sogar ein Schmerkraut. – "Das Raubtier!" sagte Ragni. Das wollte sie nicht haben; es sei auch so "schmierig"! – "Du bist doch in allem Ästhetiker!" bemerkte Kallem. Sie warf ihm einen gewürzten Blick zu, etwa wie der Duft ihrer Linnäen. "Ist Ihnen aufgefallen, daß wir ganz allein unterwegs sind?" fragte Doktor Kent. Er erzählte, alle Leute seien in der Kirche: der alte Meek halte heute, an seinem fünfzigjährigen Jubiläum, seine Abschiedspredigt. Mit zwanzig Jahren war er bei seinem Vater Vikar gewesen – wie das damals so Sitte war – und hatte nach ihm das Amt geerbt. Jetzt war er siebzig, und wollte mit seiner Enkelin eine Reise ins Ausland unternehmen! – "Also ein rüstiger Herr?" – "Ja, und lebt gesund. Immer unterwegs, und immer zu Fuß. Er war unser Zwischenhändler." – "Zwischenhändler?" – "Nun ja, jeder Bezirk hier hat so eine Art Vermittler zwischen Wissenschaft und Praxis. Ihm hat die Gemeinde viel von ihrem Wohlstande zu verdanken, und durch die eine Gemeinde auch die andern." – "Er ist also beliebt?" – "Er ist der beliebteste Mann weit und breit in der ganzen Umgegend." – "Wie ist er denn auf der Kanzel?" – "Na ja, er hat fünfzig Jahre lang von seiner Kanzel herunter Geschichtchen erzählt. Seinerzeit wurde viel darüber gespottet; manche fanden es auch profan; aber jetzt machen es ihm verschiedene nach." – "Was für Geschichten denn?" – Also – die letzte, die Kent gehört hatte, handelte von einer Frau in St. Louis in Amerika, die dreißig Jahre lang im Gefängnis gesessen hatte und trotz ihrer siebzig Jahre noch immer die unbotmäßigste Gefangene war. Da sollten die Gefangenen in ein anderes Haus überführt werden, dessen Vorsteherin Quäkerin war. Die Alte wollte sich nicht wegschaffen lassen; sie setzte sich aus Leibeskräften zur Wehr, so daß man sie binden und auf einem Stuhl forttragen mußte. Als sie mit ihr ankamen, stand die Leiterin des Gefängnisses in der Tür und nahm das rasende Weib in Empfang. "Bindet sie los!" sagte sie. – "Aber wird das auch gehen?" – "Bindet sie los!" Man tat es. Sobald die Alte frei war, beugte ihre neue Oberin sich über sie, umarmte sie und gab ihr einen Willkommenkuß, wie eine Schwester der Schwester. Da fiel die alte Frau auf die Knie und sagte: "Kannst Du wirklich glauben, daß an mir noch was Gutes ist?" Und von Stund an gehorchte sie ihr.
Jetzt stiegen Kallem und Kent aus; sie bogen in einen Bauernhof ein, der ein Stück oberhalb des Weges lag. Vor der Altane sprang ein großer schwarzer Hund auf; er sah den Wagen und bellte ihn an, aber bloß ein paarmal; dann lief er den beiden einige Schritte entgegen, beschnupperte sie, lief zurück und legte sich wieder.
Sonst war niemand zu sehen. Der Junge lenkte die Pferde um und fuhr ein bißchen zur Seite. Die beiden Ärzte gingen zu dem Kranken hinein, Ragni wanderte auf dem Hof auf und ab. Durch das Fenster sah sie einen Alten im Bett liegen; seine Frau saß neben ihm; sie sang mit zitteriger Stimme dem Kranken etwas vor und fuhr auch, als die Tür sich hinter ihr öffnete, ruhig fort.
Ragni sah sich auf dem Hof um; dann setzte sie sich auf die Scheunentreppe.
Nichts, was in uns alles so in Stille einwiegen könnte, wie ein ruhender Bauernhof! Nicht der Wald, denn irgendwo raschelt und raunt es da immer; man muß lauschen oder Umschau halten; nicht das Meer, selbst wenn es schweigt; völlig in Frieden ist es nie. Nicht die Wiese; denn da wimmelt es von Leben. Und so überall. Aber in einem abgeschlossenen Bauernhof —. Das Hühnervolk umpickt und umgackert dich so anheimelnd, der Hund liegt ganz still und die Katze geht ein paar Schritte, und bleibt stehen, und geht wieder ein paar Schritte; die Pflugschar lehnt neben der Egge, der Schleifstein ist trocken, die Wagen lassen die Deichsel hängen, die Gesindeglocke schweigt; alles, was sonst da lebt, ruht wie du; und was sich etwa noch regt, erhöht nur den Frieden. Das Schwein, das du ganz dort hinten wühlen siehst, ist nur mit sich selber beschäftigt; das Pferd, das kaut und die Fliegen wegwedelt, kennt nur sein eigenes Behagen; die Vögel, die kommen und dich grüßen, tragen dir die Sorglosigkeit zu, die in allem Frieden liegt.
Doch mitten in der Ruhe schoß in Ragni wieder die Angst auf, die sie seit der Begegnung mit Josefine verfolgte. War etwas in ihrem eigenen Gewissen, das sie anklagte? Nein, und tausendmal nein! Nicht einmal die Kinder ihrer Schwester? – Nein! Denn unter solchen Verhältnissen hätte sie nicht einmal denen etwas sein können. Also, was denn? Was hatte sie getan? Ihn geliebt. Weshalb sollte sie das nicht dürfen?
Die Stille war weg. Ragni ging hinter den Hofgebäuden herum, und da fand sie zwei Arten Orobus6, nicht weit voneinander – erst draußen auf der Wiese die Vogelerbse, und dann noch eine andere Art im Gebüsch; auf den Namen der letzteren konnte sie sich nicht besinnen. Als sie zurückging, fand sie einen prächtigen Hahnenkamm und eine dritte Art Veilchen; zwei hatten die andern ihr schon gegeben. War das eine Flora! Und da! Da wieder! Die entzückendste Veronica; o weh, die Krone fiel ab; aber da ist wieder eine; die hält. Später hörte sie, daß in dieser Gegend die spröde Blume auch "Männertreu" genannt wurde.
Und jetzt wieder auf den Hof. Durch die Fenster sah sie, wie Kallem, tief über den Kranken gebückt, dessen Brust behorchte. Bald darauf kam Kent heraus, neben ihm die alte Frau. Er schrie, so laut er konnte, aber sie schien trotzdem fast nichts zu verstehen. Jetzt stand Kallems hohe Gestalt in der Tür; er kam auf sie zu. Wie sie ihn liebte!
Nachmittags saßen sie zusammen in dem nach Südosten gelegenen Arbeitszimmer des Doktors. Bis auf die Bücher war jetzt alles in Ordnung. Sören Pedersen kam, begleitet von Aase, zur Eßzimmertür herein; er pfiffig, sie verschüchtert. Eben kämen der Herr Pastor und seine Frau durch den Garten.
Kallem sah, wie Ragni bleich wurde. In Gegenwart der beiden begnügte er sich damit, frischweg zu sagen: "Komm, Ragni!" und ging dann ins Verandazimmer und von dort auf den Korridor, um die Gäste zu empfangen.
Die Begrüßung war steif. Der Pastor bat, die ungelegene Besuchszeit zu entschuldigen; ihm passe es so am besten, da er gerade vom Abendgottesdienst komme. Sie hätten überhaupt bloß anfragen wollen, ob Schwager und Schwägerin nicht heute bei ihnen zu Abend essen wollten? Sonntags sei ja ein Geistlicher erst abends so recht sein eigener Herr. – Die Stimme hatte noch etwas von dem feierlichen Predigerton, und Gesicht und Wesen trugen einen Abglanz der Kirche. Josefine stand ganz still und sah sich im Zimmer um; und bald ging auch der Pastor dazu über.
Er fand es "zu gemütlich" hier! Der Flügel war ein "Prachtstück". Während sie ihn betrachteten, wandte sich Josefine zu Ragni; es waren die ersten Worte, die sie sprach: "Sie spielen ja so schön?" – "O— —" – n"Wollen Sie uns nicht etwas vorspielen?" Und der Pastor fügte hinzu: "Ach ja, bitte!"
Ragni sah ihren Mann an – wie ein Ertrinkender, der nach Hilfe ausschaut. "Ragni muß in Stimmung sein, um spielen zu können!" sagte er. "Natürlich – Sie werden müde sein!" entschuldigte der Pastor. Man setzte sich; Kallem und der Pastor einander gegenüber, Josefine ein bißchen abseits; Ragni blieb stehen.
"Natürlich – Ihr müßt beide müde sein!" fuhr der Pastor fort. "Die lange Reise – — und jetzt das ganze Einrichten hier! Wie ich von Doktor Kent höre, seid Ihr bald fertig?" – Ja. Sie hätten aber auch eine ganz ausgezeichnete Hilfe gehabt an Sören Pedersen und seiner Frau. Ragni fürchtete auf einmal, die beiden könnten noch im Eßzimmer sein und lief hinein; nein, sie waren fort. Auch im Zimmer des Doktors waren sie nicht.
Das Gesicht des Pastors hatte einen ganz eigenen väterlichen Ausdruck angenommen. "Wir haben Sören Pedersen und seine Frau für Euch nehmen müssen, weil sonst niemand zu haben war. Aber eigentlich müßte man solchen Leuten überhaupt keine Arbeit geben." – "So?" – "Tüchtige Arbeiter; aber sie vertrinken alles, was sie verdienen, und bleiben tagelang von der Arbeit weg, wie auch hier. Sie erregen großes Ärgernis in der Gemeinde." – "Alle Wetter!" Ragni strich dicht an Kallem vorbei und fuhr ihm leicht mit der Hand über den Kopf; sie tat, als wolle sie etwas vom Flügel holen. Der Pastor ließ sich durch den leichtfertigen Ton des Doktors nicht abschrecken. "Wir haben alles versucht bei den beiden, was wir nur konnten – sie trinkt geradeso wie er. Ihr würdet Euch wundern, wenn Ihr wüßtet, wie gut alle Leute gegen sie gewesen sind. Aber alles vergebens – ja, schlimmer als vergebens! Nun, ich will nicht näher auf die Sache eingehen." Und er blickte hinüber zu seiner Frau, die in ihrem enganschließenden Kleid dasaß, kraftvoll, undurchdringlich, aus einem Guß und tadellos vom Scheitel bis zur Sohle. Die Augen mit dem wohlgeschulten Blick, der alles sieht, ohne bestimmtes eigentliches "Sehen". Kallem wäre am liebsten aufgesprungen und hätte sie angeschrien. Aber Ragni stand, im Hintergrund, unbemerkt von den andern, ihm gerade gegenüber.
"Zu dumm," sagte er, "daß der alte Doktor ein Haus dicht neben das Krankenhaus gebaut hat. Daß man fremde Menschen immer so dicht auf dem Leibe haben muß!" – "Der Alte hat es für seinen Schwager gebaut. Und nun ist der auch tot." – "Ja, das hab' ich gehört. Wenn ich in der Lage wäre, noch mehr Geld in Häuser zu stecken, so würd' ich es kaufen, trotzdem ich keine Verwendung dafür habe." Josefine wandte sich kaum merkbar um, vermutlich um zu sehen, ob Ragni noch da war. "Ich glaube nicht, daß es zu verkaufen ist!" sagte sie. "Ich kenne die Erben." Eine Weile war es still.
Der Pastor schlug ein neues Thema an. Er hatte heut vormittag im "Morgenblatt" einen Artikel über die Unsicherheit der amerikanischen Verhältnisse im einzelnen und allgemeinen gelesen. Er sprach wie einer, der die Sache kennt, und wandte sich dabei stets an seine Frau. Wenn er einmal jemand anders ansah – wie eben Ragni, die ja aus Amerika kam – so war das nur vorübergehend; gleich wandte er sich wieder seiner Frau zu.
Pastor Tuft war ein recht stattlicher, hübscher Mann, besonders seit eine gewisse Behäbigkeit den knochigen Untergrund des Gesichts ausgefüllt hatte; die Stimme klang frisch, und die Melanchthonaugen strahlten warm in alles, was er sagte. Seine Worte und sein ganzes Auftreten hatten etwas Mildüberredendes; aber man fühlte hinter der Milde die Kraft!
Ganz unerwartet machte Josefine eine aufwärtsdeutende Bewegung mit dem Kopf. "Ja, natürlich, es ist Zeit, daß wir gehen!" sagte Tuft und stand auf. "Ich verschwatze mich immer. – Also, Ihr kommt mit, nicht?" Josefine stand auf, und ebenso Kallem. Aber der hatte auch noch eine Frau, die ihm Blicke zuwarf – graue – und sehr weiche. "Danke! Aber wir sind zu müde. Ein andermal!"
Damit geleiteten sie die beiden hinaus. Kallem trat dann ans Fenster und sah ihnen nach, wie sie hoch und stattlich davonschritten. Bald lag die Kirche hinter ihnen. Alle Vorübergehenden grüßten ehrerbietig. Als sie schon nicht mehr zu sehen waren, stand er noch da. Dann schlenderte er ein paarmal durchs Zimmer und schlug plötzlich einen Purzelbaum. "Du, hol mir doch Sören Pedersen und Frau Aase!" und gleich darauf war er draußen, um sie zu suchen. Aber sie waren nirgends zu finden. Sigrid berichtete, sie seien gleich gegangen, als Pastors erschienen. "Schockschwerenot! Pass' auf, jetzt trinken sie sich einen an! Lauf schnell und lade sie zum Nachtessen ein! Sag' ihnen, wir seien allein!" Das Mädchen rannte davon. "Laß nicht locker!" rief Kallem ihr nach. "Ob sie wollen oder nicht!"
"Hören Sie mal, Herr Sattlermeister!" sagte der Doktor, als die beiden wieder im Wohnzimmer standen, sie natürlich hinter ihm – "Hören Sie mal, der Herr Pastor sagt, Sie trinken, Sie und Ihre Frau, und er habe Sie nicht davon abbringen können?" – "Da sagt der Herr Pastor bloß, was wahr ist." – "Aber das ist eine böse Krankheit, Pedersen!" – "O ja – hinterher!" – "Wollen Sie es mir überlassen, Sie zu kurieren?" – "I, warum denn nicht, Herr Doktor! Aber im Ernst – es wird lange dauern." – "Zwei Minuten." – "Zwei Minuten?" Er lächelte. Aber bevor er ausgelächelt hatte, hatte Kallem ihn schon in der Gewalt seiner Augen, die einen mächtigen, verwirrenden Ausdruck haben konnten. Der Sattler wechselte die Farbe und wich zurück. Der Doktor ging ihm nach und hieß ihn sich setzen. Er gehorchte augenblicklich. "Sehen Sie mich an!" Aase wurde es fast übel. "Sie setzen sich ebenfalls!" sagte der Doktor über die Achsel zu ihr, und wie hingeweht saß sie auf einem Stuhl. Der Doktor hatte gestern sofort erkannt, wen er da vor sich hatte; es dauerte keine zwei Minuten, so war Sören Pedersen weg und ebenso Frau Aase, trotzdem diese nur zugesehen hatte. Der Doktor befahl ihnen, die Augen wieder zu öffnen; beide gehorchten sofort. "Nun hören Sie mich an, Pedersen: von jetzt ab hören Sie auf, Branntwein oder Spiritus in irgendwelcher Form zu trinken; auch keinen Wein, kein starkes Bier – einen – einen ganzen Monat lang! Hören Sie? Wenn der Monat vorbei ist – es ist jetzt halb sieben – so kommen Sie wieder hierher – auf die Minute!"
"Und Sie auch, Aase. So oft er trinken will, schreien Sie. Und hinterher singt Ihr beide." – "Wir können nicht singen." – "Einerlei? Ihr singt!"