Kitabı oku: «Greifswalder Gespenster», sayfa 4
8
Dirk Pölzner sollte um zehn Uhr im Polizeihauptrevier erscheinen. Um halb elf war von ihm noch immer nichts zu sehen oder zu hören. Sylke machte sich auf den Weg zu dem Büro, in dem Philipp und Lisa arbeiteten. Noch bevor sie den Raum betrat, hörte sie durch die halb geöffnete Tür, wie Philipp sich beschwerte: »… und dann ist sie zu Klüver gerannt und hat ihm erzählt, wie unfähig wir beide sind, damit sie den Job hier übernehmen kann. Vielleicht will sie einfach hierbleiben. Die in Stralsund sind wahrscheinlich froh, so eine Zicke los zu sein.«
Lisas Einwurf klang halbherzig. »Na ja, ganz so schlimm ist es auch nicht.«
»Du verteidigst sie, is’ klar. Bei dir schleimt sie sich auch ein. Merkst du nicht, dass sie einen Keil zwischen uns treiben will? Wenn ich könnte, dann würde ich …«
Sylke wollte sich das nicht länger anhören. Sie tat so, als habe sie von dem Gespräch zwischen den beiden Kollegen nichts mitbekommen, klopfte an die Tür und trat im gleichen Augenblick schwungvoll ein.
»Habt ihr schon versucht, Dirk Pölzner zu erreichen?«
»Klar haben wir das«, gab Philipp übertrieben eilfertig zurück. »Aber er meldet sich nicht. Hat ja vielleicht seine Gründe.«
»Sollen wir hinfahren und ihn holen?«, fragte Lisa, ebenfalls sehr dienstbeflissen.
Sylke schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Philipp, du warst doch gestern in der Nachbarschaft unterwegs. Was haben die über Pölzner gesagt? Hat der Mann eigentlich einen Beruf?«
Philipp hatte sich an diesem Tag für eine Banane entschieden. Während er über Pölzner Auskunft gab, machte er sich über das Obststück her. Es fiel Sylke schwer, beim Anblick des bärtigen Jungkommissars nicht an einen Schimpansen zu denken.
»Er hatte mal einen Klempnerbetrieb«, erläuterte Philipp, »der ist aber pleite gegangen. Später hat er für andere Handwerker gearbeitet. Vor zwei Jahren musste er wegen gesundheitlicher Probleme ganz aufhören. Ist schon seit einiger Zeit Vorsitzender im Heimatverein und engagiert sich da wie blöde, neuerdings eben auch für dieses Biberschutzgebiet. Ich würde sagen, dass ihm das Anerkennung bringt, die ihm sonst fehlt. Er ist unverheiratet, hat keine Kinder und lebt bei seiner 80-jährigen Mutter. Knapp zusammengefasst: Norman Bates aus Vorpommern. Ein Sonderling mit starkem Kompensationsbedürfnis.«
Sylke konnte sich eine spitze Bemerkung nicht verkneifen. »Gibt viele Möglichkeiten, Frustration zu kompensieren, oder? Ist jemand schon ein Sonderling, weil er sich um seine gebrechliche Mutter kümmert?«
Philipp zuckte trotzig mit den Schultern. Er blickte Lisa an, aber seine Worte zielten zweifellos auf Sylke. »Jeder sollte wissen, wo sein Platz ist, würde ich sagen.«
Sylke lag eine Erwiderung auf der Zunge, aber sie hielt sich zurück. So durften sie nicht weitermachen, es war nicht der richtige Weg. »Telefonier doch bitte etwas rum. Vielleicht hat jemand Pölzner heute schon gesehen. Auf den Dörfern stehen die gern mal hinter den Gardinen und gucken, was der Nachbar macht; gerade, wenn so etwas passiert ist wie gestern. Und Lisa, du könntest dir jetzt die Wohnung von Dr. Krohnhorst ansehen. Du weißt ja, wonach wir suchen: Wichtige Kontakte, Terminkalender, Hinweise auf den Streit mit Pölzner, aber auch auf Erkrankungen oder sonstige Besonderheiten.«
Sie ging zurück in ihr Büro. Es roch wie das gesamte Gebäude noch neu, Wände und Tische waren unberührt, frei von den Kratzern und Kerben, die das Leben früher oder später in einen Ort schlug. Sie hatte das Gefühl, dass dieses Büro sie abstoßen wollte, als wäre sie ein Fremdkörper. Dass Pölzner nicht zur Vorladung erschien, bestätigte Philipps Misstrauen. Hatte sie ihn zu Unrecht ausgebremst? Wäre es doch besser gewesen, den dicken Naturschützer direkt vor Ort hart anzugehen, in der Hoffnung auf ein schnelles Schuldeingeständnis?
Noch während sie mit aufkommenden Zweifeln kämpfte, steckte Philipp seinen Kopf durch die Türöffnung. »Pölzner wurde gesehen. Er hat vor einer Viertelstunde sein Haus verlassen und ist zusammen mit einem Mann Richtung Prägelbach gegangen.«
»Prägelbach?«
»Dieses Rinnsal, an dem Krohnhorst seinen letzten Atemzug getan hat.«
»Und wer ist dieser Mann?«
»Die Nachbarin hat ihn im Dorf noch nie gesehen.«
»Interessant. Lass uns mal nachsehen, was die beiden da draußen zu tun haben.«
9
Sylke überließ es Philipp, den Wagen zu steuern. Als sie auf die Wolgaster Straße eingebogen waren und der Weg nur noch geradeaus aus der Stadt führte, hielt sie die Zeit für ein paar offene Worte für gekommen. Sie bemühte sich um einen freundlichen, aber doch verbindlichen Tonfall.
»Philipp, ich habe den Eindruck, dass du mit meiner Vorgehensweise nicht immer einverstanden bist. Wenn du ein Problem damit hast, dann kannst du das sagen. Wir sind ein Team.«
Der junge Kollege hielt seinen Blick auf die Straße gerichtet. Seine Miene war unbewegt. Sylke wartete einen Moment. »Willst du irgendetwas dazu sagen?«
»Ist schon okay.«
»Wenn es dir gegen den Strich geht, dass mir die Leitung übertragen wurde, dann kannst du das auch sagen.«
Wieder eine Pause. Auf der linken Seite schimmerte für Sekundenbruchteile rötlicher Backstein durch Hecken und Bäume – die Klosterruine von Eldena.
»Wie gesagt: Ist schon okay.«
Sylke wartete, aber es kam nichts mehr. »Kannst du auch etwas anderes sagen als ›ist schon okay‹?«
Vor ihnen rumpelte ein Tanklastfahrzeug durch Schlaglöcher. Philipp setzte zum Überholen an. Der Wagen schoss nach vorn, als er das Gaspedal durchtrat. Es war nicht ohne Risiko. Sylke musste sich beherrschen, um nicht laut zu werden. Dass er auf diese Art und Weise seinen Ärger abreagierte, war beschämend. Einschüchtern ließ sie sich aber nicht. Das hatte sie noch nie getan. »Ich habe doch gemerkt, dass du sauer bist. Das ist dein gutes Recht. Aber denk dran: In dem Moment, als uns dieser Fall angetragen wurde, hast du zurückgezogen. Das war deine Entscheidung. Du kannst dich dann nicht hinterher darüber beschweren, wenn andere dir das dann auch nicht mehr zutrauen. Ich will, dass wir gut zusammenarbeiten. Je eher du deine Vorbehalte überwindest, umso besser ist deine Chance, am Ende dieser Ermittlung die Dienstgruppenleitung zu übernehmen.«
Philipp schnaufte. »Du willst doch, dass Lisa das macht.«
»Ich will, dass es der Beste macht. Das sage ich auch Lisa.«
»Aber du hast dir längst eine Meinung darüber gebildet, wer der Bessere von uns beiden ist.«
Immerhin, dachte sie, das war ein Standpunkt. Etwas, womit man weiterarbeiten konnte. »Ich glaube, du solltest uns beiden mehr Offenheit zugestehen. Du gibst dich gern spontan und aktiv, aber im Grunde versuchst du, an einem einmal gefassten Urteil um jeden Preis festzuhalten. Es ist richtig: Ich war gestern sehr angetan von Lisa. Sie ist sofort engagiert auf die Herausforderung eingestiegen, während du damit beschäftigt warst, dich für den Vortag zu rechtfertigen. Wenn ich einen guten Eindruck von Lisa hatte, dann heißt das aber nicht, dass ich irgendein Urteil über eure Qualifikation gefällt hätte. Wirklich nicht. So schnell geht das nicht.«
Philipp schob die Unterlippe vor und sagte nichts mehr. Sie fuhren jetzt durch kleine Dörfer, vorbei an der Abzweigung, die zum Fundort der Leiche führte, bis nach Katzow, dem Ort, aus dem Pölzner stammte. Am Ortseingang ging es scharf nach rechts, dann weiter über Feldwege. Wiesen und Waldstücke wechselten sich ab, hier und da passierten sie einzelne Gehöfte. Von Pölzner und dem Unbekannten war nichts zu sehen. Philipp wurde ungeduldig. »Hier hätten sie eigentlich sein müssen. Was sollen wir machen?«
»Wir suchen zu Fuß weiter.«
Eine halbe Stunde später liefen sie noch immer durch den Wald. Philipps Laune hatte sich stetig verschlechtert und Sylke bereute, dass sie keinen Mittagsimbiss eingepackt hatte. Sie ärgerte sich weniger darüber, dass sie Pölzner nicht fanden, sondern vor allem, weil sie die gesamte Aktion inzwischen für Zeitverschwendung hielt.
Auf einer Anhöhe entdeckte sie einen Hochsitz. »Lass uns da oben Pause machen. Wir halten noch etwas Ausschau, aber wenn sich Pölzner in einer Viertelstunde nicht blicken lässt, brechen wir das Ganze ab. Soll der Staatsanwalt ihn vorladen. Dann bleibt ihm keine Wahl.«
Sylke stieg todesmutig die etwa fünf Meter lange Holzleiter hinauf.
»Na toll«, hörte sie Philipp sagen. Er folgte ihr wie ein unwilliger Schüler beim Wandertag. Dann saßen sie in luftiger Höhe auf einem regenfeuchten Holzbrett und observierten die Umgebung. Philipps Laune war weiterhin gedämpft. »Wir könnten einen Hubschrauber anfordern.«
»Klar – warum nicht gleich zwei Hundertschaften von der Bundespolizei? Pölzner ist bislang Zeuge, nicht mehr.«
»Ich hasse diesen Wald.«
Sylke sah amüsiert zu ihm rüber. Mit seinem struppigen Bart und dem Rollkragenpullover unter dem Sommermantel hatte er beste Voraussetzungen für einen anständigen Waidmann. Aber manche Leute wollten ihre Bestimmung einfach nicht erkennen. Philipp nahm ihr das Fernglas aus der Hand und suchte ein weiteres Mal den Waldrand ab. »Ist doch merkwürdig, dass er zwei Tage, nachdem die Leiche gefunden wurde, mit einem Typen hier herumstreunt, den im Dorf niemand kennt.«
»Kann Zufall sein«, sagte Sylke. »Vielleicht ein ehemaliger Kollege, dem er das Naturschutzgebiet zeigen will.«
»Oder der Typ soll ihm helfen, Spuren zu beseitigen, die wir noch nicht gefunden haben. Die Tatwaffe fehlt ja auch noch.« Er hielt plötzlich inne. Dann sprach er weiter, ohne das Fernglas abzusetzen, im Flüsterton eines Großwildjägers. »Da sind sie. Wir haben sie.«
Sylke wollte ihm das Fernglas abnehmen, aber Philipp hielt es fest. »Warte. Der Typ neben Pölzner ist bestimmt kein Handwerkerkollege. Lederjacke, Cordhose, Schiebermütze. Seine Tasche sieht aus wie der Ranzen meines Großvaters.«
Sylke musste lachen. »Dein Großvater war damals sicher stolz auf seinen Ranzen. Jetzt gib mir endlich das Fernglas.«
Philipp reichte ihr den Feldstecher. »Immerhin hat er es bis auf die höhere Schule geschafft und dann vierzig Jahre lang als Schiffsbauingenieur gearbeitet. Na ja, heute ist das auch kein sicherer Job mehr.«
Sylke hörte nur noch mit halbem Ohr zu. Als sie die beiden Gestalten, die am Waldrand entlang stapften, endlich in voller Größe vor die Linse bekam, erstarrte sie. Das Lachen verging ihr. »Das ist ja … Scheiße. Das ist …«
Philipp sah sie misstrauisch an. »Wie … kennst du den Vogel?«
»Und wie ich den kenne. Ich hatte schon öfter mit ihm zu tun.«
»Und das bedeutet was?«
»Er heißt Tom Brauer und ist Privatermittler.« Sie schüttelte den Kopf. »Er ist unberechenbar und ziemlich eigensinnig. Leider auch nicht ganz dumm.«
Sie stiegen die morschen Stufen vom Hochsitz ab. Sylke musste an ihre bisherigen Begegnungen mit Tom denken. Es war ja nicht alles schlecht, was sie mit ihm erlebt hatte. Sie war sogar mal etwas verliebt gewesen in ihn.
»Wo bleibst du denn?« Philipp hatte es eilig und ging schon einige Schritte voraus. »Scheint dich ja sehr zu beschäftigen, dass dieser Tom Brauer hier rumläuft.«
Sylke winkte ab. Sie versuchte, sich wieder auf das eigentliche Ziel zu konzentrieren. Tom war im Augenblick nicht wichtig und sie würde alles dafür tun, dass sich daran auch nichts änderte. Hinter einer Wegbiegung kamen die beiden Waldspaziergänger in Sicht. Pölzner war die Begegnung mit den beiden Ermittlern sichtlich unangenehm. Aber für eine plötzliche Umkehr war es längst zu spät, das hätte ausgesehen wie Flucht. Sylke sah, dass Tom auf den Dicken einredete. Sicher gab er ihm Tipps, wie er sich nun verhalten sollte. Trotzdem stotterte Pölzner wie ein ertappter Lausbub herum, als sie ihm gegenüberstanden. »Also, ich weiß, dass Sie mich ja gebeten hatten … ich hatte auch vor … also ich wollte …«
Sylke beachtete ihn für den Moment gar nicht, sondern wandte sich Tom zu, in dessen Gesichtsausdruck sie Argwohn, aber auch eine gewisse Belustigung zu erkennen glaubte. »Können wir mal kurz unter vier Augen sprechen?«
Tom sah sie beinahe mitleidig an, folgte ihr aber brav, bis sie außer Hörweite der beiden anderen waren.
»Nanu, neues Revier, Frau Oberförsterin?«
»Darf ich fragen, was du hier machst?«
»Ich gehe spazieren und informiere mich über die Belange des Naturschutzes. Wusstest du, dass Biber die intelligentesten Nagetiere sind, die man sich vorstellen kann, und beim Bau von Dämmen …«
»Tom, hör auf mit dem Mist. Wieso bist du mit dem Mann hier unterwegs – einen Steinwurf entfernt von dem Ort, an dem er vorgestern eine Leiche entdeckt hat? Wenn das Zufall ist, dann … «
»… dann bist du Lady Gaga. Nein, keine Sorge, du musst jetzt nicht singen lernen. Und ja, du hast recht: Es kommt selten vor, dass ich mich rein zufällig so weit von meinen Heimatgewässern wegbewege.«
»Hast du dem Pölzner eingeredet, nicht auf dem Polizeirevier zu erscheinen?«
»Ich habe ihn nur über seine Rechte aufgeklärt.«
»Du bringst mich hier in eine blöde Situation.« Sie sah sich zu den anderen um. Philipp redete auf Pölzner ein, der im Wald herumstand wie eine gerupfte Birke nach einem Orkan. Es war nicht gut, die beiden allein zu lassen. »Können wir uns mal unterhalten, also abseits des rein Dienstlichen?« Tom sah Sylke mit schief gelegtem Kopf an. »Klar. Immer. Gern.«
»Ich rufe dich an«, sagte sie, während sie bereits wieder auf dem Weg zu Philipp und Pölzner war.
»Herr Pölzner wird uns jetzt begleiten«, verkündete Philipp staatstragend.
Sylke drehte sich noch einmal zu Tom um. Er war stehen geblieben, als wolle er mitten auf dem Waldweg zum Denkmal werden, und blickte ihnen versonnen hinterher. Seine Gelassenheit reizte sie. Merkte er mal wieder nicht, wie sehr er ihre Ermittlungen behinderte? Andererseits war es beinahe schon ein vertrautes Gefühl, den Störenfried in der Nähe zu wissen. Sie schüttelte sich innerlich. Es war ja nichts Dramatisches passiert. Trotzdem hatte sie die Begegnung mit Tom aus dem Konzept gebracht.
10
Lisa traf den Hausmeister auf einem der Zuwege, die den Parkplatz mit den quaderförmigen Gebäuden des Wohnquartiers verbanden. Der Mann trug einen grauen Kittel und bot ihr an, die Wohnung von Dr. Krohnhorst aufzuschließen, aber Lisa wollte auf neugierige Begleiter lieber verzichten. Sie ließ sich den Schlüssel aushändigen und erklärte dem Hausmeister, dass sie ihn anrufen werde, wenn sie fertig sei.
Niemand machte ihr später einen Vorwurf deswegen, auch dass sie die Wohnung des Toten allein aufsuchte, wurde nicht als leichtsinnig betrachtet. Es bestand kein Grund, von einer Gefahr auszugehen. Die Tatsache, dass die Wohnungstür nicht richtig verschlossen, sondern einfach nur zugezogen worden war, hätte Lisa stutzig machen können. Aber auch dafür konnte es ja eine Erklärung geben: Einer wie Krohnhorst wischte sicher nicht selbst den Staub von den Möbeln und Fensterbänken – vielleicht hatte die Reinigungskraft vergessen abzuschließen. Bedenkenlos öffnete Lisa die Tür im fünften Stockwerk.
Im nächsten Moment war sie hingerissen von der hellen und geräumigen Wohnung. Großflächige Fenster ließen das milde Licht einer leicht verschleierten Sonne herein. Marmorplatten im Eingangsbereich, hellgraue Teppichfelder im Wohnzimmer. Vorhänge in einem warmen Rotton, Gemälde mit Jagd- und Naturmotiven. Wenige gediegene Möbelstücke: ein antiker Schrank aus glänzend poliertem Holz, ein schwarzes Ledersofa, dazu ein Tisch mit Rauchglasplatte. Es fügte sich stilistisch nicht perfekt zusammen und regelrecht abstoßend fand Lisa die ausgestopften Tierköpfe an der Wand. Aber die Wohnung insgesamt: ein Traum.
War sie zu sehr abgelenkt, weil sie sich vorstellte, wie es wäre, in solch einer Wohnung zu leben? Weil der Gedanke an ihre Gehaltsgruppe sie beschäftigte und auch der Brief vom Gericht, demzufolge ihr Vater wohl seit Monaten seine Stromrechnungen nicht bezahlt hatte? Sie registrierte einen kleinen Sekretär im Wohnzimmer, rötlich schimmerndes Holz, handgedrechselte Beine. Dann war da ein Schreibtisch mit eigenartig geschwungener Tischplatte. Im Schlafzimmer würde sie den Nachttisch unter die Lupe nehmen, außerdem einige Schubladen im Küchenschrank. Es war also einiges zu tun.
Bevor sie mit der Arbeit begann, gönnte sie sich einen Abstecher auf die Dachterrasse, mindestens fünfzig Quadratmeter, mit geriffelten Holzplanken belegt. Sie bot einen herrlichen Ausblick: Ganz vorn der Ryck, gekräuseltes Grün-Blau, dahinter links die Museumswerft mit den urigen alten Segelschiffen und direkt daran angrenzend das hochmoderne Betriebsgelände der Hansewerft, das sich bis zum Rand der Stadt erstreckte. Gerade konnte man beobachten, wie auf dem Ryck eine dieser Millionärsjachten wendete, vielleicht für eine Testfahrt auf dem Greifswalder Bodden. Diese noblen Wasserfahrzeuge, die teuren Wohnungen des Hafenquartiers – passte so etwas nicht eher nach Hamburg als in diese gemütliche und etwas verschlafene Stadt?
Lisa schreckte hoch, als sie ein Geräusch aus der Wohnung hörte. Es war nicht laut, vermutlich war durch den Luftzug, der mit dem Öffnen der Tür zur Dachterrasse entstanden war, eine Tür ins Schloss gefallen. Sie sah keinen Grund, die Pistole schussbereit zu halten. Ein zweites Mal streifte sie durch die Räume. Nein, da war niemand. Sie ging ins Schlafzimmer und wandte sich dem Nachttisch zu. Ohrstöpsel, Medikamente, Kondome. Kondome? Sie warf einen Blick auf das Bett, King-Size-Format, goldener Metallrahmen. Es passte nicht wirklich zu einem 72-jährigen Pensionär. Aber waren das nicht alles Vorurteile?
Im Wohnzimmer gab es ein Regalfach mit mehreren Büroordnern. Einer war mit Gericht beschriftet und enthielt mehrere Schriftstücke, die gerichtliche Auseinandersetzungen um die Biberbauten am Prägelbach dokumentierten. Lisa packte den Ordner in eine mitgebrachte Stofftasche und legte sie auf den Wohnzimmertisch. Dann wandte sie sich dem Bücherregal zu. Krohnhorst hatte nicht viele Bücher, die meisten drehten sich um Jagd oder Landesgeschichte, dazu kam eine Reihe von Reiseführern. Als sie einen Bildband über Thailand herauszog, fiel aus der hinteren Umschlagklappe ein Briefumschlag auf den Fußboden. Sie griff hinein und hatte ein Dutzend Fotografien in der Hand. Sie waren zum Teil verwackelt, bei einigen waren dunkle Streifen oder Flächen im Vordergrund zu sehen – so, als ob jemand aus einem Versteck heraus fotografiert hätte. Zu sehen war auf allen Bildern ein Stück von einem Parkplatz. Ein Mann, dessen Gesicht kaum zu erkennen war, hielt sich neben einem dunklen SUV auf, bückte sich, blickte sich um. Auf einem Bild war er auf dem Boden kauernd zu sehen, er schien einen Gegenstand, den man nicht erkennen konnte, gegen den Reifen zu halten.
»So, so«, murmelte Lisa, »das ist ja interessant.« Sie steckte die Fotos wieder in den Umschlag und legte ihn zu dem Ordner auf den Wohnzimmertisch. Dann ging sie in die Küche, auf der Suche nach weiteren Dingen, die für die Ermittlungen relevant sein konnten. Als sie in eine Schublade griff, hatte sie plötzlich ein Bündel Geldscheine in der Hand. Beinahe im gleichen Augenblick glaubte sie, hinter sich eine Bewegung wahrzunehmen. Sie hatte nichts gesehen und nichts gehört, es kam ihr nur so vor, als sei irgendeine Art von Unruhe im Raum. Ihr Gespür für feine Vibrationen – oder was immer es war – rettete sie. Noch während sie herumfuhr, sauste ein länglicher Gegenstand auf sie nieder. Er prallte gegen ihren Arm, den sie instinktiv nach oben gerissen hatte. Sie konnte den Schlag zwar abschwächen, aber er war kräftig genug, um sie zu Boden zu schleudern. Im Fallen stieß sie mit dem Kopf gegen den Küchenschrank. Ein Hocker flog krachend gegen die Wand. Sie spürte einen scharfen Schmerz an der linken Hand und blieb benommen liegen.
›Was war das? Wer war das? War der Angriff vorbei?‹ Für Sekunden rasten diese Fragen durch ihren Kopf, aber sie war nicht in der Lage, sie zu beantworten oder sich zu bewegen. ›Hörte sie Schritte, die sich entfernten? Wurde eine Tür zugeschlagen? Oder träumte sie?‹ Sie kam wieder zu sich, schüttelte sich, stand auf. Mit aller Kraft drückte sie sich von der schwarzen Wand ab, die sich vor ihre Augen schieben wollte. Jetzt endlich zog sie die Pistole und lief schwankend zur Wohnungstür. Als sie die öffnen wollte, bemerkte sie, dass Blut auf den Fußboden tropfte. An ihrer linken Hand war ein tiefer Schnitt. Sie musste sich im Fallen die Haut aufgerissen haben. Egal.
Draußen an der Wohnungstür, mit einem Fuß im Flur, lauschte sie. Ein singendes Geräusch: der Aufzug. Nur eine halbe Sekunde zögerte sie, dann rannte sie die Treppe nach unten. Auf jedem Stockwerk blieb sie kurz stehen und horchte, ob der Fahrstuhl noch in Bewegung war. Auf der zweiten Etage hörte sie nichts mehr, stattdessen öffnete unten jemand die Haustür. Sie stürmte die letzten Treppenstufen hinab, riss die Tür auf – und stieß mit einem Mann zusammen, der seine Kamera gerade noch rechtzeitig zur Seite ziehen konnte.
»Pass doch auf, wo du hinläufst, Kind!«
»Haben Sie den Kerl gesehen, der gerade aus dem Haus kam?«
Der Mann mit der Kamera, untersetzt, wenige Haare, musterte sie mit einem eigenartigen Ausdruck, nicht überrascht, was sie gut verstanden hätte, sondern irgendwie erwartungsvoll. Nicht einmal ihre Waffe schien ihn zu erschrecken.
»Ich habe ihn fotografiert«, sagte er.
Sie war schon wieder ein paar Schritte weitergelaufen und sah, dass eine schlanke Person in einem grünen Kapuzenpulli quer über den Parkplatz vor der Wohnanlage lief.
»Wirklich?«
Lisa steckte die Visitenkarte, die ihr der Mann entgegenstreckte, hektisch ein. Seine Gesten und seine Stimme hatten etwas Unangenehmes, etwas Lüsternes, fand sie. »Ich kann Ihnen die Datei zukommen lassen. Ermitteln Sie auch in der Stricherszene?«
Sie war schon fast am Parkplatz. »Ich melde mich«, rief sie ihm zu.
Der Flüchtende war nicht mehr zu sehen. Lisa überquerte die freie Fläche zwischen zwei Reihen parkender Autos und lief dann einfach geradeaus weiter, in der Hoffnung, den Mann aus der Wohnung noch einmal zu Gesicht zu bekommen. Die Waffe steckte sie beim Laufen zurück ins Holster. Mit der rechten Hand presste sie ein Taschentuch auf die Wunde, die noch immer blutete. Sie überquerte den Hansering und stand in der Grünanlage am Schießwall, auf einem schnurgeraden Weg. Ganz am Ende sah sie ihn: Er bog ab und war erneut verschwunden. Sie versuchte den Weg abzukürzen und zielte diagonal auf die Hausecke an der Friedrich-Loeffler-Straße. Details brannten sich in ihre Wahrnehmung ein, wie bei einem Film, der an unwichtigen Stellen stehenbleibt. Die schiefen Wände eines Fachwerkschuppens auf der Ecke zur Friedrich-Loeffler-Straße. Eine schnurgerade gepflasterte Gosse neben der Marienkirche, eine Werbetafel mit der Aufschrift Papierhaus. Fahrräder vor einem Bankgebäude, die so aneinander lehnten, als würden sie sich umarmen. Weiter, immer weiter. Das Taschentuch auf ihrer Wunde war mittlerweile feucht und rot. Sie bog nach rechts ein und erreichte den Marktplatz. Sie atmete schwer und ignorierte das Ziehen in der Brust. Einige Verkaufswagen standen herum, es waren nicht sehr viele Leute unterwegs. Gab es einen grünen Kapuzenpulli? Da war er! Schlenderte dreist zwischen einem Wurstwagen und einem Gemüsestand hindurch. Wollte wohl keine Aufmerksamkeit erregen. Lisa umrundete die Verkaufsstände und lief dem Mann im Kapuzenpulli direkt vor die Nase. Mit erhobener Waffe ging sie auf ihn zu. »Polizei! Nehmen Sie die Hände langsam aus der Tasche!«
Zum ersten Mal sah sie ihn von vorn. Er war um die vierzig Jahre alt und hatte einen überraschend treuherzigen Gesichtsausdruck. Sie nutzte seinen Schreck aus und dirigierte ihn in Sekundenschnelle hinter einen Fischwagen, tastete ihn ab und legte Handschellen um seine Handgelenke. Dann rief sie die Kollegen im Revier an und bat um Verstärkung. Sie versuchte, zur Ruhe zu kommen, und drückte ein weiteres Taschentuch auf ihre Wunde, wahrscheinlich hatte sie eine theatralische Blutspur von Krohnhorsts Wohnung bis zum Greifswalder Marktplatz gelegt. Hätte sie das vor einem Jahr ihrer besten Freundin von der Polizeischule erzählt, sie hätten sich kaputtgelacht. Aber Lisa war nicht zum Lachen zumute. Dem Mann im Kapuzenpulli im Übrigen auch nicht. Er hatte zunächst überhaupt nichts gesagt und schien regelrecht unter Schock zu stehen. Auf den ersten Blick würde kein Mensch vermuten, dass sich so einer in die Wohnung eines Toten schlich und eine Polizistin zusammenschlug.
»Können Sie mir bitte sagen, was … ich, ich wollte doch nur …«
»Was haben Sie in der Wohnung gesucht?«
»Welche Wohnung denn?«
»Stellen Sie sich nicht dümmer, als sie sind!«
»Also, ich … ich wollte Käse kaufen.«
Seine dumme Ausrede klang erstaunlich überzeugend. Lisa hatte kein Verständnis für eine solche Dreistigkeit.. Wer versuchte, einer Polizistin den Schädel einzuschlagen, brauchte nicht auf eine zarte Behandlung zu hoffen. Das sagte sie auch den uniformierten Kollegen, die nach wenigen Minuten mit zwei Streifenwagen eintrafen. Sie hörten sich an, was passiert war, und klärten den Täter darüber auf, dass sie ihn nun auf die Polizeiwache verfrachten würden. Die Sache würde ihren Lauf nehmen. Aber dann tauchte diese Frau auf. Hellbraune Locken, Lederjacke, Seidentuch, Stiefeletten mit Silbernieten.
»Was haben Sie denn mit meinem Mann vor?«
Es klang so, als wolle die Polizei ihr das schönste Spielzeug wegnehmen. Sie wandte sich dem Mann im Kapuzenpulli zu.
»Schatz, du solltest den Käse kaufen, nicht klauen!«
»Diese Polizistin hat mich bedroht«, rief der Verdächtige. »Sie redet von irgendeiner Wohnung. Ich bin gar nicht dazu gekommen, den Käse zu kaufen! Ich wusste auch nicht mehr, ob du den Emmentaler oder den Rügener haben wolltest.«
In diesem Moment wurde Lisa klar, dass der Streit um den Käse so echt war wie die roten Tropfen auf den Bodenplatten des Greifswalder Marktplatzes. Sie hatte den falschen Mann erwischt.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.