Kitabı oku: «Greifswalder Gespenster», sayfa 2

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3

Sylke Bartel schob ihre Papiere zusammen und blickte den Anwesenden reihum in die Augen. »Vielen Dank, so viel für heute. Ihr wisst, das war unser letzter gemeinsamer Tag. Ich komme morgen Vormittag nochmal vorbei, um mich zu verabschieden. Philipp, kannst du noch einen Moment bleiben?«

Während die Kolleginnen und Kollegen der Greifswalder Polizei ihre Sachen einpackten, lehnte Sylke am Fensterbrett und nickte denjenigen zu, die den Schulungsraum verließen. Sie trug eine schwarze Stoffhose und eine meerblaue Bluse, hatte dieser eher gedeckten Kombination aber ein cremefarbenes Halstuch mit feinen, blutroten Streifen entgegengesetzt. Erst im Laufe des Tages war ihr aufgefallen, dass diese Farbgebung in einem Workshop, in dem es um die Aufklärung von Gewaltverbrechen ging, einen sonderbaren Eindruck erwecken konnte. Aber die jungen Kollegen schien es in dieser Hinsicht glücklicherweise an Interpretationslust zu fehlen.

Das Greifswalder Kriminalpolizeikommissariat hatte erst vor wenigen Monaten zusammen mit anderen Dienststellen das neue Polizeihauptgebäude in der Brinkstraße bezogen. Gänge, Wände, Böden – alles wirkte noch glatt und sauber, die modisch grünen Bauelemente erinnerten Sylke an Schulgebäude, die um jeden Preis hipp wirken wollten. Und dazu passte diese neu zusammengewürfelte Truppe aus Nachwuchskräften, die sich durch eine Kombination aus Übermotiviertheit, Naivität und Lässigkeit auszeichnete.

Sylke war sich in den letzten Tagen oft alt vorgekommen. Dabei war sie selbst auch noch gar nicht so lange bei der Kriminalpolizei. Offenbar waren die leitenden Kräfte der Meinung, dass ihre wechselvolle Karriere sie dafür qualifizierte, einen Haufen junger Leute in ein professionell arbeitendes Team zu verwandeln.

»Warum läuft es nicht, Philipp? Was denkst du?«

Der dunkelhaarige Mittdreißiger stand etwas verloren zwischen den u-förmig aufgestellten Tischen. Er war nicht groß, aber von kräftiger Statur, trug einen grauen Rollkragenpullover und einen Backenbart, der wohl seine Abenteuerlust hervorheben sollte. Seine linke Hand hatte er in die Tasche seiner Jeanshose eingehängt, die rechte fuchtelte ziellos in der Luft herum.

»Wir haben die Abläufe noch nicht verinnerlicht.«

»Welche Abläufe willst du denn noch verinnerlichen?«

»Na ja, Tatortuntersuchung, Zeugenbefragung, Gerichtsmedizin, Motivbewertung und dann die zirkuläre Struktur der …«

»Philipp, das ist doch alles Kinderkram. Die Arbeitsschritte kennt ihr. Wie konnte es trotzdem passieren, dass bei der Entführungslage die Überwachung der Ex-Frau des Verdächtigen vergessen wurde? Und warum habt ihr bei dem toten Obdachlosen im Stadtpark nicht gemerkt, dass es sich um eine Kopie des Falles von vor zwei Jahren handelte? Ich habe diese Übung einfach nur aus den Akten abgeschrieben.«

Während Sylke auf den jungen Polizisten einredete, hatte dieser nach seinem Mantel gegriffen und einen Apfel aus der Tasche gezogen. Es war Sylke schon mehrfach aufgefallen, dass Philipp in schwierigen Situationen Obst aß. Sie fand das einigermaßen kurios und hatte ihm insgeheim den Decknamen Fruchtzwerg gegeben. Kauend unternahm der Fruchtzwerg jetzt halbherzige Rechtfertigungsversuche. »Wir hätten das besser strukturieren müssen.«

»Ihr hättet miteinander reden müssen! Kommunikation ist alles.«

»Aber wir haben doch die täglichen Briefings angesetzt.«

»Lisa hatte gute Ideen, das hast du gar nicht mitbekommen. Du musst auch auf die hören, die nicht lautstark losquatschen. Ich hätte nicht gedacht, dass das so schwierig ist. Aber das scheinbar Einfache ist in Wirklichkeit wohl oft das Komplizierte.«

Philipp strich sich mit der freien Hand durch die Haare. »Ja, wir haben hier einige Defizite. Das sehe ich auch so. Die Kollegen …«

»Schieb es nicht auf die Kollegen«, unterbrach Sylke ihn. »Wenn du Dienstgruppenleiter werden willst, dann du bist dafür verantwortlich, dass jede und jeder sich mitteilt. Und dass alle die Zusammenhänge kennen. Ich hatte heute zeitweise das Gefühl, dass fünf Tage Schulung komplett an euch vorbeigegangen sind.«

Philipp verzog den Mund, bevor er grimmig in seinen Apfel biss. Es war Sylke nicht klar, ob er damit seine Verachtung für die Workshopleiterin oder Selbstkritik ausdrücken wollte. War sie zu streng? Überspielte sie mit ihrer Härte ihre eigene Ratlosigkeit? Während sie noch grübelte und Philipp versuchte, seinen halblangen Wollmantel überzuziehen, ohne ihn mit dem angebissenen Apfel zu berühren, öffnete sich die Tür. Eine uniformierte Kollegin steckte ihren Lockenkopf in den Seminarraum. »Entschuldigung, da ist gerade ein Anruf aus Wolgast gekommen. Die wollen wissen, ob das Team hier schon einsatzbereit ist.« Sie blickte zwischen Philipp und Sylke hin und her, wartete aber keine Antwort ab. »Da draußen wurde irgendwo eine Leiche gefunden.«

Obwohl er sich mit seinem Mantel regelrecht gefesselt hatte, schaffte es Philipp, sich an der Schläfe zu kratzen. »Damit erwischen die uns jetzt gerade auf dem ganz falschen Fuß. Ich würde sagen …«

»Das Team ist bereit und übernimmt die Sache«, sagte Sylke trocken. »Legen Sie alle Anrufe auf die bekannte Nummer um und leiten Sie alle Infos unverzüglich weiter.«

Die Sachbearbeiterin nickte und zog sich zurück. Philipp drehte sich verwirrt zu Sylke um. »Es ist doch noch gar nichts organisiert.«

»Dann tust du das jetzt. Das ist deine Chance. Ein perfekter Einstieg.«

Er schluckte und sah sie mit einem Kleine-Jungen-Blick an. »Und was machst du?«

»Meine Zeit hier ist zu Ende.« Sie kostete die lange Pause aus, die sie ihren Worten folgen ließ. »Aber wenn du willst, fahre ich noch mit raus zum Fundort der Leiche und unterstütze euch.«

4

Eine Gruppe Spaziergänger, drei Jugendliche mit Fahrrädern, eine Mutter und zwei Kinder im Grundschulalter – sie alle standen am hoheitlichen Flatterband und starrten einen Hang hinunter auf die von Bäumen bestandene Niederung. Zwischen den Büschen hindurch waren im Dämmerlicht des beginnenden Abends die Umrisse eines Körpers zu erkennen, ein korpulenter Mann im durchnässten Mantel, auf dem Bauch liegend. Einen halben Meter neben dem Toten plätscherte der Bach, als wäre nichts geschehen. Oder als wäre das, was geschehen war, im Lauf der Dinge nicht von Bedeutung.

»Seid ihr denn bescheuert!?«, rief Sylke den beiden Beamten zu, die zuerst am Fundort angekommen waren und sich um die Absperrung gekümmert hatten. »Sollen die Kinder wirklich direkt auf den Toten starren?«

Die beiden Uniformierten beeilten sich, die Schaulustigen wegzuscheuchen, und versetzten die Absperrung zwanzig Meter hangaufwärts. Sylke wusste, dass ihr Auftreten mitunter als barsch empfunden wurde, aber sie hatte kein Problem damit. Es war ihr wichtig, gleich im ersten Moment zu zeigen, dass sie von allen die volle Leistung erwartete. Philipp und Lisa, die beiden jungen Kriminalbeamten, sahen sich schuldbewusst an. Die Sache mit der Absperrung hätte ihnen ja auch auffallen können. Gemeinsam stiegen die beiden die feuchte Wiese hinab und beugten sich für eine erste Sichtung über den Toten. Lisa deutete auf eine Stelle am Hinterkopf, während Philipp vorsichtig den Mantelkragen anhob, um das Gesicht erkennen zu können.

Mit Unbehagen sah Sylke den beiden von etwas weiter oberhalb zu. Sie wusste nicht, warum sie plötzlich in einer miserablen Stimmung war. Der erste kleine Fehler – und schon traute sie den beiden nicht zu, diesen Fall zu lösen. Oder war sie nur enttäuscht, dass sie selbst morgen wieder abreisen würde, um ihren Dienst in Stralsund aufzunehmen?

Vom nächsten Dorf näherte sich ein betagtes Feuerwehrauto. Es wurde höchste Zeit, sie brauchten Licht, bevor es ganz dunkel wurde. Wenigstens das klappte.

Sie atmete tief ein. Die Luft war klar und frisch, gar nicht so nebelschwer wie in Greifswald. Als sie gerade den Hang hinabsteigen wollte, um sich ebenfalls ein Bild von der Situation zu machen, bemerkte sie etwas weiter bachaufwärts eine Bewegung. Sie suchte nach einem Durchlass im dichten Gebüsch, rutschte dabei aus und glitt auf dem Hosenboden zwei Meter abwärts. Fluchend schlug sie sich durch einen widerspenstigen Strauch und stand vor einem Mann, der sich an einem Stapel aus Ästen zu schaffen machte.

»Hey, was machen Sie denn hier!?«

Der Mann drehte sich um. Er war etwa fünfzig Jahre alt, untersetzt und steckte in einem olivgrünen Parka, der schon bessere Tage gesehen hatte. Er hatte ein rundliches Gesicht mit hängenden Wangen und kleinen, munteren Augen. An seiner Stirn klebten Strähnen seines dünnen Haars. Besonders intelligent sah er nicht aus.

»Ich repariere den Damm.«

»Hier ist möglicherweise ein Verbrechen passiert. Sie werden hier auf der Stelle verschwinden!«

Wieder dieser grobe Tonfall. Dieses Riesenbaby machte sie wirklich sprachlos. Hatte der denn gar nichts mitbekommen?

»Ich bin hier Naturschutzwart. Es ist mein Recht, den Biberdamm zu reparieren.«

»Sie haben im Augenblick überhaupt kein Recht. Zu gar nichts.«

Der Dicke sah sie erstaunt an. »Verdächtigen Sie etwa die Biber?«

Sylke war nicht klar, ob der Mann begriffsstutzig war oder über einen besonders merkwürdigen Humor verfügte. »Im Augenblick verdächtigen wir jeden. Absolut jeden. Von mir aus auch die Biber.« Der Dicke schien eine Spur blasser geworden zu sein. Er zog sich von dem Aststapel zurück. Sylke bemerkte jetzt, dass sich der Stapel tatsächlich fortsetzte und quer über den gesamten Bachlauf erstreckte. Es war ein nach allen Regeln der Kunst errichteter Damm: getragen von einem Gerüst aus Hölzern, das mit Lehm abgedichtet worden war. Solide Ingenieurskunst, ausgeführt von scheinbar tollpatschigen Nagetieren, die vermutlich nicht einmal ein halbes Semester Statik studiert hatten. Etwa zwei Meter vom Ufer entfernt hatte jemand eine Kerbe in den Staudamm geschlagen.

Einer beiden Streifenpolizisten brach geräuschvoll durchs Unterholz. Er hatte wohl von oben die lautstarke Diskussion mitbekommen.

»Das ist … äh … Herr Pölzner, unten aus dem Dorf. Er hat die Leiche gefunden.«

Sylke sah den Kollegen entgeistert an. Wieso hatte der nicht gleich bei ihrem Eintreffen … Ihre Missstimmung bekam neue Nahrung. »Das wird jetzt aber höchste Zeit, dass Sie das mal erwähnen!« Sie wandte sich Pölzner zu. »Kommen Sie doch bitte mal mit mir an die Seite.«

Der Dicke trennte sich nur ungern vom beschädigten Biberdamm. Gerade, als sie den Abhang hinaufstiegen, knallte ihnen gleißendes Licht in die Augen. Zwei Strahler auf Teleskopstangen verwandelten die gesamte Szenerie in eine Bühne, auf der ein Dutzend Personen ihre Rolle spielte, scheinbar routiniert, auf jeden Fall gefasst und mit Konzentration. Auch die Matschflecken auf Sylkes Hose waren nun gut zu erkennen. Ein Dornenzweig hatte zudem einen Riss am Oberschenkel erzeugt. Sie versuchte, ihren Ärger abzuschütteln, aber sie hatte das Gefühl, dass es nicht mehr lange gut gehen würde.

Oberhalb der Fundstelle trafen sie auf Philipp. Sylke erklärte ihm kurz, wer Pölzner war. Sie kaperten einen gerade eintreffenden Polizeibus für eine erste Befragung. Sylke wies Pölzner an einzusteigen und schloss die Tür, sodass der Zeuge nicht hören konnte, was sie mit Philipp draußen besprach. »Wie sieht es bei der Leiche aus?«

Philipp wirkte angespannt. »Massive Gewalteinwirkung am Hinterkopf. Stumpfer Gegenstand. Ob das tödlich war, weiß ich nicht, aber er hat auch Schlammspritzer im Gesicht. Vielleicht gab es einen Kampf. Auf jeden Fall müssen wir von einem Tötungsdelikt ausgehen. Wir sollten einen Fußabdruck vom Zeugen nehmen, um zu sehen, welche Fußspuren außer seinen noch zu finden sind.«

»Gut«, sagte Sylke zum Erstaunen des jungen Kollegen. Dann schob sie ihn in den Polizeibus und nahm neben ihm Platz. Pölzner beobachtete mit zusammengepressten Lippen, wie Philipp Schreibblock und Aufnahmegerät zurechtlegte. Er arbeitete den üblichen Fragenkatalog ab. Pölzner hatte die Leiche bei einem Kontrollgang gegen 16:30 Uhr entdeckt und die Polizei benachrichtigt. Er hatte den Toten nicht berührt, weil er sich sofort sicher gewesen war, dass da nichts mehr zu machen war. Aber er hatte ihn erkannt: Es handelte sich um Dr. Roland Krohnhorst, einen pensionierten Regierungsrat, der in der Gegend Jagdpächter war.

»In welchem Verhältnis standen Sie zu dem Toten?«, fragte Philipp. Der Naturschutzwart zögerte einen Moment. »Verhältnis? Ich hab den nur flüchtig gekannt. Wir trafen uns gelegentlich hier draußen.«

»Sie sind doch sicher oft hier?«

»Ja, schon. Wir vom Heimatverein kümmern uns ja um das Gebiet. Die Biber breiten sich hier im ganzen Tal aus. Überall bauen sie Staudämme, es entstehen große Seen. Und dann …«

»Der Herr Krohnhorst, war der auch so begeistert von den Bibern?«

Pölzner lachte verlegen. »Na ja, die Biber sind jetzt nicht gerade sein größtes Hobby – gewesen. Aber er musste natürlich auch einsehen, dass sie hier vieles verbessern: Wir haben, seit die Biber da sind, mehr Fische und Insekten. Es gibt hier Prachtlibellen, die waren früher nie hier, wir haben sogar die Europäische Seekanne beobachtet, die steht auf der Roten Liste und …«

»Ja, interessant«, unterbrach Philipp ihn. »Noch mal zu Dr. Krohnhorst: Gab es da Konflikte wegen der Biber?«

»Wie … äh … was für Konflikte?«

»Na ja, diese ganzen Stauseen, das verändert ja die Landschaft. Man kommt nicht mehr so gut durch.«

»Gut, ja, das fand er wohl nicht so toll. Etwas weiter oben steht tatsächlich ein Ansitz unter Wasser. Aber die Tiere sind hier geschützt, da gibt es Gesetze, und gerade in diesem Gebiet soll speziell der Biber machen können, was er will.«

»Es gab also Streit.«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Aber Sie haben doch gesagt, dass Dr. Krohnhorst die Biber nicht so toll fand. Woher kommt denn diese große Kerbe in den Damm?«

»Ja, die hat wohl irgendwer da reingemacht.«

»Vielleicht Dr. Krohnhorst?«

Pölzners Gesicht war zunehmend rot geworden. Obwohl es im Polizeibus nicht gerade warm war, glänzte seine Stirn. Er sah hilfesuchend zu Sylke rüber, aber Sylke schwieg und beobachte ihn mit einem sphinxhaften Lächeln.

»Ich weiß es nicht«, sagte Pölzner schließlich.

»Aber Sie vermuten es.«

»Nein, ich weiß es nicht. Und ich will es auch nicht vermuten.«

»Wissen Sie, was ich glaube? Ich glaube, …«

Es war der Moment, in dem Sylke nicht mehr stillsitzen konnte. Sie griff Philipps Unterarm. »Lass uns draußen kurz weiterreden, ja?«

Mittlerweile war es beinahe dunkel geworden. Die Luft war kühl, fast schon winterlich kalt. Sylke schloss die Schiebetür des Polizeifahrzeugs. »Was war das denn jetzt? Du legst einem Zeugen lauter Dinge in den Mund und dann setzt du an zu einer Beschuldigung? Ist dir klar, was du damit anrichtest?«

Philipp verzog trotzig den Mund. Sylke fuhr mit ihrer Strafpredigt fort. »Wenn du ihn beschuldigst, musst du ihn darüber informieren, dass du ihn als Beschuldigten betrachtest. Du musst ihm seine Rechte erklären. Sonst ist alles, was du hier besprichst, hinfällig. Du bekommst einen Riesenärger mit der Staatsanwaltschaft.«

»Du weißt doch gar nicht, was ich sagen wollte. Ich hätte ihm als Nächstes erklärt, dass ich seine Rolle bei dieser Sache für unklar halte und ihn ab sofort als Beschuldigten führe.«

Sylke schüttelte den Kopf. »Das ist doch Blödsinn! Es ist viel zu früh. Wir haben kein gerichtsmedizinisches Gutachten, keine Spurenuntersuchung, wir wissen nichts. Und du willst den armen Mann hier gleich zum Täter stempeln? Dann taucht der morgen mit seinem Anwalt auf und sagt kein Wort mehr. Abgesehen davon, dass du suggestiv vorgehst, verschlechterst du so deine Position. Selbst wenn du das Gefühl hast, er könnte der Täter sein – warte ab. Lass dir nicht sofort in die Karten schauen! Solange er denkt, dass wir nur seine Unterstützung benötigen, sagt er vielleicht interessante Dinge.«

»Um sich selbst zu entlasten.«

»Das kannst du dann ja einordnen, oder?«

Sie trat einen Schritt zurück und betrachtete den jungen Beamten, der nervös seinen Bart bearbeitete. Sylke hatte beinahe Mitleid. Aber nur beinahe. »Ist nicht dein bester Tag heute, was?«

Er zuckte mit den Schultern. Sie gab ihm einen aufmunternden Stoß. »Pass auf. Du gehst jetzt wieder in den Bus, bedankst dich für die Aussage, und für morgen bekommt er noch mal eine höfliche Einladung aufs Revier.«

»Du willst ihn einfach so laufen lassen? Wir müssen noch nach seinem Umfeld fragen. Wer ist außer ihm hier noch aktiv? Wer hat was gegen Krohnhorst? Pensionierter Regierungsrat – hier gibt’s bestimmt noch Leute, die ihn nicht mögen.«

»Das machen wir alles morgen.«

»Wir?«

»Ich meinte natürlich: ihr.«

Sylke wandte sich abrupt ab. In diesem einen Punkt hatte Philipp recht: Sie musste sich raushalten. Unbedingt. Sonst würde sie am Ende noch für die unprofessionell geführten Ermittlungen mitverantwortlich gemacht. Sie sah zu, wie er wieder im Polizeibus verschwand, und ging ein paar Schritte den Hang hinauf, bis knapp unter die Hügelkuppe. Von dort oben wirkte die Szenerie rund um den Fundort der Leiche unwirklich. Das kalte Licht der Scheinwerfer ließ die Gestalten in den weißen Schutzanzügen aussehen, als wären sie von innen erleuchtet. Über der Fundstelle war ein Schutzzelt aufgebaut worden, die Beamten untersuchten das Opfer und durchkämmten das Unterholz, zwei Bestatter warteten am Rand des Geschehens auf ihren Einsatz. All das löste bei Sylke ein gewisses Kribbeln aus, das sie nur zu gut kannte. Da war Empathie mit dem Opfer, da war auch der Wunsch nach Gerechtigkeit, nach dem Finden eines gefährlichen Täters. Vor allem aber hatte sie ein dringendes Bedürfnis, das Wirrwarr von Informationen zu ordnen, die nebeneinander laufenden Aktivitäten zu steuern, ihnen Struktur und Richtung zu geben. Ordnung in eine Ermittlung bringen, jeden Schritt zur richtigen Zeit tun, wie ein Wanderer, der sich auf einem schmalen Grat bewegt – das empfand sie als zutiefst befriedigende Tätigkeit. Und da lag wohl auch der eigentliche Grund dafür, dass sie sich auf Umwegen bis zur Kriminalpolizei durchgeschlagen hatte: Sie wollte etwas verstehen, das im ersten Moment unbegreiflich erscheint. Und sie hatte große Lust, die Zügel in diesem Fall selbst in die Hand zu nehmen.

5

Als Tom aus dem Mietwagen stieg, hatte er sich verwandelt: Anstatt eines abgetragenen Pullovers trug er ein gebügeltes, dunkelgrünes Hemd und sein einziges Jackett. Am Morgen hatte er sich sorgfältig rasiert, gekämmt und mit Haargel eine stilvolle Frisur gebastelt. Seine Lederschuhe waren geputzt und entgegen aller Gewohnheit saß eine Brille mit Goldrand auf seiner Nase. Die Gläser hatten keine Funktion, aber die Brille ließ ihn deutlich seriöser erscheinen, also ungefähr so, wie er sich einen Investor mit viel Geld vorstellte. Als Leihwagen hatte er sich ein Fahrzeug der Oberklasse geleistet. Tanja Grundler würde sich über seine Spesenrechnung die Haare raufen.

Die Starkwind AG hatte ihren Hauptsitz in Anklam, unterhielt aber auch Niederlassungen in Frankfurt (Oder) und Potsdam. Das Unternehmen plante Windparks, meistens im Auftrag von Energiekonzernen oder Investoren. Das Dienstleistungsangebot umfasste außerdem die technische Überwachung des laufenden Betriebs, Instandhaltung und Reparaturen. So stand es jedenfalls auf der Internetseite, mit der sich Tom gründlich beschäftigt hatte.

Das Unternehmen war in einem unauffälligen, weißen Zweckbau am Stadtrand untergebracht, vermutlich noch aus der Vorwende-Zeit, aber grundlegend saniert und sehr gepflegt. Auf dem Flachdach erkannte Tom aufgeständerte Solarpanels. Er sah sich kurz auf dem rückwärtigen Parkplatz um, bevor er sich auf den Weg zum Haupteingang machte und sich am Empfang meldete. Wenig später stand ein Mittvierziger mit gelocktem Haar und leichtem Bauchansatz vor ihm und reichte ihm die Hand.

René Jagel trug keine Krawatte, aber ein seidig glänzendes Hemd mit Stehkragen und eine Jeanshose, die so aussah, als habe er sie an diesem Tag zum ersten Mal aus seinem Schrank geholt. Tom war zufrieden, dass er mit seinem Outfit nicht allzu weit entfernt war von der Kombination aus Lässigkeit und Öko-Glamour, die in diesem Unternehmen angesagt war. Viel mehr hätte er aber auch nicht aufbieten können. »Becker, sehr erfreut«, sagte er mit fester Stimme.

In Jagels Büro gab es viel Glas und polierten Stahl, ein palmenartiges Gewächs sorgte für Karibik-Flair und an den Wänden hingen kunstvoll eingefärbte Fotos von Windrädern, die aus allen möglichen Perspektiven aufgenommen worden waren. Als sie mit dampfendem Kaffee am Besprechungstisch saßen, erläuterte Tom sein Anliegen: Er sei auf der Durchreise und interessiere sich, wie schon telefonisch angedeutet, für Gelegenheiten, in Windkraftanlagen zu investieren. Von der Starkwind AG habe er einen passablen Eindruck gewonnen, deshalb sei er persönlich vorbeigekommen.

»Das ist ungewöhnlich, so kurzfristig«, sagte Jagel mit einem feinen Lächeln, »aber zum Glück kann ich mir heute dafür eine Viertelstunde Zeit nehmen.«

Das Signal war einfach zu deuten: Jagel markierte Grenzen – nicht er wollte dem Investor dienen, sondern der Investor war der Bittsteller. Tom rückte seine nutzlose Goldrandbrille zurecht. »Dann lassen Sie uns doch gleich zum Wesentlichen kommen, Herr Jagel. Ich beabsichtige ein Engagement in Höhe von fünf bis zehn Millionen Euro.«

In Jagels Gesicht tat sich nichts. Entweder hatte er sein Minenspiel gut unter Kontrolle oder er war nicht auf der Suche nach Investoren. Vielleicht hantierte sein Unternehmen auch mit weitaus höheren Summen, als Tom erwartet hatte. Jagels Stimme klang so, als habe ein Sparkassenkunde angekündigt, mal wieder zweihundert Euro einzuzahlen. »An welchen Zeitraum dachten Sie?«

»So bald wie möglich.«

»Darf ich fragen, aus welcher Branche Sie kommen, Herr Becker?«

Tom versuchte sich an einem gepflegten Lächeln, bevor er antwortete. »Software, Fintech. Wir haben einige erfolgreiche Apps programmiert. Inzwischen habe ich meine Geschäftsanteile verkauft und bin jetzt Privatier.«

Diese Berufsbezeichnung schien Jagel fürs Erste zu genügen. »Wir haben mehrere Projekte in Vorbereitung«, erklärte er, »aber Sie wissen natürlich, dass Genehmigungen für neue Windparks in den letzten Jahren ausgesprochen schwer zu bekommen sind – vor allem in Deutschland. Haben Sie eine bestimmte Region im Blick?«

»Das Projekt auf der Friedländer Großen Wiese zum Beispiel.«

Der Geschäftsführer der Starkwind AG sah ihn überrascht an. Sein feines Lächeln verlor etwas von seiner Feinheit. »Woher wissen Sie davon? Wir haben bislang nichts veröffentlicht.«

»Man hat so seine Quellen. Ich hörte, es gebe Schwierigkeiten?«

Jagel zögerte einen Moment. Er schien nach einer angemessenen, also nichtssagenden Formulierung zu suchen. »Die Friedländer Wiese gehört zu den komplexen Projekten. Ich würde Ihnen etwas anderes empfehlen.«

»Woran liegt‘s? Das Gebiet ist doch perfekt: Kaum Besiedlung, für die Landwirtschaft nicht übermäßig wertvoll.«

»Es gibt da einige ganz spezifische Hindernisse«, sagte Jagel. »Aber wir haben in Brandenburg gerade ein vielversprechendes Projekt. Baubeginn wäre schon im kommenden …«

»Moment«, unterbrach Tom den Geschäftsführer, leicht ungehalten. »Was sind das für Hindernisse?«

Das linke Augenlid des Windkraft-Managers zuckte. Nahm er Tom den eigenbrötlerischen Investor ab? Oder spielte er das Spielchen nur mit, um herauszubekommen, wer sein kurzfristig angereister Gast wirklich war? Es gab ja einige Möglichkeiten: ein Journalist, ein Konkurrent, ein Spion aus der Naturschutzszene. Jagel ließ sich nicht in die Karten schauen. »Dazu kann ich nicht viel sagen. Es geht um Grundstücke und es geht um Greifvögel. Das Übliche.«

»Der Rotmilan? Die Viecher sind eine echte Landplage geworden.«

War das zu viel Anbiederung? Jagel lehnte sich zurück und betrachtete Tom mit schief gelegtem Kopf. »Ja, man kann sich darüber ärgern, aber natürlich respektieren wir die Naturschutzbelange vollumfänglich.«

Tom rümpfte die Nase. »Ich hatte gehofft, dass Sie mir bessere Auskünfte geben können.«

»Bei dem Projekt in Brandenburg sind solche Hindernisse kein Thema. Ich würde Ihnen gern …«

»Brandenburg interessiert mich nicht«, sagte Tom, jetzt etwas schärfer im Ton. »Ich würde gern wissen, warum Ihr Unternehmen nicht in der Lage ist, nach Jahren der Vorplanung auf der Friedländer Großen Wiese einen Windpark zu errichten.«

Das war zu viel; er musste aufpassen, nicht aus der Rolle zu fallen. Jagel sah ihn einigermaßen entgeistert an. »Darf ich fragen, warum Sie so auf diesem Projekt herumreiten? Es ist doch letztendlich egal, wo sich die Mühlen drehen.« Er lachte kurz auf, aber Toms starrer Blick ließ ihn schnell wieder verstummen.

»Oder sind Sie gar nicht hier, um zu investieren? Sind Sie Grundstückseigentümer, sind Sie von den Verzögerungen irgendwie betroffen? Ich habe volles Verständnis dafür.«

Er zweifelte also tatsächlich an den Absichten des Herrn Becker. Tom musste schlucken.

»Schauen Sie«, sagte er in einem eisigen Tonfall. »Ich denke mir das so: Wer in einem Fall Schwierigkeiten nicht aus dem Weg räumen kann, der schafft es auch bei anderen Gelegenheiten nicht. Ich gebe mein Geld nur in Hände von Leuten, die Probleme lösen, anstatt sie vor sich her zu schieben.«

Es kam wohl nicht oft vor, dass Jagel, Geschäftsführer und Mitgesellschafter eines Unternehmens mit mehr als 70 Mitarbeitern, derart angegangen wurde.

Sein feiner Kragen war kurz davor zu platzen. »Und ich, Herr Becker, biete Investoren nur Projekte an, die vertraglich abgesichert sind. Beim Windpark auf der Friedländer Großen Wiese fehlt dazu noch ein Daumenbreit, mehr nicht. Die Probleme werden gelöst, mit allen gebotenen Mitteln. Aber noch ist es nicht so weit.«

»Na also, das ist doch ein Wort. Sie regeln das. Und ich komme wieder, sobald es so weit ist. Mit welchem Zeitraum darf ich rechnen?«

Jagel wich seinem Blick für Sekundenbruchteile aus. »In einer Woche sollten alle Ampeln auf Grün stehen.« Seine Stimme hatte einen hohlen Klang. Die Aussage war ihm offenbar unangenehm, aber er konnte nicht mehr zurück.

»Wenn Sie Unterstützung brauchen: Ich bin gern für Sie da«, sagte Tom. »Ich mag es, Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Sollte es nötig sein, würde ich mich auch finanziell engagieren. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Jagel schüttelte den Kopf. »Wenn Leute Prinzipien über alles andere stellen, dann hilft uns Geld nicht weiter. Danke für Ihr Angebot, aber ich denke, dass wir die Sache mit unseren Mitteln zu Ende bringen.«

Er stand unvermittelt auf. »Sie sollten Ihre Adresse hinterlassen, Herr Becker, damit wir Sie auf dem Laufenden halten können. Ich zeige Ihnen gern den Standort – aber Sie sind ja ohnehin schon gut informiert.«

Vom Fenster aus konnte man einen Teil des Parkplatzes überblicken. Obwohl Jagel ihn nun unverkennbar loswerden wollte, nahm sich Tom noch einmal die Zeit, in aller Ruhe die Asphaltwüste zu betrachten.

»Ich habe gesehen, dass hier viele Mitarbeiter elektrisch fahren. Das gehört bei einem Unternehmen wie Ihrem zum Pflichtprogramm, oder?«

Jagel nickte. Er wirkte erleichtert, in den Small Talk-Modus umschalten zu können.

»Wir müssen die regenerativen Energien nicht nur ausbauen, wir müssen sie auch nutzen. Unsere Firma hat ein eigenes Förderprogramm für Mitarbeiter, die sich ein E-Fahrzeug zulegen wollen. Das läuft so gut, dass wir dringend mehr Ladesäulen benötigen.«

»Und Sie selbst? Lassen Sie mich raten: der blaue Porsche?«

Jagel fand sein feines Lächeln wieder. »Sie haben ja genau hingesehen. Ist schon mein zweiter Stromer. Was anderes kommt für mich nicht mehr in Frage.«

Tom verabschiedete sich. Natürlich unterließ er es, irgendjemandem irgendeine Adresse zu geben. Er wandte sich noch einmal dem Firmenparkplatz zu und schlenderte zu Jagels Porsche, der gerade an einer der drei Ladesäulen hing. Mit prüfender Miene umrundete er das Auto. Er musste damit rechnen, dass er beobachtet wurde.

Als er auf die Seite gelangt war, die dem Gebäude abgewandt war, beugte er sich zum Hinterrad hinab und fuhr mit einer Hand rasch unter den Rand des Radkastens. Ein klackendes Geräusch verriet, dass er dabei ein Souvenir hinterließ, einen kleinen schwarzen Kasten, der sich mittels starker Magnetkräfte am teuren Blech festsaugte.

Tom richtete sich wieder auf, zog sein Jackett zurecht und macht sich auf den Weg zum Leihwagen. Nachdem er um einige Straßenecken gefahren war, hielt er wieder an. Er aktivierte die App für den GPS-Tracker, den er unter dem Radkasten des Porsche angebracht hatte. Das Display zeigte einen Kartenausschnitt mit dem Stadtgebiet von Anklam. Dort, wo sich der Parkplatz der Starkwind AG befand, blinkte ein roter Punkt. Tom nickte zufrieden und fuhr zurück nach Greifswald.