Kitabı oku: «Reflexive Sinnlichkeit III: Lebenskunst und Lebenslust», sayfa 2

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Epikur lebte zurückgezogen in einem Garten bei Athen, der aber stets für alle unabhängig von Stand und Religion geöffnet war, die ihn besuchen oder/ und von ihm lernen und mit ihm dort leben wollten. Trotz seiner Betonung der Lust lebte er bescheiden und maßvoll, aber er teilte, was er hatte, mit jedem. Da er öffentliche Ämter verschmähte und das politische Leben mied, ließ man ihn in Ruhe. Wie leicht hätte er sonst wegen seiner Lehre wie Sokrates als Verführer der Jugend zum Tode verurteilt werden können! Dafür wurden dann aber die Epikuräer, die bei den Römern noch hohes Ansehen genossen, reichlich kritisiert, verfolgt und geschmäht, als das Christentum zur Staatsreligion geworden war. Es waren diese christlichen Kritiker, die nun die andere, die moralische Seite der Idee des »guten Lebens« besetzten, während auf der anderen Seite die Lust immer mehr als Sünde verdammt und der Körper immer mehr zu einem Ort innerer und äußerer Kasteiung wurde. Wo für das Christentum ein gutes Leben ein gottgefälliges Leben in der Perspektive einer Erlösung im kommenden Reich Gottes war, ging es den Epikuräern der Antike bis hin zu Seneca um bescheidenere Ziele als Erlösung, nämlich um

– Zufriedenheit durch maßvolle Bedürfnisbefriedigung,

– Gelassenheit im Umgang mit Schicksalsschlägen (Epikur wie Seneca wurden ins Exil getrieben) und im Ertragen von Schmerzen,

– Ausgleich der Interessen zwischen den Menschen und

– Pflege der Freundschaft, also der persönlichen Seite dessen, was wir heute Solidarität nennen, die in den Sklavengesellschaften der Antike noch nicht Thema werden konnte.

Was man von Epikur auf jeden Fall lernen sollte ist, dass ein gutes Leben stets ein sättigendes, vor allem lustvolles Leben sein muss, um ein befriedigendes Leben zu sein.

Gewiss muss man fragen, ob die Wertschätzung der Freundschaft bei den Epikuräern ausreicht, um das ganze Gewicht der sozialen Verantwortung und des Gemeinsinnes philosophisch zu tragen. Darauf antworten viele der Philosophen, die sich heute mit der Idee des guten Lebens befassen, mit dem Versuch, objektive, von individuellen Lebensentwürfen unabhängige Werte zu etablieren, die am Gemeinwohl orientiert sind und die ähnlich den Grundrechten situationsunabhängig Geltung haben.

■ Werfen wir also noch einen Blick auf den Stand der Frage nach dem guten Leben in unserer Gegenwart (H. Steifath, 1998) und schauen, ob und wieweit wir inzwischen über Epikurs einfache und vielfach geschmähte Lösung hinausgekommen sind. Zunächst ist die philosophische Entwicklung so verlaufen, dass die Idee des guten Lebens die strenge rationalistische Kritik der Aufklärung nicht überstanden hat. In einer strikten Trennung von Moral und Glück kristallisierte sich die von alters her bekannte, sprichwörtlich gewordene goldene Regel »Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg’ auch keinem anderen zu!« bei Kant zu seinem Kategorischem Imperativ, nach dem individuelles Handeln sich stets an der Maxime zu orientieren hat, dass es auch zum Maßstab der allgemeinen Gesetzgebung werden könnte. Umgekehrt wurde das Glück (»Glückseligkeit« bei Kant) von Kant nun aller Tugend beraubt und definiert als »die Befriedigung aller unserer Neigungen [sowohl extensive, der Mannigfaltigkeit derselben, als intensive, dem Grade, als auch protensive, der Dauer nach]« (I. Kant, 1998, 677) und wurde damit auf das rein Subjektive beschränkt. Hier ist der alte Spannungsbogen zerschlagen, nunmehr stehen sich Glück (als Lust) und Moral (als Pflicht) unversöhnlich gegenüber.

Nach diesem Kahlschlag, der dem Individuum zu seiner vollen und alleinigen Selbstbestimmung verhelfen sollte, gab es für lange Zeit nur noch die eher bemühten sozialphilosophisch-utilitaristischen Versuche, den Wert des egoistischen individuellen Glücksstrebens für das Gemeinwohl durch Tauschtheorien zu retten: Wenn alle ihren eigenen Interessen nachgingen, so würde im Austausch ihrer Güter und Handlungen eine »unsichtbare Hand« (Adam Smith) dafür sorgen, dass der Wohlstand und das Wohl der Allgemeinheit dabei vermehrt würde. Wie wenig dieser Optimismus noch berechtigt ist, wie sehr die »unsichtbare Hand« des Marktes statt das Glück eher das Elend zu mehren imstande ist, das hat zuletzt die Krise der globalisierten Finanzmärkte von 2007 gezeigt. Immerhin aber wird seit Kant die individuelle Selbstbestimmung als ein wichtiges Kriterium für das Glück des einzelnen angesehen.

Erst in jüngerer Zeit ist parallel zur Entwicklung der Grundrechte die Diskussion um das gute Leben wieder in die Philosophie zurückgekehrt. Dabei stehen sich zwei Lager gegenüber, die beide auf ihre Weise wieder versuchen, das Glücksmoment der individuellen Bedürfnisbefriedigung mit den Tugenden der Sorge um das Gemeinwohl zu versöhnen. Der kritische Subjektivismus versucht, ein Moment des Objektiven im rein subjektiven Glücksempfinden dadurch zu retten, dass er die Handlungsstrategien des Strebens nach Glück einer peniblen Kritik unterzieht. Die Gegenposition des Objektivismus sucht dagegen nach allgemeinen Werten, die neben den individuellen Interessen mit zu verwirklichen erst das gute Leben ausmache. Beiden Positionen geht es dabei natürlich nicht um das episodische Glück momentaner Stimmungen und Affekte, sondern um das Glück eines Lebens als Ganzes. Dennoch bleibt bei dieser Diskussion in der Regel offen, ob es um das gute Leben als einzige Möglichkeit geht, oder um ein gutes Leben, von dem es verschiedene Spielarten geben kann.

Die Positionen des kritischen Subjektivismus kommen meines Erachtens aus dem Dilemma des Gegensatzes zwischen Moral und Glück nicht wirklich heraus. Die objektivistischen Positionen dagegen haben natürlich immer das Problem, dass jede Auswahl der zu erstrebenden Werte schwer zu begründen ist. Man muss nicht gleich an die Probleme denken, die die Frage nach der moralischen Berechtigung eines Tyrannenmords aufwirft (die in ihrer neuesten Version als Frage nach der ethischen Berechtigung der Eliminierung von Terroristen durch Drohnen auftritt). Wie z. B. lässt sich die Forderung nach einer Mehrbesteuerung kinderloser Paare oder allein lebender Personen ethisch begründen? Gehört es zu einem guten Leben, Kinder zu bekommen und aufzuziehen, oder kann man auch als Kinderloser ein »gutes Leben« führen? (Weitere solcher Fragen werden von M. J. Sandel, 2008, behandelt.)

■ Die Gestalttherapie hat sich solchen philosophischen Fragen versagt und sich stattdessen an die Empirie der klinisch-psychologischen Erfahrung gehalten. Und da stellt sich heraus, dass es einen lustvollen Aspekt in der »Moral« gibt und einen moralischen Aspekt im Glück des Lustvollen. Man darf unter Moral allerdings nicht eine nur metaphysisch begründbare Pflicht verstehen, wie es Kant getan hat, sondern eine spontane Haltung des Mitgefühls, deren Bedeutung unter den Philosophen am meisten Spinoza und Schopenhauer betont haben und wie sie bekanntlich zentral in den Lehren des Buddhismus ist (Dalai Lama, P. Ekman, 2008), auf den sich Schopenhauer auch bezieht. Aber es bedarf hier gar nicht der Philosophie, denn dass das Geben beglückender ist als das Nehmen, das ist eine empirisch beobachtbare Tatsache, die jeder Mensch an sich selbst erfahren kann.

Eine ebenfalls beobachtbare Tatsache ist, dass derjenige, der mit seinem Leben zufrieden ist, weil viele seiner Bedürfnisse und Interessen befriedigt sind, dieses Lebensglück auch ausstrahlt und damit seine ganze Umgebung aufhellt. In dieser Hinsicht kann die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse auch ihr Gutes für andere Menschen haben. Gewiss, diese Ausstrahlung kann auch Neid auslösen, vor allem in Gesellschaften, die stark leistungsund erfolgsorientiert sind. In der Wirkung, die glückliche Menschen auf andere haben, erweist sich bei genauerem Hinsehen, ob ihr Lebensglück eher oberflächlich, illusionär und nur der Fortuna glücklicher Umstände zu verdanken ist. Denn auch das gehört ja zur Problematik des guten Lebens, dass das Glück illusionär sein kann. Oder ob ihr Glück auf der Sinnhaftigkeit von Zielsetzungen beruht und auf der Gelassenheit im Umgang mit Krisen und Scheitern. Ich vermute, dass es Unterschiede bei der Ausstrahlung gibt: Negative Gefühle wie Neid und Konkurrenz werden wohl eher beim ersteren Fall ausgelöst, während im zweiten Fall solche Menschen auch zu Vorbildern werden können, die zu mehr eigener Kreativität ermutigen: Lebensfreude kann auch ansteckend wirken.

Es ist hilfreich, neben den empirischen Erfahrungen der Psychotherapie auch den empirischen Ergebnissen der Sozialforschung Beachtung zu schenken, wenn es um die Frage geht, was Menschen glücklich macht. Eine solche Forschung gibt es inzwischen (eine erste Zusammenfassung findet sich bei A. Bellebaum, 2011) und ihre Ergebnisse fördern auch Überraschendes zutage. So gibt es z. B. kaum einen Zusammenhang zwischen dem Gefühl, glücklich zu sein, und dem Besitz von Geld oder Schönheit oder Gesundheit! In der Tat scheinen viele der sehr reichen Menschen ziemlich unglücklich zu sein. Aber da muss gefragt werden: Sind wirklich ihre Bedürfnisse und Interessen ganz und gar befriedigt, nur weil sie viel Geld haben? Einige gehen ihren Interessen dadurch nach, dass sie ihr Geld in Stiftungen geben und oft diese auch selbst leiten. Offenbar macht sie das glücklicher. Aber entscheidend ist hier die Erkenntnis, das Geld im Überfluss als solches eben nicht glücklich macht. Eine neuere Untersuchung in den USA fand heraus, dass die Grenze bei einem Jahreseinkommen von 60.000 Euro liegt – bis dahin macht jeder Anstieg des Einkommens glücklicher, danach geht es langsam bergab mit den wohlstandsbedingten Glücksgefühlen – eine überraschend niedrige Grenze, wenn man den Kampf um Boni und ähnliche Perversitäten in der Finanzwirtschaft beobachtet. Reichtum als solcher ist in sich kein als sinnvoll erlebbares Ziel. Das zeigt auch die sogenannte Reichtum-Studie (SPIEGEL-ONLINE, Wirtschaft, 7.9.2010). Die beste Quelle, wenn man fragt, was die empirische Wissenschaft bisher über die Faktoren herausgefunden hat, die ein langes Leben gelingen lassen, ist aber die sogenannte »Grant-Studie«. In dieser Langzeituntersuchung wurden zwei Kohorten von privilegierten und unterprivilegierten Männern 75 (!) Jahre lang in zweijährigen Abständen auf die Glücks- und Unglücksmomente in ihrem Leben hin untersucht. In einem Interview sagt der langjährige Leiter dieser Studie (G. E. Vaillant, 2013): »Reich zu sein ist kein Garant für Glück. Geld kann zweifellos Freude bereiten, doch an Reichtum gewöhnt man sich schnell. Dann wird er unbedeutend.«

Dass körperliche Schönheit ein sehr zwiespältiges Geschenk der Natur ist, belegen unzählige leidvolle und unglückliche Geschichten von schönen Menschen, die mit der Last der übergroßen Aufmerksamkeit, die ihnen oft schon in der Kindheit zuteil geworden ist, nicht umgehen konnten. Überraschend dagegen scheint die Aussage; dass auch Gesundheit für unser Lebensglück nur eine geringe Rolle spielen soll. Ich erkläre das vor allem damit, dass wir den gesunden Zustand unseres Körpers als den normalen erleben – der nicht vorhandene Schmerz wird nicht gespürt und leicht vergessen. Der gesunde Körper steht nur bei mehr oder weniger starken Lustgefühlen im Vordergrund unseres Erlebens – oder wenn wir ihm in erhöhtem Gewahrsein, etwa bei einer Meditation, besondere Aufmerksamkeit zukommen lassen. Im Übrigen steht dieses Ergebnis auch im Gegensatz zu dem hohen Stellenwert, die die Sorge um die Gesundheit in vielen Studien erreicht.

Darüber hinaus gibt es zwei eindeutige Ergebnisse der empirischen Glückforschung, die beide den in der Philosophie des guten Lebens aufgespannten Bogen zwischen subjektiv-individuellen Faktoren und objektiv an Werten orientierten Faktoren bestätigen: Offensichtlich ist die Art und Weise, wie Menschen die Welt erleben, ihre persönliche Sichtweise, wichtiger als die objektiven Umstände ihres Lebens. Das bestätigt auch die therapeutische Erfahrung, dass Veränderung, Linderung des Leidens also, oft schon durch einen bloßen Perspektivwechsel erreicht werden kann – entsprechend dem nach dem amerikanischen Soziologen William Issac Thomas benannten Thomas-Theorem: »Wenn Menschen eine Situation als real definieren, dann ist sie auch real in ihren Wirkungen«. Das andere wichtige Ergebnis der Glücksforschung ist die große Bedeutung, die die eigenen Lebensziele für die Erfahrung von Sinn und Glück im eigenen Leben besitzen.

■ Beides aber reicht noch nicht aus, um allein schon das Gefühl eines glücklichen Lebens zu vermitteln. Zweierlei muss noch hinzukommen: Zum einen der Blick auf die Gesamtheit des Lebens. Akzidentelle Glücksmomente versinken schnell in eine vergangenheits- und zukunftslose Gegenwart. Werden sie auf Dauer gesucht, so kommt es zu einer bloßen Aneinanderreihung solcher Momente, die früher oder später als schal erlebt wird. Ein hedonistisches Leben macht nicht glücklich. Gunter Sachs, dessen Lebensstil stets als Inbegriff des Hedonismus galt, war nichtsdestoweniger ständig mit Tätigkeiten als Fotograf, Astrologe, Kunstsammler und Finanzjongleur u. a. beschäftigt, um seinem Leben einen Sinn zu verleihen, und schied aus dem Leben, als ihm im Alter die Projekte ausgingen (vgl. SPIEGEL Nr. 15, 8.4.2013). Mit zunehmender Reife leben wir mehr und mehr auf ein als Ganzes erfahrbares Leben hin, das bei allem Auf und Ab des Erfolges und des Scheiterns insgesamt auf ein Gelingen angelegt ist. Darauf verweist ja eben der von manchen alternativ zum Begriff des guten Lebens verwendete Begriff eines gelingenden Lebens.

Zum anderen muss eine Erfahrung von Sinnhaftigkeit hinzukommen. Nur wird das, was wir als Sinn erleben, selten als Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens formulierbar sein. Diese Frage, die manchmal auch dem Therapeuten gestellt wird, ist letztlich nicht zu beantworten (und darf von diesem auch versuchsweise nicht beantwortet werden!). Dennoch gibt es ein klares Gefühl von Sinnhaftigkeit bestimmter Lebensvollzüge und zuweilen eben auch des ganzen Lebens, das sich einstellt, wenn es gelingt, das eigene Leben auf das Erreichen von Zielen auszurichten, die jenseits der eigenen Person liegen. Wenn sich dieses Gefühl paart mit dem Glücksgefühl der Befriedung der eigenen Bedürfnisse, dann kann wohl mit Recht von einem guten Leben gesprochen werden.

Der Philosoph Martin Seel hat als Kriterium für ein gutes, also befriedigtes, sinnhaft orientiertes, gelingendes Leben diese Formel vorgeschlagen: »Das gute Leben ist eines, das sich im Modus freier Weltbegegnung vollzieht.« (M. Seel, 1998, S. 280). Das könnte man auch als Fazit des Menschenbildes der Gestalttherapie so sagen. »Frei« hieße dabei sowohl selbstbestimmt als auch Spielräume für diese Selbstbestimmung gewährend, die natürlich häufig genug durch äußere Umstände oder innere Behinderungen eingeschränkt sind. »Weltbegegnung« kann man gestalttherapeutisch verstehen als den Kontakt zwischen Mensch und Umwelt, das heißt als den »sättigenden Prozess«, durch den sich jeder nährende, für das menschliche Wachstum notwendige Austauschprozess mit der Welt vollzieht. Und Begegnung ist dann in dieser Perspektive die Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit, zum »vollen Kontakt« zu gelangen, diesem vorübergehenden, aber sich potenziell in jedem Kontaktvorgang wiederholenden Zustand der Integration von Subjekt und Objekt im Verschmelzen von menschlichem Organismus und Umwelt am jeweiligen Punkt ihrer Berührung zu einer Einheit des Erlebens (vgl. S. 64/65).

■ Wir müssen nur noch das Kriterium des Gewahrseins hinzufügen, diese nur dem Menschen eigene Fähigkeit eines kognitiven Zustands des Bewusstseins der Leibhaftigkeit unserer Erfahrung von Welt, mit dem wir uns auf die »Kontaktgrenze«, den Berührungspunkt zwischen Subjekt und Objekt, konzentrieren können. Diesen Zustand werde ich im weiteren Verlauf meiner Überlegungen auch Bewusstheit oder reflexive Sinnlichkeit nennen. Das Gewahrsein ist in der Gestalttherapie, die von Friedrich und Lore Perls ursprünglich Konzentrationstherapie genannt wurde, das heilende Agens, das, was »gesund« macht. Dazu gehört auch,

dass, wenn diese »Weltbegegnung« mit erhöhtem Gewahrsein geschieht, wie von selbst ein eigentümliches Verantwortungsgefühl für die jeweilige Umwelt entsteht, eine Sorge für das Objekt unserer Begegnung, also insbesondere für unsere Mitmenschen, aus der längerfristig die Sinnhaftigkeit und Zielorientierung eines Lebens erwächst. So gesehen enthält das Menschenbild der Gestalttherapie in der Tat das Projekt eines guten Lebens, wie es eine jahrtausendealte philosophische Tradition vor und jenseits des Christentums im Abendland entwickelt hat.

Wie dieses Projekt im Einzelnen aussieht, soll nun im ersten Teil dieses Buches anhand ausgewählter Stichworte erläutert werden.

Teil I. Das Projekt eines guten Lebens

Ich glaube nicht genug an die Vernunft,

um an ein System zu glauben.

Was mich interessiert ist,

wie man leben soll.

Albert Camus

1. Sich in das Abenteuer des Lebens stürzen

To expect the unexpected shows

a thoroughly modern intellect.

Oscar Wilde

Dass unser Leben ein Abenteuer ist, soll zunächst einfach heißen: unser Leben ist ein Ereignis, das wir nicht geplant haben und das von einer Serie von schicksalhaften Ereignissen bestimmt wird, die immer wieder alle Lebensplanung durcheinander werfen. Die Zukunft bleibt stets ungewiss, sodass alle Sicherheit höchstens Wahrscheinlichkeitswert besitzt. »Der Mensch denkt und Gott lenkt« ist ein altes Sprichwort, das diese Erfahrung auf den Punkt bringt. In ihm steckt freilich noch der Hinweis auf ein vor-modernes Gottvertrauen, das Heil und Trost zu bringen versprach, zumindest aber etwas Halt inmitten der Lebensstürme bot. Diesem Versprechen noch zu glauben, wurde in der Moderne zunehmend schwieriger. Der Mensch der frühen Neuzeit wird immer mehr von Glaubenszweifeln gequält, die in den Reformationen des 16. Jahrhunderts ihren theologischen und sozialen Ausdruck fanden. Zugleich beginnt mit der Renaissance und dem Humanismus eine Rückbesinnung auf die dem Menschen eigenen Potenziale, die ungeheure Kräfte freisetzt: Vom 15. bis zum 18. Jahrhundert wird die Welt von Europa aus mit einem zuvor undenkbaren Elan und Eifer erkundet, besetzt und kolonisiert. Dieses »Zeitalter der Entdeckungen« ist geprägt von abenteuerlichen Reisen, die die politische und soziale Welt tiefgreifend verändert haben. Während aber in der Antike und im Mittelalter die Abenteuer des Lebens zumeist passiv als gottgewolltes oder teuflisch inszeniertes Schicksal erlitten wurden, entwickelt sich in der Neuzeit immer häufiger auch eine Haltung, in der das Abenteuer positiv gewertet und oft sogar ersehnt wird als notwendiger Bestandteil einer Suche nach individuellem Glück. Das ist bereits der Fall bei Parzivals Suche nach dem Gral, während die Reisen des Odysseus noch schiere Irrfahrten sind, die die Götter dem Helden schicksalhaft auferlegen.

Ähnliches gilt auch für die Abenteuer des Geistes in den Wissenschaften, die unser Weltbild wie auch unser Bild vom Menschen selbst vollständig verwandelt haben; mit Galileo und Kepler verlor die Erde ihren Status als Mittelpunkt des Universums; mit Darwin verlor der Mensch seine Rolle als Krone der Schöpfung; mit Freud verlor der Mensch seine vollständige Kontrolle über sich selbst. Seitdem haben die Atomphysik und die Quantenphysik unsere Vorstellung von der Substanzhaftigkeit der Erde aufgelöst, und jetzt stellen die Neurowissenschaften sogar unsere Willensfreiheit infrage und halten unser Ich-Bewusstsein für eine Illusion.

■ Nach dem inneren Halt des Gottvertrauens in einem theologischen Weltbild geht auch der Halt an dem äußeren Bild der Welt, wie es die klassischen Naturwissenschaften entworfen hatten, nun immer mehr verloren. Die These, dass das Leben ein Abenteuer sei, bekommt jetzt einen neuen Sinn: Es geht nicht mehr nur um unvorhersehbare Ereignisse und Bedrohungen, die es zu bewältigen gilt, und um das Bestehen von überraschenden Herausforderungen, sondern das Leben als ganzes erscheint von vornherein als ein Abenteuer, so als wären wir hineingeworfen in ein Leben, für das uns die Betriebsanleitung fehlt. Lange bevor der Existenzialismus des 20. Jahrhunderts von der »Geworfenheit« des Menschen in die Existenz sprach, hat der berühmte Mathematiker und Theologe des 17. Jahrhunderts Blaise Pascal diese verzweifelte Lage des modernen Menschen so beschrieben:

»Weder weiß ich, wer mich in die Welt setzte, noch was die Welt ist, noch was ich selbst bin. In einer furchtbaren Ungewissheit was meine Sinne sind, noch was meine Seele ist, und der Teil meines Ichs sogar, der in mir denkt, was ich sage, der über alles und über mich nachdenkt, kennt sich selbst nicht besser als das Übrige. Ich schaue diese grauenvollen Räume des Universums, die mich einschließen, und ich finde mich an einer Ecke dieses weiten Weltraums gefesselt, ohne dass ich wüsste, weshalb ich hier und nicht etwa dort bin, noch weshalb ich die wenige Zeit, die mir zum Leben gegeben ist, jetzt erhielt und zu keinem anderen Zeitpunkt der Ewigkeit, die vor mir war und nach mir sein wird. Ringsum sehe ich nichts als Unendlichkeiten, die mich wie ein Atom, wie einen Schatten umschließen, der nur einen Augenblick dauert ohne Wiederkehr. (P. Blaise 1956, 90).

Das scheint mir noch immer, und jetzt am Ende der Neuzeit erst recht, eine realistische Beschreibung unserer Situation. Für Pascal ergab sich die Erlösung aus dieser Situation nur aus der tragischen Religiosität eines credo quia absurdum est (Ich glaube, weil es absurd ist.). Obgleich ein solcher Glaube fast schon existenzialistisch anmutet, bleibt darin doch viel Platz für kirchlich vorgegebene Ordnungen und Wertsetzungen. Pascal jedenfalls führte ein so asketisches Leben, dass er seine ohnehin schwache Gesundheit damit vollends ruinierte. Diese Askese aber ist eine Negation des Körpers und kann deshalb niemals Bestandteil einer humanistischen Idee vom »guten Leben« sein.

Statt auf den Glauben setzt die Gestalttherapie dagegen immer auf die Erfahrung. Sie ermutigt den Menschen, das Abenteuer seines Lebens nicht bloß passiv zu erleiden, sondern es aktiv anzupacken und uns mit all unseren Sinnen in das Ungewisse zu stürzen und das, was wir dabei entdecken, mit kreativer Lust zu gestalten. Dabei setzt sie auf das Potenzial des Lebens, sich in schöpferischer Anpassung mit denjenigen Elementen der Umwelt zu identifizieren, die es zu seinem Wachstum braucht, und sich von denjenigen zu entfernen, die diesem Austauschprozess im Wege stehen.

■ Unsere erste und wohl auch letzte Erfahrung ist, dass wir am Leben sind. Deshalb steht in der Gestalttherapie das Bewusstsein zu atmen bei den sehr bedrohlichen psychosomatischen Störungen so sehr im Mittelpunkt. Vergegenwärtigen wir uns also: was wissen wir heute über die Frage: Was ist Leben? (Das Folgende stützt sich auf Formulierungen von F. Cramer, 1997). Leben ist Materie, die sich selbst reproduziert. Leben vermehrt sich so lange, wie die äußeren Bedingungen, vornehmlich die Nahrungsquellen, ausreichend und förderlich sind. Da die Bedingungen niemals nur günstig sind, stößt Leben immer auf Grenzen: »Das Lebendige explodiert und droht sich selbst zu ersticken.« (49) Leben muss sich an die sich ständig verändernde Umwelt anpassen. Deshalb entwickelt sich Leben, es evolviert durch eine Folge von erfolgreichen Mutationen, die die Anpassung an neue Umweltbedingungen gewährleisten. Leben ist bestimmt durch das Gesetz der Entropie, nach dem alle dynamischen Prozesse auf die Dauer einen Energieverlust erleiden; das heißt, alles Leben verschwindet wieder, stirbt ab. Die meisten Gattungen von Lebewesen, die die Natur hervorgebraucht hat, sind bereits ausgestorben; das gilt auch für die verschiedenen Menschengattungen vor dem homo sapiens, also uns.

Das individuelle Leben wird zeitlich strukturiert durch den Zyklus von Geburt, Wachstum, Siechtum und Tod. Schon rein biologisch ist also das Leben ein Abenteuer. Es ist eine »Bergbesteigung unter hohem Aufwand von Energie und Können mit einer anschließenden Gratwanderung … Mit Vorsicht, Intelligenz und bergsteigerischem Können (kann man) auf einem schmalen, unter Umständen gefährlichen Grat entlang wandern« – solange die aus der Umwelt bezogene Energie reicht (52). Leben ist also nicht im Gleichgewicht, es ist energetisch äußerst kostspielig und daher physikalisch unwahrscheinlich.

So einleuchtend und überzeugend die Klage von Pascal auch heute noch erscheint, so einseitig ist doch ihre Perspektive. Denn sie bezieht sich allein auf unsere unbestreitbare Unwissenheit. Er sagte nichts über die Kräfte und Begabungen, mit denen wir Menschen bereits auf die Welt kommen. Menschliches Leben verfügt über reiche Ressourcen der Orientierung in einer unbekannten Umwelt, welche Lebens- und Überlebenschancen enthält, die angesichts unserer Ignoranz höchst erstaunlich sind. Damit dieser Schatz zum Tragen kommen kann, muss allerdings das Überleben in den ersten Jahren nach der Geburt in einer sozialen Umgebung gewährleistet sein, die zugleich sicher und stimulierend ist. Menschen sind gemessen an vergleichbaren Säugetieren Frühgeburten, weil ihr mächtiger, das große Gehirn schützender Schädel eine spätere Geburt, für die der Geburtskanal zu eng wäre, unmöglich macht. Sie verbringen das sogenannte »extra-uterine Frühjahr« (A. Portmann, 1991) in vollkommener Abhängigkeit von den Eltern und nahen Bezugspersonen, was sie zugleich offen macht für ungewöhnlich frühe soziale Einflüsse – Anregungen wie Behinderungen.

Die Natur beziehungsweise die Evolution hat uns ausgestattet mit dem Neocortex, einer Gehirnregion, die uns rationales Denken, Planen und Abwägen ermöglicht. Der Neokortex ergänzt unseren Sinnesapparat, der zwar bei manchen Tieren im Einzelnen schärfer ausgebildet ist, aber ohne diese von unserem Gehirn ermöglichte Einheit der Sinne (H. Plessner, 1923) zu erreichen, aus der unsere hoch komplexe Weltsicht erwächst. Wir verfügen über ein evolutionär altes, aber zu erstaunlicher Differenzierung und Ausprägung fähiges emotionales Sensorium, das unsere kognitiven Kräfte motivational unterstützt. Und wir besitzen die Fähigkeit der Sprache, auch sie ist ein Wunder, das die Forschung bisher nicht wirklich entschlüsseln konnte. Diese Potenziale zusammengenommen machen die evolutionär neueste Ausgabe des Menschen, den homo sapiens, zu einem Lebewesen, dessen größte Bedrohung nunmehr die Zerstörung der ihn tragenden Umwelt durch seine eigene Überlebenskompetenz ist.

■ Das ist ein ganz anderes Bild des Menschen als das von Pascal entworfene, ohne dass dieses darum falsch wäre. Manche würden vielleicht an dieser Stelle sagen, dass es besser gewesen wäre, erst einmal die von Pascal aufgezählten Grundfragen zu klären, bevor sich die Menschheit in das Abenteuer einer Wissenschaft stürzte, in deren Folge sie ihren inneren Halt verloren und zugleich ihre eigene Umwelt vergiftet hat. Aber das wäre ein kurzsichtiger Blick: Es ist derselbe Prozess der wissenschaftlich-mathematischen Suche nach der Antwort auf diese Fragen, den Pascal und andere Denker des 16. und 17. Jahrhunderts angestoßen haben, der zu den Problemen unserer Gegenwart geführt hat. Nur haben sich die Prioritäten etwas verschoben: langsam – zu langsam! – schiebt sich die Umweltproblematik immer mehr in den Vordergrund, einfach weil es hier um unser aller Überleben geht.

Auf andere und neue Weise wird gegenwärtig deutlich, wie sehr das Leben ein Abenteuer ist: Indem wir unsere Fähigkeiten nutzend die vorgefundene Umwelt zur Befriedigung unserer Bedürfnisse umgestalten und uns verfügbar machen, greifen wir in die homöostatischen Rückkoppelungsprozesse der Natur ein und stören deren Systemzusammenhänge dergestalt, dass sie uns feindlich gegenüber tritt und unsere Sicherheit bedroht. Um Grundbedürfnisse wie Nahrung, Wärme, Gesundheit und Mobilität zu befriedigen, vergiften wir andere lebenswichtige Ressourcen der Umwelt wie die Luft, das Wasser, die Erde und die von ihr getragenen Biotope. Es zeigt sich, dass die Suche nach dem guten Leben, wenn sie allein im Dienst einer immer besseren Befriedigung unserer materiellen Bedürfnisse gestellt wird, umschlägt in das Gegenteil dessen, was sie erreichen wollte. Die Dialektik von Steigerung des Lebensstandards und Zerstörung der Umwelt hat sich überraschend als das Abenteuer der Moderne erwiesen.

■ Dieses Abenteuer ist offenbar dafür verantwortlich, dass wir heute in einer Gesellschaft leben, die geradezu besessen von Sicherheitsbedürfnissen und Sicherheitserwartungen ist. Nie zuvor in der Geschichte haben sich Menschen gegen so viele Risiken des Lebens versichern lassen und gleichzeitig ist nie zuvor ein derart großer Aufwand für Sicherheitsvorkehrungen getrieben worden. Die Angst vor Terrorismus hat zur Entwicklung digitaler Überwachungssysteme geführt, die auf die Dauer die Privatsphäre als solche zu zerstören drohen – schließlich stehen wir erst am Beginn der digitalen Revolution.

Dabei ist das Leben tatsächlich unvergleichlich viel sicherer geworden als es in vormodernen Zeiten war. Wie Steven Pinker in seiner großen Untersuchung zur Geschichte der Gewalt gezeigt hat (Pinker, 2011), ist die Chance, durch menschliche Gewalt oder durch einen Unfall zu Tode zu kommen, trotz der großen Kriege und Völkermorde des 20. Jahrhundert sehr viel geringer geworden, als sie noch im 19. Jahrhundert war. Trotz internationalem Terror, trotz schreckenerregender Unfälle bei der Großtechnik vom Untergang der Titanic bis zu Tschernobyl und Fukushima: Wir fahren täglich mit dem Auto und wir reisen in entfernte Gegenden (sofern uns nicht das Außenministerium davon abrät) weitgehend ohne Furcht vor Unfällen, Überfällen und Mordattacken. Die Selbstverständlichkeit unserer Mobilität ist das beste Indiz dafür, wie sicher wir uns tatsächlich fühlen.

Allerdings lässt sich dieses Sicherheitsgefühl nur durch die neurotische Verdrängung der großen Umweltgefahren aufrechterhalten. Nur so lässt sich der Widerspruch zwischen Risikobereitschaft beim Betrieb von Atomkraftwerken und vorläufigen »Endlagern« des anfallenden Atommülls und den zum Teil schon wahnhaften Sicherheitsbedürfnissen, z. B. beim Autobau oder im Haushalt, erklären. Diese haben auch etwas damit zu tun, dass uns die globalisierten Medien ständig die meist eher punktuelle Gewalt aus aller Welt vor Augen führen und wir uns in zahllosen Filmen Gewaltszenen anschauen, die uns teils mit schauderndem Warnen, teils mit voyeuristischem Blick im Detail vorgeführt werden. Auf jeden Fall erleben wir heute ein paradoxes Nebeneinander von Risikoverhalten und Risikovermeidung. Während im öffentlichen Bereich die staatlichen und wirtschaftlichen Systeme bei der Förderung und Benutzung von Großtechnologien gigantische Risiken auf sich nehmen, um die weltweiten Handelsketten in Fluss zu halten und die Profite zu sichern, wird der Bürger von Seiten eines paternalistischen Staates mit oft absurden Sicherheitsvorschriften gegängelt. Dabei sind dessen eigene Sicherheitsbedürfnisse schon reichlich genug ausgeprägt, wo nicht Gruppen von Jugendlichen und einzelne Extremsportler vorübergehend aus diesem subtilen Zwangssystem aussteigen.

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