Kitabı oku: «Greifswalder Gespenster», sayfa 3
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»Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich mache es kurz: Kriminaloberkommissarin Sylke Bartel war ja nun einige Tage hier, um mit Ihnen die zukünftigen Arbeitsabläufe zu trainieren. Wie sie mir berichtet hat, ist dieser Prozess noch nicht abgeschlossen. Zugleich sind wir mit einem Tötungsdelikt konfrontiert, das dringend aufgeklärt werden muss. Daher freue ich mich Ihnen mitteilen zu können, dass Frau Bartel in Absprache mit ihrer Dienststelle in Stralsund für eine kurze Zeit die Dienstgruppenleitung bei uns übernehmen wird – so lange, bis der Fall Krohnhorst aufgeklärt oder eine Aufklärung in Sichtweite ist.«
Damit war es raus. Polizeirat Klüver, ein hölzern wirkender Endfünfziger mit dünnem Haar, blickte in die Runde. Ein gutes Dutzend Beamte waren im Raum, sie alle würden in irgendeiner Weise an den Ermittlungen beteiligt sein. Sylke war vor allem auf die Reaktion der Personen gespannt, mit denen sie eng zusammenarbeiten sollte. Da war zum einen Lisa Kaup, eine zierliche und zurückhaltende Kollegin, deren Intelligenz Sylke sehr schätzte. Sie war immer gleichbleibend freundlich, hatte aber auch etwas Geheimnisvolles – man wusste nie genau, was sie wirklich dachte. Das wiederum war nicht das Problem von Philipp Danofski. Es war ein offenes Geheimnis, dass er die Dienstgruppenleitung übernehmen und Lisa seine Stellvertreterin werden sollte. Sylke hatte Philipp spüren lassen, dass sie ihm diese Aufgabe im Augenblick noch nicht zutraute. Er erschien ihr einfach zu ungestüm und zu sehr auf sich selbst bezogen. Ihm fehlte die Distanz, der einordnende Überblick.
Nach Klüvers Ankündigung, dass Sylke vorübergehend in Greifswald bleiben würde, drehte sich Lisa kurz zu ihr um und deutete ein Lächeln an – es wirkte bemüht, war aber immerhin eine Geste. Philipp hingegen starrte vor sich hin und knetete dabei seine Unterlippe. Seine Gleichgültigkeit war ein klares Statement. Er regte sich auch nicht, als Klüver eine kurze Pause machte, um den Anwesenden Gelegenheit für einen kurzen Begrüßungsapplaus zu geben. Es trat aber nur einen Moment betretener Stille ein, bevor der Polizeirat noch einige anspornende Worte hinzufügte, die Sylke sofort wieder vergaß. Sie stand auf, bedankte sich und erklärte, dass sie sich auf die Herausforderung freue – was der vollen Wahrheit entsprach. »Lasst uns gleich loslegen«, sagte sie. »Je zügiger wir ermitteln, umso schneller seid ihr mich wieder los.« Pause. Niemand lachte, niemand sagte etwas. Polizeirat Klüver verabschiedete sich und eilte davon.
Nach einer kurzen Pause kam das Kernteam zu einer ersten Besprechung zusammen. Sylke nahm sich vor, sich ganz auf die Sache zu konzentrieren und alle Vorbehalte gegen ihre Person vorläufig zu ignorieren. »Wir sollten heute alle Informationen sichten, die wir bislang haben. Was liegt vor?«
Lisa schlug ihre Mappe auf. »Zunächst zum Opfer: Dr. Roland Krohnhorst, 72 Jahre, alleinstehend. Er hat zwei erwachsene Kinder, die im Rheinland und in München leben und inzwischen benachrichtigt wurden. Krohnhorst stammt aus Köln, war in den 1990er-Jahren in leitender Funktion in der Greifswalder Kreisverwaltung tätig. Eigentlich sollte er Landrat werden, hat dann aber einen Posten im Innenministerium in Schwerin übernommen. Nach seiner Pensionierung ist er nach Greifswald zurückgekehrt. Er hat hier wohl noch viele Freunde und auch gute Verbindungen in die Politik. Soweit ich das sehe, lebt er allein und hat kürzlich eine Wohnung in einem dieser neuen Häuser in der Hafenstraße bezogen.«
»Quartier am Ryck?«, warf einer der Beamten grimmig ein. »Da hab ich mir mal ’ne Wohnung angesehen. Nur so aus Spaß. Für die Hälfte der Miete hätte ich sie genommen.«
Die anderen grinsten, der Einwurf schien Lisa aus dem Konzept zu bringen. Sylke nickte ihr aufmunternd zu. »Im Waldgebiet am Prägelbach, also am Fundort der Leiche, ist Krohnhorst Jagdpächter. Er ist seit fünfzehn Jahren geschieden und nicht vorbestraft.«
»Danke Lisa. Gibt es schon Erkenntnisse zur Tat?«
»Die Gerichtsmedizin war ja vor Ort. Die erste Einschätzung ist etwas merkwürdig: Krohnhorst hat einen kräftigen Schlag auf den Hinterkopf bekommen. Allerdings war das nicht die Todesursache – er ist ertrunken. Wie wir alle gesehen haben, lag er nicht im Wasser, müsste also nach seinem Tod noch bewegt worden sein. Dafür wiederum finden sich am Tatort keine Spuren. Das passt alles nicht so richtig zusammen.«
»Ja, sonderbar. Wir müssen wohl den Obduktionsbericht abwarten. Was noch?«
Lisa erläuterte, dass die Spurensuche vor Ort wenig ergeben habe. Im Gebüsch habe man ein Fernglas gefunden, das dort wohl noch nicht lange gelegen habe. Es befinde sich noch in der Kriminaltechnik. Erstaunlicherweise seien kaum Fußabdrücke zu finden gewesen. »Geht man nach den Fußspuren, war außer Pölzner in den letzten Tagen niemand direkt am Bachufer.«
»Ich sag’s doch die ganze Zeit«, murmelte Philipp, der auf seinem Stuhl hing wie ein schlecht erzogener Neuntklässler. Vor ihm auf dem Tisch stand eine Brotdose mit Weintrauben, von denen er hin und wieder eine nahm und zwischen den Backenzähnen aufplatzen ließ. Sylke blickte ihn streng an. »Philipp, was wolltest du sagen?«
Der Kriminalkommissar setzte sich umständlich auf und strich sich über den Bart. »Die Befragung von Pölzner wurde gestern von dir abgebrochen, obwohl sich Verdachtsmomente ergaben. Und jetzt kommen weitere dazu. Krohnhorst scheint etwas gegen die Ausbreitung der Biber zu haben, für die sich Pölzner einsetzt. Möglicherweise hat Krohnhorst den Biberdamm beschädigt, Pölzner hat ihn dabei erwischt, es kam zum Streit, Pölzner hat zugeschlagen. Peng. Ich habe den Herrn übrigens für morgen früh aufs Revier geladen.«
Philipp lehnte sich wieder zurück, so, als solle sein Arbeitstag mit dieser Einlassung beendet sein. Sylke spürte, wie Wut in ihr hochstieg. Sie durfte sich hier nicht vorführen lassen, sie durfte auf solche Provokationen aber auch nicht überreagieren. ›Bleib bei der Sache‹, sagte sie sich. Sonst würde sie am Ende genau das tun, was sie Philipp vorwarf: Den Blick aufs Ganze verlieren.
»Okay«, sagte sie gedehnt. »Dann verdichten sich ja die Hinweise, dass der Fall eine schnelle Lösung finden könnte. Sollen wir es drauf ankommen lassen und unsere Arbeit einstellen, bis wir Pölzner befragt haben?«
Die anderen sahen sie erstaunt an.
»Äh, nein«, sagte Lisa schließlich. »Ich denke, wir müssen im Augenblick in verschiedene Richtungen ermitteln und das alles noch mit weiteren Informationen stützen.«
Sylke lächelte. »Danke. Ich hatte schon befürchtet, ihr habt das Denken komplett eingestellt.«
Sie sah aus den Augenwinkeln, wie Philipp auf dem Tisch seine Faust ballte. In diesem Augenblick wurde ihr endgültig klar, dass es zwischen ihr und dem ungestümen Nachwuchskommissar noch laut werden würde. Vorläufig bemühte sie sich um einen milden Ton. »Was also schlagt ihr vor?«
Lisa tippte mit dem Zeigefinger auf den Tisch. »Wir brauchen mehr Informationen über Krohnhorst. Familie, Freunde, vielleicht auch Konflikte aus seiner aktiven beruflichen Zeit.«
»Korrekt. Lisa kümmerst du dich darum, dass wir in Krohnhorsts Wohnung kommen?«
»Eine der wichtigsten Fragen wird die nach Pölzners Alibi sein. Die Glaubwürdigkeit seiner Angaben können wir besser einschätzen, wenn wir mehr über sein Umfeld wissen. Wir könnten uns in der Nachbarschaft umhören.«
»Sehr gut, Lisa.«
»Sind am Streit zwischen Krohnhorst und den Naturschützern noch weitere Personen beteiligt? Was genau macht dieser Heimatverein?«
»Auch wichtig.«
»Was ist das für ein Fernglas? Wem gehört es? Wir sollten Fotos anfertigen und sie zu den Befragungen mitnehmen.«
»Stimmt genau. Lisa, ich sehe, wir werden hier super zusammenarbeiten. Kannst du gleich zur Kriminaltechnik gehen und nachsehen, ob die schon etwas Neues haben?«
Sie verteilte weitere Aufgaben. Philipp sollte sich zusammen mit zwei Ermittlerteams an Pölzners Wohnort umhören, ein weiteres Team Informationen in den Datenbanken der Polizei und aus Internetquellen sammeln. Sie selbst traf sich wenig später in ihrem Büro mit Lisa, die das am Prägelbach gefundene Fernglas auf den Tisch legte. Es steckte in einer durchsichtigen Beweismitteltasche. »Also, die Techniker meinten, …«
»Moment«, unterbrach Sylke sie, »ich wollte dir noch sagen, dass ich von deinem Engagement sehr angetan bin. Mach bitte so weiter.«
Die junge Kollegin strich sich verlegen die Haare hinters Ohr und lächelte.
»Du stellst die richtigen Fragen, Lisa. Wirklich. Wenn du den Eindruck hast, dass etwas falsch läuft, dann trau dich ruhig und geh dazwischen. Etwas mehr Selbstbewusstsein und du wärst hier irgendwann Dienstgruppenleiterin.«
Lisa schüttelte den Kopf. »Ist für den Job nicht schon Philipp vorgesehen?«
»Davon weiß ich offiziell natürlich nichts, geht mich ja auch nichts an. Den Job sollte der Beste bekommen und nicht der Lauteste, oder?«
Sie wandten sich dem Fundstück vom Prägelbach zu. Es war ein handliches, olivgrünes Fernglas.
»Die Techniker meinten, es sei zwar etwas verdreckt gewesen, aber nicht so, als hätte es schon längere Zeit an dem Bachufer gelegen. Vielleicht nur wenige Stunden, vielleicht auch ein paar Tage.«
»Das heißt, es könnte im Zusammenhang mit unserem Fall eine Rolle spielen.«
Lisa nickte.
»Durchaus. Verwertbare Fingerabdrücke haben die beiden nicht gefunden. Aber sie wollten da nochmal eine zusätzliche Untersuchung durchführen. Leider ist diese Art von Fernglas sehr verbreitet. Das bekommt man in Läden für Camper, Wanderer oder Jäger. Es gibt aber eine Besonderheit.«
Sie hob die Tasche mit dem Feldstecher an und zeigte auf eine Stelle nahe am Mittelgelenk.
»Hier hat jemand die Buchstaben MN eingeritzt.«
»MN? Was kann das bedeuten? Sind das die Initialen des Besitzers? Jedenfalls nicht von Dirk Pölzner. Vielleicht irgendeine Kennung: Mittlere Neiße oder sowas?«.
Lisa musste lachen. »Nee, glaube ich nicht. Dann schon eher: »Makellose Natur.«
Sylke sah sie überrascht an. »Ich biete: Mysteriöser Nebel«.
»Mutters Neuer.«
»Mordsgefährliche Notariatsangestellte.«
»Mozarts Nichte.«
»Mieser Normalo.«
Lachend ließ sich Sylke in die Lehne ihres nagelneuen Bürostuhls fallen. Im gleichen Augenblick bemerkte sie Philipp, der ihnen durch die halb offene Tür zusah. Er hatte wohl einiges mitbekommen, zumindest aber den Miesen Normalo. Mit verkniffenem Blick trat er ein.
»Wir haben einige Namen und Adressen aus dem Umfeld Pölzners recherchiert und fahren jetzt da raus.«
»Okay, prima«, sagte Sylke. Aber in Gedanken formulierte sie etwas ganz anderes. Es lief nicht gut mit dem Team. Es lief überhaupt nicht gut.
7
Das Problem waren die Übergänge. Holz auf Stahl. Tom hatte ein Stück der grauen Innenverkleidung entfernt, welche die bislang heikle Verbindung kaschiert hatte. Jetzt stocherte Frank, der breitschultrige Tischler, mit einem Schraubenzieher in der offenen Wunde herum. Schwarze Bröckchen und butterweiche Holzfasern fielen auf den Boden. Die Dichtungsmasse in den Ritzen war zerbröselt, Wasser hatte eindringen können. Das Holz war unbemerkt verfault.
»Die Abschlussleisten müssen raus«, sagte Frank. »Alle. Und dann müssen wir sehen, ob wir die Stützen, die das Dach tragen, retten können. Aber zuerst muss die Einfassung entrostet und behandelt werden. Kannst du das machen?«
Tom nickte. Er kam sich vor wie ein Schuljunge, der nicht bemerkt hatte, dass sich in seinem Ranzen eine giftige Spinne häuslich eingerichtet hatte. Seine alte Barkasse war stärker beschädigt, als er vermutet hatte. Der Plan, nach zwei oder drei Tagen Greifswald wieder verlassen zu können, löste sich in Luft auf. Und wovon er die Rechnung bezahlen würde, war ihm auch noch nicht klar.
Sie stiegen an Deck. Nieselregen hatte eingesetzt. Frank reichte ihm seine kräftige Hand und stieß, als er an Land gehen wollte, beinahe mit Tanja Grundler zusammen.
»Ah, der Schiffsdoktor?«
»Die Diagnose war nicht sehr erfreulich«, sagte Tom grummelnd. Tanja deutete auf das Werftgelände. »Hier war ich noch nie. Das ist ja fantastisch.« Sie ging ein paar Schritte zum Hof der Museumswerft und stolzierte dabei wie ein Storch über die Transportschienen, auf denen die reparaturbedürftigen Schiffe aus dem Wasser gezogen werden konnten. Überall lagen Holzreste herum. Neben der großen Slipanlage war ein alter Segler aufgebockt. Die Werftleute hatten die Bordwand an mehreren Stellen geöffnet, aus den Spanten waren Teile herausgesägt worden. Dahinter gähnte ein schwarzes Nichts. Es war eine Operation am offenen Herzen, in der Luft hing der Geruch nach Schiffspech und feuchtem Holz. »Das ist unheimlich. Und beeindruckend.«
Tom war Tanja gefolgt. »Hier bekommt man eine etwas andere Vorstellung von der Zeit, in der die Mondnachtbilder aus dem Museum entstanden sind, oder? Harte Arbeit, gebrochene Planken, vernarbte Schiffe. Das unaufhörliche Ankämpfen gegen Undichtigkeit, Fäulnis und ungünstige Winde.«
»Willst du mir mein Faible für die Romantik austreiben?«
»Ich denke, dass man nicht die Bodenhaftung verlieren sollte.«
Tanja wandte sich zur MATHILDA um. »Und das Schiffchen da? Ist das nicht auch so ein Ding, mit dem man den festen Boden hinter sich lässt?«
Tom musste lächeln. »Ertappt. Ich habe die Barkasse tatsächlich vor der Verschrottung gerettet, als ich in einer echten Krise war. An dem Boot herumzubasteln war monatelang das Einzige, was ich hinbekommen habe.«
Sie gingen zurück zur MATHILDA. Tanja ließ sich die Barkasse zeigen und staunte über den gemütlich eingerichteten Salon, der sich gerade in eine Baustelle verwandelte. Tom hatte bereits eine Kanne mit Kaffee bereitgestellt, aber Tanja schlug vor, einen Spaziergang zu machen. »Ich muss nachher noch zu einem Besuch in die Universitätsklinik. Auf dem Weg dorthin kann ich dir einen meiner Lieblingsorte in Greifswald zeigen. Ich denke, bei dem tristen Wetter werden wir niemanden treffen, der mir Ärger machen könnte.«
Sie gingen zur neu angelegten Uferpromenade und überquerten dann das Hafenbecken auf der Fußgängerbrücke. Tom berichtete von seinem Besuch als vermeintlicher Investor bei der Starkwind AG. »Nach außen geben die sich fortschrittlich und naturverbunden. Aber ich denke, das ist nur die halbe Wahrheit. Das Unternehmen steht unter Druck, weil im Augenblick kaum noch neue Windparks gebaut werden. Der Geschäftsführer behauptete aber, dass er kurz davor sei, für den Windpark auf der Friedländer Großen Wiese eine Genehmigung zu beantragen.«
Tanja sah ihn erschrocken an. »Dazu bräuchte er doch Zugriff auf alle Grundstücke.«
»Korrekt. Vielleicht hat er geblufft. Ich bin mir nicht sicher.«
»Wie kann das sein? Meinst du, sie haben Malte …?«
»… entführt? Erpresst? Keine Ahnung. Ich überwache das Auto des Geschäftsführers – nicht ganz legal, aber anders komme ich nicht dran. Zwischenzeitlich habe ich überlegt, ob es nicht besser wäre, einen weiteren Vorstoß bei der Polizei zu unternehmen. Ich habe kein gutes Gefühl.«
Tanja schüttelte den Kopf. »Die sind so träge, so unwillig.«
»Hast du Informationen über die Landbesitzer, auf deren Flächen die Windräder gebaut werden sollen? Gibt es vielleicht eine Möglichkeit, Maltes Flurstücke zu umgehen?«
Wieder schüttelte sie den Kopf. »Das hätten sie sonst längst gemacht. Seit acht Jahren geht das Gezerre jetzt schon. Malte hat mir mal einen Plan geschickt, auf dem die Grenzen seines Landes eingezeichnet sind. Sie brauchen diese Flächen.«
Als sie den Hansering hinter sich gelassen hatten, wurde der Uferweg ruhiger. Sie passierten neu errichtete Wohnkomplexe, an der Kaimauer wechselten sich historische Segler mit modernen Jachten ab. »Es geht mich ja nichts an«, sagte Tom, »aber gibt es da keine Kompromissmöglichkeiten? Der Strom der Windräder wird ja dringend gebraucht.«
Tanja schüttelte den Kopf. »Ich will mich da nicht einmischen. Maltes Verhalten wirkt von außen vielleicht verbohrt, aber es stimmt doch, was er sagt: Du kannst einen Seeadler nur einmal umbringen. Die Natur ist immer auf der Verliererseite, wenn der Mensch sich ausbreitet. Das alles wird in eine globale Katastrophe führen, die längst begonnen hat. Es muss Menschen geben, die bedingungslos für die Natur eintreten.«
Tom fiel es schwer, von einem einzigen Windpark auf die ganze Welt zu schließen. »Ich bin im Augenblick etwas ratlos, wie es weitergehen könnte.«
Sie hatten inzwischen ein Wohngebiet gestreift und standen jetzt vor einem halb geöffneten schmiedeeisernen Tor. »Hier willst du hin?«, fragte Tom. »Auf einen Friedhof?«
»Es ist nicht irgendein Friedhof – es ist der Alte Friedhof von Greifswald, angelegt vor über zweihundert Jahren. Lass uns reingehen.«
Tom hielt das wieder für eine von Tanjas Marotten. Aber schon nach den ersten Schritten begann er zu verstehen, warum sie diesen Ort faszinierend fand. Die Betriebsamkeit der Stadt war vergessen. Bäume wuchsen zwischen und dicht neben den Gräbern, an einigen Stellen wirkte es so, als würden die alten Grabsteine von mächtigen Wurzeln gehalten wie von Händen. Kleine Monumente, verwitterte Statuen und sehr alte Grabmäler schienen Geschichten zu erzählen, denen die wuchernden Gräser und Sträucher aufmerksam zuhörten. Viele der menschlichen Gedenkzeichen waren von Efeu umschlungen; es schien so, als hätte sich das Reich der Verstorbenen mit dem der Natur verbündet.
»Mir ist noch etwas eingefallen«, sagte Tanja. Sie kramte in ihrer Handtasche und reichte Tom einen Zettel. »Das ist die Telefonnummer von Dirk Pölzner. Ich habe ihm schon Bescheid gesagt, dass du dich bei ihm meldest. Er ist ein etwas eigenwilliger Typ, fünfzig Jahre alt, wohnt bei seiner Mama, im gleichen Dorf, in dem auch Malte mit seiner Familie bis vor eineinhalb Jahren gelebt hat. Pölzner ist Maltes Nachfolger als Naturschutzwart am Prägelbach und irgendwie ein Fan von ihm.«
»Ein Fan?«
»Er bewundert ihn. Vor allem interessiert er sich für Greifvögel. Angeblich vertreibt die Starkwind AG an bestimmten Stellen Seeadler und Milane. Soweit ich weiß, versucht Pölzner, Beweise dafür zu finden.«
Tom steckte den Zettel ein. Sie waren am Ende des Friedhofs angekommen. Ein Zaun trennte ihn von einer weitläufigen Brachfläche, dahinter waren die Masten der Segelschiffe zu sehen, die sich am Ufer des Ryck aufreihten. In dieser Stadt schien wirklich alles miteinander verbunden zu sein, dachte Tom. Tanja drehte sich um und folgte seinem Blick. »Da draußen auf diesem wilden Gelände geht Malte gern joggen. Er wohnt gar nicht weit von hier. Ich war schon einige Male hier und an seiner Wohnung. Natürlich immer, ohne eine Spur von ihm zu entdecken.«
Sie waren plötzlich wieder beim Thema. »Die Ungewissheit muss sehr quälend für dich sein«, sagte Tom. Der Satz reichte, um bei Tanja einen Damm brechen zu lassen. Ein Schwall bitterer Worte platzte aus ihr heraus. »Es ist die Hölle. Zuhause in Ueckermünde kann ich mit niemandem sprechen. Du bist jetzt der einzige, aber auch meine Besuche hier müssen geheim bleiben. Ich brauche immer einen Vorwand, um nach Greifswald zu fahren. Das geht im Augenblick ganz gut, weil ich einen alten Herrn aus unserer Gemeinde besuche, der in der Universitätsklinik liegt.«
Für einen Augenblick dachte Tom, seine Auftraggeberin würde in Tränen ausbrechen, aber sie bekam ihre Verzweiflung unter Kontrolle. »Entschuldige, dass ich so direkt frage: Ist dieses geheime Doppelleben eine gute Perspektive?«
»Nein«, sagte Tanja mit fester Stimme, »ist es nicht.« Sie zögerte, schien zu überlegen, ob sie weitersprechen sollte. Dann tat sie es, schnell, als müsse sie in wenigen Augenblicken noch alles loswerden, was sich in ihr aufgestaut hatte. »Ich habe etwas erlebt, das ich schwer in Worte fassen kann. Es reicht nicht zu sagen, dass Malte und ich uns lieben. Das klingt so abgedroschen, finde ich. Wir sind ja keine Teenager mehr. Aber zwischen uns ist eine Kraft, von der ich nicht gewusst habe, dass es sie gibt. Wir wollen ausbrechen. Wir sind wie zwei Schwerverbrecher, die ihr Leben in die Hand des jeweils anderen legen, um über eine Mauer zu klettern und die Freiheit zu finden. Beide wissen: Anders geht es nicht. Anders bleibt das Leben ein Gefängnis. Für immer.«
Ein solches Bekenntnis hätte Tom nicht erwartet, schon gar nicht an diesem Ort, dem altertümlichen Friedhof. Tanja wartete seine Reaktion nicht ab. »Malte und ich haben einen Plan. Ich habe dir ohnehin schon viel zu viel erzählt, da kommt es jetzt auch nicht mehr drauf an. Wir wollen zusammen hier weggehen. Es ist alles vorbereitet. Zuletzt haben wir nur noch den richtigen Zeitpunkt gesucht. Wenn ich meinen Mann mit der Tatsache konfrontiere, dann … dann wird es sehr schwierig. Und dann muss ich genau wissen: Jetzt, in diesem Moment, kann ich gehen und bin dann weit weg.«
Tom kniff die Augen zusammen. »Das klingt jetzt beinahe bedrohlich. Hast du Angst, dass er gewalttätig werden könnte? Er ist Pastor. Ich dachte, solche Leute sind schon von Berufs wegen gewaltfrei.«
Sie lächelte traurig. »Er ist eigentlich ein gutherziger Mensch. Er setzt sich für andere ein, wo er nur kann. Er leistet hervorragende Arbeit in der Gemeinde und ist im Alltag sehr umgänglich. Aber wenn etwas passiert, das bestimmte Grenzen überschreitet, dann kann er zornig werden. Dann ist er unberechenbar. Ich fürchte nicht ernsthaft, dass er auf mich losgehen würde, aber ich möchte mich seiner Wut nicht aussetzen.«
»Verständlich«, sagte Tom. »Wo willst du denn mit Malte hingehen?«
»Er hat in Kanada ein Haus gekauft, in einem kleinen Ort, irgendwo im Nichts.«
»Kanada? Also richtig weit weg!«
»Vor allem weg von den Nachstellungen, Beleidigungen und Bedrohungen. Das hält doch kein Mensch aus. Malte hat es so satt. Was hat denn dieses Land hier zu bieten außer der Natur? Ist das nicht der größte Schatz? Diese wunderbare Küste, Weite und Einsamkeit, Seen und geheimnisvolle Wälder und große Flächen mit Schilf und Marschland. Malte sagt nichts weiter als: ›Hey, ihr müsst das ernst nehmen, ihr seid nicht allein, auch die Tier- und Pflanzenwelt will sich entfalten können!‹ Aber diese verstockten Leute hier fühlen sich sofort beeinträchtigt oder persönlich beleidigt. Manchmal kann man eben nicht profitieren, nicht alles bauen, abtragen, trockenlegen, einbetonieren. Ich hasse diese Profitgier, diese Ignoranz, diese Eigensucht! Wir Menschen sind doch nicht nur für uns selbst da! Wir müssen uns auch mal zurücknehmen können!«
Sie hatte sich in Rage geredet, jetzt trat sie einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf, irritiert über sich selbst. »Entschuldigung«, sagte sie, »das hatte ich gar nicht beabsichtigt, aber du merkst, das alles hier macht mich ganz schön fertig.« Sie sah sich nervös um. »Ich muss jetzt gehen. Und ich hoffe, dass ich dich mit meinen Geschichten nicht zu sehr überfrachte.«
»Es ist immer gut, wenn ich einen Überblick über die Verhältnisse habe«, sagte Tom diplomatisch.
Tanja hatte es jetzt eilig. »Am besten wartest du noch einen Moment, bevor du gehst.« Sie hob die Hand zu einem etwas unbeholfenen Gruß und eilte davon, um sich dann aber doch noch einmal umzudrehen. »Wenn sich das einrichten lässt, dann würde ich gern mal mit dir auf den Greifswalder Bodden rausfahren. Und wenn es irgendwie geht, nachts bei Mondschein.«