Kitabı oku: «'I'-Gene», sayfa 5
Leipzig, Tübingen, 2054 n.Chr.: Thor braucht Hilfe
Andromeda und Thor arbeiteten bei der anstehenden Sequenz-Analyse plötzlich sehr eng zusammen. Thor saß ihr geradezu auf dem Schoß, was Carol überhaupt nicht gut fand, als sie es so nebenbei von ihm erfuhr. Sie beiden seien dabei, umwerfende neue Erkenntnisse zu gewinnen, die ihm den Nobelpreis sichern würde. Immer wieder fuhr er mit der Straßenbahn zu der Kollegin in die Permoserstraße.
Nach langen Diskussionen über die Art ihrer Analyse kamen die beiden Wissenschaftler überein, dass sie eine Software benötigten, mit der sie einen detaillierten Vergleich von drei Genomen schnell und leicht vornehmen können sollten:
# Mensch
# Schakal
# Genom des Schlüsselbein-Knöchelchens
Daraufhin verzog sich Andromeda in eine Klausur und entwarf oder passte Software solange an, bis sie ein exzellentes Ergebnis hatte.
Thor schickte ihr die Sequenz-Daten und Andromeda startete die Analyse. Wie nicht anders zu erwarten, lief die Software fehlerfrei, fast eine Woche lang. Danach hatten sie ein Ergebnis, das – wie immer – mehr Fragen als Antworten aufwarf. Thor schenkte aus einem Gefühl heraus, vor allem dem Vergleich der Gen-Kassetten für die Reproduktion, besondere Aufmerksamkeit. Dabei stellte er fest, dass Mensch und Schakal eine weitgehende Übereinstimmung von Gen-Sequenzen hatten, die interessanterweise bei der alten Sequenz vom 'Schlüsselbeinchen', wie sie es scherzhafterweise nannten, komplett fehlte.
Hingegen wies letzteres mehrere Gene auf, die bei Mensch und Hund fehlten. Wie war das zu erklären? Bei einem Meeting mit Andromeda war Thor fast verzweifelt, weil er keine Idee hatte, was das alles zu bedeuten hätte. „Wir brauchen externe Hilfe!“, stellte sie kühl fest, „wir brauchen Experimente! Neue Experimente! Ich muss jetzt los“, sagte sie noch und wollte gerade gehen. Ihr war das jetzt alles zu intim. „An wen dachtest du?“, fragte er und hielt sie am Arm, was sie gar nicht leiden konnte und sich sofort befreite. „Na, Tübingen, zum Bleistift“, sagte sie scherzhaft, in dem sie das Wort 'Beispiel' verballhornte, „da in der Spemannstraße sind doch Institute, die mit Drosophila arbeiten. Die schnelle Reproduktion dieser Tierchen wäre doch ideal für solche Experimente. Etwas Gen- bzw. gRNA-Synthese, und dann etwas CRSPR/Cas 9–Schneiderei und wir sollten sehen, was diese Gene machen!“ Dann war sie weg. Thor hasste es, Kollegen, oder, noch viel weniger Kolleginnen, zu einer Mitarbeit zu überreden.
Aber er nahm dennoch eine Ein-Personen-Zelino-Drohne und flog von Leipzig nach Tübingen.
Die Zelino-Drohnen-Technologie war der neueste Schrei für die Bewältigung des Kurz- und Mittelstreckenverkehrs:
Es war eine Kombination der guten, uralten Zeppeline mit den neuesten Entwicklungen der Drohnen-Technologie. Basis war ein fast pfeilförmiger Behälter, der mit Helium gefüllt war und die darunter hängende, ebenfalls sehr stromlinienförmige Gondel, in der Luft hielt. Zur Fortbewegung wurden Elemente auf der Basis von Elektromotoren eingesetzt, die sowohl aus Akkus, als auch aus Solarzellen gespeist wurden, mit denen der Heliumbehälter vollständig bedeckt war.
Kurz nach der Jahrtausendwende wurde schon einmal versucht, die damals beinahe hundertjährige Zeppelin-Technologie wieder neu zu beleben. Das damalige Projekt ‚Cargo-Lifter‘ war allerdings gigantomanisch. Übrig blieb nur die Montagehalle, die als 'Tropic Island' bis heute überlebte.
Erst die Verkleinerung und die Kombination mit den Technologiefortschritten der Flug-Drohnen brachten einen Durchbruch.
Gesteuert wurden diese 'Zelinos', wie sie abgekürzt genannt wurden, von Leitzentralen am Boden wie die Drohnen, also wie von Fluglotsen in alten Zeiten. Einen Piloten bedurfte es deswegen nicht.
Start und Landung erfolgte in sogenannten 'Zelino-Dromen', die aussahen wie Hochhäuser mit 15 – 20 Stockwerken und ganz oben eine kreisrunde Öffnung hatten, in die die Zelinos hineinflogen. Dort konnten die Passagiere die Gondeln verlassen. Gleichzeitig wurde bei Bedarf das Helium aus dem Behälter gepumpt und das Zelino in einer daneben gelegenen Parkgarage automatisch abgestellt.
Wurde ein weiterer Flug mit neuen Passagieren beabsichtigt, konnten ohne Ablassen des Gases, Gondeln und Akku-Einheiten ausgetauscht werden und die neuen Passagiere innerhalb von Minuten nach Ankunft wieder losfliegen.
Es gab mehrere Gondeltypen, je nachdem wie viele Personen flogen, wobei Ein- oder Zweisitzer am beliebtesten waren. Bei einer Reisegeschwindigkeit von max. 500 km/h und einem annehmbaren Preis waren die besonders leise fliegenden Zelinos schnell sehr beliebt.
In Leipzig wurde nach langen Diskussionen und Auseinandersetzungen mit diversen Bürgerinitiativen der alte Messepavillion der UdSSR – der mit dem roten Stern auf dem alten Messegelände – umfunktioniert und, in einer für Leipzig so typischen Synthese von alt und neu, zu einem 'Zelino-Drom' umgebaut. Als es eingeweiht wurde lobte die Presse den Umbau, ähnlich wie ehemals bei dem Haupt-gebäude der Uni am Augustus-Platz, in höchsten Tönen.
In Tübingen verhinderten eben diese Bürgerinitiativen, die sich ja mit Neuem in der Regel immer etwas schwer tun, sehr lange den Bau eines neuen, architektonisch heraus-ragenden Zelino-Droms, auf dem Horemer am Rande der Stadt. Wegen der Anhöhe, konnte der Bau extrem niedrig gehalten werden. Letztendlich setzte sich die Vernunft durch und eine Volksbefragung gab mit knapper Mehrheit den Bau frei.
Dort in Tübingen, am Horemer-Zelino-Drom, landete Thor, lief zu Fuß zu den Instituten und genoss den Anblick des Alb-Anstiegs in der Abendsonne. Er wurde in das Gästehaus des Instituts einquartiert und schlief anschließend sehr gut in der ruhigen Umgebung der schwäbischen Neckarstadt.
Am nächsten Tag hielt er einen Vortrag, was zu dem üblichen Ritual des gängigen Wissenschaftskodex gehörte. Eine ältere hagere Dame stellte ihm viele Fragen und erschien immer interessierter. „Thor, haben Sie dafür ein Forschungsbudget?“, war ihre letzte Frage. „Nein, leider nicht!“ Er befürchtete schon das Aus. Da meldete sich ein soignierter Anzugträger mit Krawatte und sagte: „Ich habe alles genau verfolgt und es mag sein, dass ich ihnen beiden bei der Finanzierung helfen kann!“ Obwohl Thor den Herrn nicht kannte, glaubte er zu wissen, dass die Schweizer Pharmaindustrie hinter dem Unbekannten stand. „Wir können Details später klären!“ Thor war verblüfft.
Zurück in Leipzig berichtete er alles in Andromedas Büro. „Na siehst du, läuft doch!“, kommentierte sie knapp.
Nach einigen Wochen bekam Thor eine E-Mail aus Tübingen: „Lieber Thor, wie schnell können Sie kommen, um die Daten zu diskutieren?“ Er antwortete, dass er schon morgen eintreffen und eine Spezialistin aus der Bioinformatik mitbringen werde.
Carol fiel aus allen Wolken und machte ihm am Abend eine riesige Szene. „Das ist ja die Höhe! Jetzt turtelt ihr schon nach Tübingen!“, schrie sie ihn an. Er hatte damit nicht gerechnet und beschloss, ihre Schimpftiraden auszusitzen.
Am nächsten Tag saßen die beiden Wissenschaftler in einer Zwei-Personen-Zelino und flogen nach Süden. Andromeda fühlte sich äußerst unwohl in der engen Kiste und so nahe bei Thor. Sie konnte die Situation kaum ertragen und suchte auf ihrem Notepad in den gekauften Files nach einer Lektüre zum Trost. Kaum hatten sie das Neckar-Knie bei Plochingen erreicht, stieß sie auf einen File, bei dem dieser Fluss auch erwähnt wurde. Die Geschichte begann allerdings in einer ganz anderen Ecke Europas:
Im Morgengrauen
Ich, Al der Turmschreiber, wage ein Experiment, einen Zeitsprung in ein neues Jahrtausend. Ich sitze in Volissos, einem Ort der griechischen Insel Chios, im Frühjahr 2001, auf der Terrasse, mit dem Notebook, bei Tagesanbruch und höre gleichzeitig Reger-Orgelmusik. Kann sich die Schwermut des Oberpfälzer Komponisten hier in Hellas einfügen, wo jetzt in der Morgenröte die Vögel ihr Konzert anstimmen, wo die Sterne gerade verblassen und lediglich Venus noch sichtbar ist, die von der aufgehenden Sonne gleich verdrängt werden wird?
Chios? Andromeda wachte auf. Waren da nicht tausende von syrischen Flüchtlingen, weil die Insel sehr nah an dem türkischen Festland liegt? War das 2001? Andromeda googelte fix. Nein, die Invasion war später, 2015 und danach. Damals, 2001, war die Welt dort wohl noch in Ordnung! Zunächst beruhigt, las sie weiter:
Ein kühler Morgenwind aus Ost streicht über meine nackten Beine, die ich mit einem Handtuch bekleidet hatte. Dort taucht langsam die türkische Küste in ihren Umrissen am fernen Horizont auf. Noch passt die Musik, die sich verhalten in den Morgen einfügt. Venuserrötend wird die Landschaft ab einem gewissen Helligkeitsgrad plastisch dreidimensional, ein neues Phänomen für mich. Geräusche vom Strand her hallen herüber. Die Griechen nutzen den Morgen und arbeiten früh auf ihren angrenzenden Feldern.
Ich nutze den ruhigen Morgen und erinnere mich bei Regers Orgelmusik an meine Zeit mit Freia. Warum falle ich dabei unwillkürlich in meine Erzählerrolle zurück und schreibe aus meinem Leben, das, frei nach Garcia Marquez, auch nur gelebt wurde, um erzählt zu werden:
Sie war in der Parallelklasse des Gymnasiums und mit kleineren Werten der lateinischen Klassenstufenbezifferungen näherten sich die beiden immer mehr an. Nach dem Abitur, bei den ausgedehnten Feiern danach, kamen sie sich auch körperlich etwas näher. Ihre geistige Verwandtschaft war durch viele Gemeinsamkeiten, vor allem aber durch die Musik gefestigt. Das körperlich-sinnliche stand allerdings bei beiden zunächst nicht so stark im Vordergrund.
Zumindest sah ich, Al der unerfahrene Jungmann, es so. Sie hatte dazu vielleicht eine andere Einstellung oder schützte sich vor etwaiger Enttäuschung mit einer Mauer gegen alles Körperliche. Ihr Credo war deshalb: Erst auf einer seelenverwandten gefestigten Geistesbasis war für beide der Gedanke an eine auch körperliche Verbindung erlaubt. Freia suchte die Führung des Mannes und Al tat sich, etwas unerfahren damals, reichlich schwer damit. Flirtete er zu viel mit anderen, die ihm durchaus auch gefielen? Testete er nur seinen später gerühmten treuen Hundeblick, dessen Wirkung auf Frauen er damals noch gar nicht kannte?
Sie konnte bei ihrer Oma ein Zimmer mieten am Killesberg, auf der Höhe, mit wunderschönem Blick auf die Stadt. Al und Freia verloren sich zunächst etwas aus den Augen und lediglich Briefe sind aus der Zeit erhalten. Freia, sich zunächst an die höheren männlichen Semester haltend, lernte bald einige etwas näher kennen, etwa ihren Cousin und dessen blonden norddeutschen Freund, ein Journalist. Der Cousin, Pfarrerssohn, lebte gleich neben dem damals noch provinziellen schwäbischen Flughafen.
Al wurde von ihr zu einer Fete eingeladen und lernte aus dem kurpfälzischen Abstand zur schwäbischen Metropole dann alle ihre Freunde näher kennen. Es kam auch ein Wolfgang mit seiner Gitarre. Das Spanische brach in ihm aus, wenn sein Rotweinpegel eine gewisse Schwelle erreicht hatte. Er spielte dann den Flamenco geradeso heraus, improvisiert, aber sehr gut.
Freia war eine Musikkennerin und verabscheute Dilettantismus. Sie hatte den spanischen Wolfgang nur eingeladen, um seine Finger über die Seiten flitzen zu sehen und dabei genussvoll zuhören zu können.
Ein schwäbisches Einfamilienhaus, mit Garten, in Reihe, neben vielen ähnlichen anderen. Die Eltern waren in Urlaub. Später sollte Al oft im Jet über diesen Garten düsen, wenn er in Stuttgart landete. Sauber und proper war alles, Kehrwochenregelungen einhaltend. Die Party stand unter dem kulinarischen Motto 'Spanien'. Freia übernahm selbst-bewusst die Rolle der Gastgeberin. Sie wusste Feste zu feiern und war, obwohl nur sehr leicht liiert mit dem Sohn des Hauses, darin perfekt. Ihre sorgfältige Inszenierung erinnert den späten Al an die der Begegnung Lottes mit dem Geheimrat, wie es der Zauberer in Szene gesetzt hatte.
Hier musste Andromeda abbrechen. Welches literarische Rätsel gibt dieser Al hier dem Leser auf? Wer ist er überhaupt? Bisher gab es doch nur Walt, den Chemiker, oder?? Leidet dieser an Bewusstseinsspaltung? Sie googelte kurz den ‚Zauberer‘ und fand heraus, dass Thomas Mann in seiner Familie so genannt wurde. Hatte dieser nicht einen Roman über den alten Goethe geschrieben? Ach ja, hier stand es. Befriedigt über ihre schnelle Problemlösung liest sie weiter.
Al kam Freia sehr viel näher bei diesem Fest. Wehmütig erinnert er sich heute an diese Zeit. Er glaubte damals an seine Karriere als Pianist, als er in Heidelberg am Konservatorium Musik studierte. Sein Klavierlehrer hatte ihm das vorgeschlagen, Al mit den breiten Handflächen und den kurzen Fingern, mehr als eine Oktave auf der Klaviatur überspannend.
Öffnet die Orgelmusik Regers die Erinnerung an Als Heidelberger Zeit, hier, Jahre später, am Ägäischen Meer mit seinem Notebook schreibend? Reger, der in der Heiliggeistkirche seine alkoholschwangeren Musikexzesse zelebrierte? Heidelberg, wo auch Al versuchte, die schwarzen und weißen Tasten zu beherrschen, was noch viel früher, an gleicher Stelle, ein gewisser Robert versuchte, der sich dann mit einer Clara heimlich verheiratete, nach der jetzt ein ICE benannt ist. Heidelberg, mit seinem langsam dahin fließenden Neckar und den Neckarwiesen, auf denen an lauen Sommerabenden Al sich in eine Zweisamkeit mit Freia träumte, die sich in Stuttgart nur wenige Kilometer stromaufwärts mit älteren Semestern traf. Heidelberg, wo sich Al mit jugendlichem Elan eine steile erfolgversprechende Pianisten-Karriere erarbeiteten wollte, nicht wissend, was das Leben dann noch so mit sich bringen wird. Noch floss das flüssige Wachs an der Tropfkerze auf einer stabilen vorgegebenen Bahn und keine Störung war zu sehen.
Al, der seinen literarischen Versuchen zunächst keine wirkliche Bedeutung beimaß und in der Musik seine Zukunft sah; er, ein junger unerfahrener Mensch, ein leeres unbeschriebenes Blatt, er reihte sich ein in die Musizierenden, bei der Party von Freia, und spielte Reger auf einem Harmonium. Reger, in einer Perfektion, die Freia aufhören ließ! Brachte also die Musik Regers die beiden zusammen? Spielte er sich in ihr Herz? Erwog sie damals mit ihm zu schlafen?
Al erinnerte sich an das dominante Gefühl, das plötzlich in ihm aufkam, als er die bewunderten Blicke der schönen Frau, am Harmonium lehnend, auf sich ruhen spürte. Nach der abschließenden Fuge nahm er sie bei der Hand und zog sie hinaus in den Garten unter den blühenden Apfelbaum. Er nahm sie fest in den Arm und küsste sie. Sie bot keinerlei Widerstand, sondern signalisierte ihm mit allen Muskel-fasern ihres Körpers Zustimmung. Er wusste das intuitiv schon im Voraus und hatte deshalb auch keine Scheu. Sie kannten sich schon einige Jahre, aber jetzt wurden sie, von Reger zusammengeführt, ein Paar. Gab es nicht Al eine große Bestätigung, dass Freia an ihn und seine Musik glaubte? Blieb er nicht deshalb lange Jahre dem Klavier treu, obwohl Zweifel in ihm schon früh aufkamen?
Ein Paar, getrennt durch einige Flusskilometer Neckar, aber verbunden durch den Strom des Flusses und durch den Strom der Musik Regers.
Nach Reger legt Al auf Chios einen MP3-file mit Mahler für sich auf und setzt den Tagtraum fort: Hatte Freia nicht kurz nach der Party Al in Heidelberg besucht? Wollte sie nicht bei einem Kuss stehen bleiben? War da nicht das Konzert auf der Heidelberger Thingstätte mit der zweiten Symphonie von Gustav Mahler? Damals, als sie mit Rotwein und Käse bewaffnet, am frühen Abend dort erschienen und die beiden jung Verliebten dem Sonnenuntergang zur schwelgerischen Mahler Musik erlebten? Wie viel Weltschmerz empfanden sie gemeinsam beim dritten Satz, als das Alt-Solo ‚Oh Mensch...‘ erklang. War hier nicht die ideale Synthese, die höchste Form der Seelenverwandtschaft, das Verschmelzen zweier Verliebter in der Musik, wie es sich Freia und Al immer als höchste Form der Liebe vorgestellt hatten? Wie in Trance wandelten die beiden den Philosophenweg hinunter auf die Neckarwiesen und unter einem herrlichen Sternenhimmel, dominiert vom Sternbild des Großen Wagens. Fügten sie am alles verbindenden Strom ihrer geistigen Verliebtheit und Verschmelzung eine neue, sexuelle Komponente als krönender Abschluss hinzu? War es nicht selbstverständlich, dass Freia, die einen durchaus eher schüchternen Eindruck hinterließ, plötzlich als dominante Frau die Initiative ergriff und Al die Kleider sanft vom Körper streifte? Al, der noch immer im Mahler Rausch zunächst gar nicht merkte, was mit ihm passierte? Freia entledigte sich ihrer Kleider selbst, sie wollte ihn spüren, nach dem sie so lange angezogen neben ihm im Konzert gesessen war. Die Sommernacht war lau, ja, geradezu heiß und kurpfalz-schwül, ein Gewitter aus Südwest kündigte sich in der Ferne an. Al lag unten und Freia, erregt und feucht durch Mahlers Symphonische Strukturen, spreizte sich über ihn. Sie erlebten den Orgasmus ihres Lebens, damals in Heidelberg.
Was war inzwischen geschehen, dass Al jetzt als Turmschreiber mit einem Felix und Walt durch die Welt zieht und Freia, trotz Mahler und den Neckarwiesen nicht bei ihm ist?
Andromeda las langsam, entschwebte an die Ufer des Neckarunterlaufs und danach ging es ihr deutlich besser, auch wenn der Fluss, dem sie in der Luft mit dem Zeolino folgten, immer kleiner und schmäler wurde. Sie hatte völlig vergessen oder verdrängt, dass Thor dicht neben ihr saß.
Am Abend wurden sie, wie üblich, im Gästehaus einquartiert und Andromeda zog sich sofort zurück und ließ Thor stehen. Sie hatte sich schon eine neue Geschichte aus Ihrem Fund vorgenommen:
Mit dem Geruch steigen Erinnerungen auf an Berlin-West, der selbständigen politischen Einheit:
Der Geschäftsführer saß am Ende einer langen grünen Tafel im dritten Obergeschoss, mit einem guten Rundblick über Tempelhof, und begrüßte 23 Menschen, die gebannt an seinen Lippen hingen, darunter zwei Frauen und Walt in jungen Jahren. Es war ein modernes, fortschrittliches Unternehmen. Nicht alle Männer trugen Schlipse, einige Pullover aus der brandneuen Alternativszene – der Wandel der Mode bei Geschäftsleitungskonferenzen.
Die Einflugschneise des alten Flughafens ließ sich gut von dem Konferenzraum im obersten Stockwerk überblicken. Schade, dass der alte Zentralflughafen für die Linienflüge nicht mehr benutzt wird. Gerade wurde Tegel als neuer Westberliner Zentralflughafen eingeweiht, mit dem Beinamen 'Otto Lilienthal', aber der war nicht so wichtig und setzte sich ebenso wenig durch wie später 'Franz Josef Strauß' in München.
Es wäre doch zu schön gewesen, wenn die firmenpolitischen Grundzüge, die an diesem Morgen verlesen werden sollten, unterbrochen würden durch die elegante Linksanflugkurve einer weiß-blauen PAN AM Boeing 727 aus Frankfurt: zunächst fliegt sie den Teltowkanal entlang, dann über die Karl-Marx-Straße, schließlich über den U-Bahnhof Leinestraße, jetzt schon kurz vor dem Aufsetzen auf das Flugfeld. Eben genauso wie es früher einmal war, als das Düsengetöse in der Leinestraße kurz vor dem Aufsetzen des großen Jets schier unerträglich war!
Andromeda stutzt. Was ein Durcheinander! Jetzt sind wir wieder in einer anderen Zeitepoche. Das scheint wohl jetzt zeitlich später zu sein. Vielleicht 1980er Jahre? Sie liest weiter:
Aber es gibt den Flughafen Tegel inzwischen und stattdessen zerhackt nur das zwölfminütige Auftauchen des gelben 73er Busses der BVG, der sich mit dem fünfzehn-Minuten-Rhythmus des 25ers in der Teilestraße abwechselte. Auch diese Straßenkreuzung ließ sich einsehen.
Die Firmenpolitik einer aufstrebenden 'Weltfirma' – viele hohle Worte? Im Mittelpunkt steht der Mensch. Ein Unternehmen besteht in erster Linie aus Menschen. Das Zusammenspiel der Menschen soll durch eine sinnvolle Organisation so gut wie möglich und so wenig wie nötig geregelt werden.
Endlich erscheint doch ein Flugzeug am Himmel, eine ‚Hercules‘ der US-Army. Einmal am Morgen kommt sie immer, Walt ist das schön öfters aufgefallen. Wahrscheinlich ziehen sich die GIs aus dem niedersächsischen BRD-Stützpunkt Faßberg gerne einen ersten Whiskey in Tempelhof rein und fliegen dann 'schnell mal rüber'. Damit beweisen sie natürlich die Lufthoheit der US-Airforce und zeigen, dass die 'selbständige politische Einheit' durchaus nicht so ganz selbständig oder alleine ist und sich an einen mächtigen Verbündeten anlehnen kann. Die Maschine dreht zunächst Richtung Osten und verschwindet aus Walts Blick.
Das Delegationsprinzip der leitenden Funktionen, das 'Machen lassen'. Die natürliche Autorität, die die letztendliche Entscheidung trifft und damit die Verantwortung übernimmt, was heißt das? Welche Konsequenz, wenn die Entscheidung falsch war? Ist hier schon einmal einer deswegen geflogen? Das war nicht üblich in den achtziger Jahren. Walt kannte damals keinen Fall, aber später schon. Paritätische Gremien hemmen den Ablauf des Unternehmens. Wir sind weder Behörde noch Universität. Im Sinne einer maximalen Kontinuität wird eine minimale Fluktuation angestrebt. Das ist also das Selbstverständnis einer jungen, zeitgemäßen, dynamischen Firma mit Sitz in Tempelhof, denkt Walt.
Das Delegationsprinzip geht von der Beherrschbarkeit der Aufgabe des Einzelnen aus. Erst ist der Mensch, dann der Aufgabenkasten dafür, nicht umgekehrt; Arbeitsteilung als wichtigstes Mittel zur Bewältigung der Aufgaben. Mit einer gewissen Größe wird ein gut funktionierendes Kontrollsystem zum effektiven Arbeiten unumgänglich, gewährleistet auch durch Dienstaufsicht und -überprüfung eine positive Rückkopplung der Arbeitsteilung.
Endlich tauchte die Hercules ganz links für einen Augenblick wieder in Walts Blickwinkel auf, ehe sie im Häusermeer untergeht und auf dem Flugfeld aufsetzt.
Die Arbeitsteilung soll die Abhängigkeit von Einzelpersonen aufheben. Jeder soll ersetzbar sein. Ziel der Produktion ist eine Wertschöpfung. Dabei wird sie von angewandter Forschung und anderen verkaufsfördernden Maßnahmen unterstützt. Es wird generell Hochpreispolitik betrieben. Der Preis wird durch den Markt bestimmt, nicht durch Kosten. Die Produktion soll nicht rationell, aber flexibel sein. Grundlagenforschung wird nicht betrieben, dafür in verstärktem Maße wissenschaftliche Marktforschung. Marketing ist der fromme Wunsch des Unternehmenden, sein Risiko wissenschaftlich zu verschleiern.
Ist das ein Exzess einer naturwissenschaftlichen Weltordnung? Noch ein 73er-25er-Bus-Paar am Treffpunkt Teilestraße.
Die Politik der kleinen Schritte. Die Probezeit ist keine versuchsweise Einstellung. Wir lassen dies alles auf uns einwirken und absetzen. Wir werden später darüber diskutieren.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.