Kitabı oku: «Kann Mahler Monroe lieben?», sayfa 2
Da es seit der Katastrophe keine Elektrizitätsversorgung mehr gab, brauchte Steffen immer einen Helfer, der den riesigen Orgelbalg treten konnte. Er hatte mir auch voller Stolz berichtet, dass er in mühsamer Kleinarbeit alle elektrischen Mechanismen zur Steuerung der Register wieder in eine ursprüngliche Mechanik zurück gebaut habe. Nur deswegen funktionierte das königliche Instrument wieder.
Es vergingen Jahre, in denen ich lernte, immer schönere Kartoffeln anzubauen, um sie Herrn Mayr für Tauschgeschäfte anbieten zu können. Steffen hatte hingegen Golie beigebracht, den Balg zu treten, was dem kleinen Knirps anfänglich sichtlich schwergefallen war, aber jetzt schien es gut zu klappen, denn er pustete fast täglich stundenlang die Luft in die Pfeifen. Was hatte der Junge bloß für Gene, dass er so ausdauernd war? Oder war es Steffen, der ihn anspornte? Suchte er einen Ersatzvater? War es lediglich die Musik?
Mir jedenfalls war es recht, denn Kindergärten gab es ohnehin nicht mehr, und ich hatte so genügend Zeit, mich um meine Land- und die kleine Hauswirtschaft zu kümmern. Dies war am Anfang beschwerlich genug, als ich mir Rat und Tat sowie notwendiges Saatgut und Gerätschaften von den Nachbarn holen bzw. ausleihen musste. Aber dank Herrn Mayr und unser beider Verhandlungsgeschick hatte ich jetzt alles zur Hand, was ich benötigte; und unser Mann mit dem Paco im Dorf, sozusagen der designierte Dorf-Chef, pflügte mir im Frühjahr sogar mein Feld, was mir das Leben sehr erleichterte. Wir waren inzwischen sogar soweit, dass wir für unsere Milchversorgung eine eigene Ziege, unsere Selma, hatten, die nachts im Stall und am Tage in den Gräben und Hecken um unser Dorf herum graste.
Golie und ich erwachten und ich bereitete unser Frühstück, das aus Getreidebrei und -kaffee jeweils aus eigenem Anbau mit Ziegenmilch und Quark bestand. Golie plapperte lustig auf mich ein und zeigte mir eines Tages eine Notenzeile, auf die er eine Melodie gekritzelt hatte. Ich war ziemlich erstaunt, und er erläuterte mir dazu, dass Steffen dies gestern auf der Orgel gespielt habe. Ich konnte zwar die Noten lesen, das hatte mir mein Vater noch beigebracht, ich konnte aber nicht perfekt vom Blatt singen, sodass ich nur im Ansatz erkennen konnte, dass dies wohl eine d-Moll-Melodie war, er hatte genau ein ‚b‘ am Anfang notiert.
„Hast du das alles alleine geschrieben?“, fragte ich ungläubig. „Das glaube ich nicht! Der Steffen hat dir geholfen, oder er hat es dir aufgeschrieben.“
„Aber Mama, ich belüge dich doch nicht!“, gab er beleidigt zurück.
Ich überlegte. In der Tat musste ich in diesem Punkt Golie recht geben; er war immer sehr darauf bedacht, ehrlich und aufrichtig zu sein.
Mir fiel plötzlich ein, dass mir Steffen letztes Frühjahr eine Weidenflöte geschenkt hatte, die ich achtlos im Schrank aufbewahrte. Ich kramte sie hervor. Golie machte große Augen!
„Aber Mama, kannst du Flöte spielen?“ fragte er mich aufgeregt.
„Nur ein wenig“, antwortete ich. „Mein Papa hatte es mir einmal gezeigt, aber ich war damals noch sehr klein gewesen.“
„Wie alt warst du da?“, fragte er interessiert.
„Na, so vier etwa. Ha! genauso alt wie du jetzt! So ein Zufall!“, erwiderte ich und war selbst überrascht. „Lass mal sehen, ob ich das noch hinbekomme.“
Ich versuchte es, aber schon am Anfang mit dem Pralltriller auf dem ‚a‘ scheiterte ich, bei der folgenden schnell abfallenden d-Moll-Sequenz versagten meine Finger.
„Aber Mama, du kannst doch bei Steffen vielleicht fragen… Er kann Flöte spielen… und bringt es dir sicher bei“, rief er begeistert aus und schüttete beinahe seine Milch aus.
„Aber ich habe doch gar keine Zeit dafür! Ich muss doch das Feld bestellen!“, entgegnete ich ihm halbherzig.
„Schade.“ Er war sehr enttäuscht!
„Aber weißt du was? Wenn du so schöne Noten schreiben kannst, warum willst du es nicht selbst lernen? Ich schenke dir die Flöte! Steffen wird das schon verstehen!“
Golie blieb der Mund offen stehen vor freudigem Schreck.
„Du… Du schenkst mir deine Flöte? Im Ernst?“ Dann sprang er vom Stuhl, kletterte auf meinen Schoß und umarmte mich herzlich. Ich war überrascht von seiner heftigen Reaktion. Er nahm die Flöte, und ich zeigte ihm, dass der tiefste Ton dann herauskam, wenn man mit den Fingern alle Löcher zuhielt. Auch er brachte dies nach einigem Probieren zustande. Dann verzog er sich nach draußen.
Ich räumte den Frühstückstisch ab und freute mich sehr, ihm eine so große Freude gemacht zu haben. Nach einer Weile, ich wollte gerade die Harke holen, um die letzten Kartoffeln zu ernten, tauchte Steffen mit dem Fremden von gestern auf.
„Hallo, Mary Lou!“, begrüßt er mich. „Wo ist Golie?“
Ich tat etwas befremdlich wegen seiner Unhöflichkeit, mir nicht den Fremden vorzustellen, was er tatsächlich auch dann sofort bemerkte. Steffen war manchmal etwas ungehobelt, aber glich es dann immer wieder mit spontaner Herzlichkeit aus.
„Ach ja, das ist Mr Grinder. Er kam gestern Abend mit seinem Fahrer in dem roten Paco. Er ist ein junger Musiker und hatte gehört, dass hier bei uns noch eine Orgel funktioniert. Wir wollten jetzt zusammen spielen und wollten Golie bitten, den Blasebalg zu treten. Wo ist er?“
Steffen war wieder einmal viel zu schnell, aber auch Mr Grinder war ebenso wenig feinfühlig.
Nachdem er mich wiedererkannt hatte, schlug der graue Fremde sich mit seinem Reitstock in die andere Hand und warf mir einen tiefen Blick in die Augen zu, ohne ein Wort zu sagen. War das sein spezielles ‚Accessoire‘? Trug er diesen Stock immer? War das eine Geste der Verlegenheit, der Dominanz, einer Zuneigung?
Ich fühlte mich plötzlich unterlegen, wie eine echte, unterwürfige Frau, die gerade dabei war, in eine unglückliche Liebe mit einem unbekannten Mann zu verfallen. Mein Gefühl war nicht negativ. Die Aura des Fremden kehrte es ins Positive um und sogar weit mehr, ich fühlte mich erstaunlich gut dabei. Allerdings brauchte ich etwas Zeit, um mir Klarheit darüber zu schaffen.
„Ich habe Golie heute morgen die Flöte gegeben, die du mir letztes Frühjahr geschenkt hattest, Steffen. Ich hoffe, das ist okay für dich. Jetzt ist er damit allerdings auf und davon. Ich weiß nicht, wo er steckt.“ Und mit einem stolzen Hinweis auf das Papier mit der Notenzeile ergänzte ich: „Das hat er mir heute gezeigt und behauptet, er habe das geschrieben.“
Der Fremde warf einen flüchtigen Blick darauf und krächzte mit einer rauen Stimme: „Das ist von Bach, das Thema der d-Moll-Toccata.“
„…die hatte ich gestern auf der Orgel geübt“, räumte Steffen schnell ein. „Sollte der Bengel das Notensystem so schnell begriffen haben? Er hatte mir Löcher in den Bauch gefragt, die ganze Zeit schon, wegen der fünf Linien und der Punkte mit Fähnchen daran. Das wäre ja phänomenal!“
„Ein zweiter Mozart“, schnarrte Mr Grinder lachend hinterher.
Warum Steffen mir den Fremden als „Mr Grinder“ vorstellte war mir unklar. Stammte der Fremde etwa aus England oder gar aus den USA? Wie war sein Vorname? Ich wollte jetzt nicht neugierig, danach fragen. Nicht jetzt...
Plötzlich sah Grinder mein Poster mit dem vollbusigen Blondschopf. Er war fasziniert, konnte seine Augen nicht abwenden, und blieb an dem Plakat kleben, wie eine Fliege an einer Leimrute. Ich sah, dass er den Namen der Unterschrift las.
Es war wie eine Liebe auf den ersten Blick! Ich war so eifersüchtig! Ich hasste sie!
Dennoch bemühte ich mich, zunächst ganz ruhig zu bleiben und machte einige Bemerkungen über das Wetter.
Die beiden Männer verabschiedeten sich und verließen meine Wohnung. Als ich sah, wie sie um die Ecke bogen, ließ ich meinen Gefühlen freien Lauf und schrie gegen das Plakat: "Du Schlampe, du Fotze!" und noch ein paar weitere hässliche Worte.
Schließlich riss ich das Plakat von der Wand und verbrannte es in meinem Ofen.
Wien, St. Marx
Herbert Gerstenmayer war sauer. Er war heute besonders früh aufgestanden, um zu der für 8.00 Uhr angesetzte Besprechung mit seinem Chef rechtzeitig im Laborbunker zu sein. Es war ein weiter Weg dorthin vom siebten Bezirk, wo er in der Myrthengasse in einer alten Hausruine wohnte. Da es nach der Katastrophe auch hier in der österreichischen Hauptstadt keinen Nah-verkehr mehr gab, war es jeden Morgen mühsam, zu Fuß zum Ring zu laufen und sich dann in Richtung Rennweg durch die Ruinen diese seltsame Abkürzung zu nehmen. Aber er hatte es heute rechtzeitig geschafft, und nun war es der Boss, der fehlte! Seine Assistentin Christiane war von diesen Besprechungen befreit, in denen alle vierzehn Tage die neuen Projektschritte festgelegt wurden. Herbert musste diese dann in konkrete Tagesarbeitseinheiten für sie umsetzen.
Es war gespenstisch in dem menschenleeren molekularbiologischen Labor tief unter der Erde, das noch kurz vor der Katastrophe in einen zehn Stockwerk tiefen, atombombensicheren Bunker umgezogen war. Die oberirdischen Neubauten des alten Biozentrums hatten es nicht überstanden und waren völlig zusammen-gestürzt. Aber der Wissenschaftsbetrieb unter der Erde, der noch kurz vorher durch enge Zusammenarbeit der Universität Wien mit einigen amerikanischen Großinvestoren große Fortschritte erzielt hatte, konnte auch nach der Katastrophe aufrechterhalten werden. Die Investoren sahen eine besonders strategische Lage der alten k. u. k. Hauptstadt als Tor zu Osteuropa und pumpten deswegen Milliarden von Dollars in ethisch nicht unumstrittene Klonierungsprojekte. Zum Schutz vor dem Widerstand von Gruppen wie Greenpeace, die militant-aggressiv ganze Forschungseinrichtungen lahmlegten, entschloss man sich deswegen, die Forschung nach unten, in die Erde, in einen Bunker, zu verlegen und unter Ausschluss der Öffentlichkeit heimlich weiterzuarbeiten, während in dem überirdischen Biozentrum zur Tarnung auf harmlose, ja sogar von allen Umweltschutzgruppen geförderte grüne Biotechnologie umgestellt wurde. Diese Art von Geheimhaltung funktionierte vorzüglich.
Niemand hatte damals ahnen können, dass die Atomforschung einiger Schwellenstaaten schon so weit fortgeschritten gewesen war, dass es dann zu einer solchen Katastrophe kommen konnte. Aber auf diese Weise hatte die Biotechnologie in Wien überlebt, und die Forschung hatte auch danach weiter floriert.
Unwirsch holte Herbert sein Laborbuch hervor und schaute sich seine neuesten Ergebnisse an, die er in seiner exakten Naturwissenschaftlerschrift aufgezeichnet hatte. Früher hatte er alles mit dem Computer geschrieben, aber heute war eh die wertvoll gewordene Rechnerkapazität streng reglementiert. Das schwache elektrische Licht, das das Labor beleuchtete, war schon Luxus genug in diesen Zeiten danach. Nur dem außerordentlichen Engagement Prof. Baums, Herberts Chef, war es zu verdanken, dass das Notstromaggregat mit mehreren Holzvergasern gekoppelt wurde und so die notwendige Energie für den Betrieb der Rechner und der Laborgeräte im Bunker erzeugt werden konnte. Eine ganze Mannschaft von Heizern arbeitete dort, um Holz in die Öfen zu schaufeln. Dennoch hatte gerade in der Übergangszeit ein großer Engpass geherrscht, und einige Projekte hatten eingestellt werden müssen.
„Warum kommt der Alte heute nicht?“, fragte sich Herbert, als frisch mit einem Lied auf den Lippen Christiane, seine Assistentin, ins Labor rauschte. Es war bereits 9.30 Uhr, und sie wunderte sich, dass Herbert nicht – wie immer am Montag – mit dem Alten die Köpfe zusam-mensteckte .
„Was ist los?“, fragte sie überrascht und band ihre brünette Lockenpracht mit einem Haargummi zusammen, den sie zwischen den Zähnen hielt, weshalb die Worte etwas zerquetscht und verzerrt aus ihrem rot geschminkten Mund herauskamen und Herbert sie nicht verstand.
„Was meintest du?“, fragte er nach.
„Wo ist der Alte heute?“, formuliert sie erneut und zog ihren sauberen gelben Laborkittel an.
„Keine Ahnung“, erwiderte Herbert. „Ich bin stinksauer, weil ich heute ausnahmsweise einmal pünktlich war. Ausgerechnet jetzt scheint sich der Alte zu verspäten.“
„Verspäten?“, spottete sie. „Wann wart ihr denn verabredet?“
„Um 8.00 Uhr, wie immer“, antwortete Herbert, und aus seiner Antwort klang schon leichte Besorgnis.
„Dann ist das keine Verspätung mehr“, schob sie nach.
„Ich weiß, aber was sollen wir machen?“
„Früher konnte man in diesen Fällen anrufen, mit einem Handy sogar! Aber heute besteht das Leben nur noch aus ‚Warten‘ und ‚Rennen‘“, versuchte sie einen Scherz.
„Na, vom ‚Warten‘ habe ich jetzt genug, ich werde mich dann also aufs ‚Rennen‘ stürzen.“, konterte er.
„Weißt du denn, wo der Alte wohnt?“
„Nicht genau, aber irgendwo draußen in Richtung zur Donauinsel, glaube ich. Vielleicht sollten wir doch noch warten. Er ist doch immer so zuverlässig und wird sicher gleich aufkreuzen.“
„Du kannst mir gerne beim Füttern der neuen Stammzellen helfen. Letzte Woche habt ihr mir ja einen riesigen Versuchsansatz aufgebrummt, den schaffe ich fast nicht; und wenn ich die Zellen nicht rechtzeitig verdünne, gehen sie hops, das weißt du auch. Was habt ihr denn wieder für tolle Genome ausgegraben, dass wir gleich so viele Zellen brauchen?“
„Du weißt, das sagt mir der Alte auch nicht! Aber bevor ich nach ihm schaue, helfe ich dir besser. Vielleicht kommt er ja dann auch.“
Herbert zog sich seinen gelben Kittel an und warf die beiden Sterilbänke an. Das sind Tische mit einem vorne offenen Plastikkastenaufsatz, bei denen ständig von hinten sterile Luft geblasen wird. Für das Züchten von Zellen in sterilen Kulturgefäßen sind diese Geräte, auch ‚Flows' im Laborchargon genannt, zwingend notwendig, damit die Zellkultur beim Öffnen der Gefäße nicht durch die vielen kleinen Lebewesen die immer in der Luft herumschwirren, in die Gefäße gelangen können. Die Sterilität der Tische müssen regelmäßig mit einem Wischtest über-prüft werden, den Gerstenmayer gerade durchführte, um die hoffentlich nicht vorhandene Verkeimung zu messen, während Christiane aus den Brutschränken die Behälter mit den embryonalen Stammzellen auf einen wärme isolierten Wagen stellte und auf die beiden Flows zu schob. Herbert holte die Flaschen mit den frischen Nährmedien, und beide Wissenschaftler begannen mit der Arbeit. Es war schon erstaunlich, dass eine solche Forschung ‚danach‘ – also nach der Katastrophe – noch möglich war. Leider kam es oft zu Engpässen bei Reagenzien oder Verbrauchsartikeln, und alle mussten improvisieren. Aber unter dem Strich waren sie wohl recht erfolgreich, inzwischen auch unter kommerziellen Aspekten.
Die alten Investoren, hätten sie die Katastrophe überlebt, hätten sich vor Freude die Hände gerieben und an der Börse, die nicht mehr existierte, sicher riesige Gewinne eingefahren. Nur dunkel erahnten die beiden, was ihr Boss mit den befruchteten Humanzellen in Zeiten an-stellte, da Kinder wirklich nicht mehr natürlich geboren werden konnten. Jeder Fachmann wusste, als wie heikel der menschliche Zeugungsakt unter rein biochemischen Aspekten einzustufen war und wie empfindlich er auf Radioaktivität reagierte, von zwischen-menschlichen Komplikationen einmal ganz abgesehen. Fast täglich wurden die fertigen Zellen abgeholt und mit einem Spezial-Paco weggefahren. Der hatte sogar eine Art Tiefkühltruhe auf der Ladefläche, um die Zellen möglichst lange zu erhalten.
Gegen Mittag – sie waren gerade fertig mit dem Füttern der Zellen – kam ein Anruf über das hauseigene Telefonnetz, das auch noch funktionierte. Christiane und Herbert dachten erst, jetzt melde sich der Alte zurück, aber er war es nicht, sondern einer der Pförtner, der Herbert darüber informierte, dass ein unbekannter Herr den Prof. Baum sprechen wolle.
„Prof. Baum ist nicht hier. Wir vermissen ihn. Er wollte schon gegen 8.00 Uhr heute Morgen dabei sein, aber war hier nicht da. Das ist sehr ungewöhnlich! Was will der Herr von ihm?“
„Das sagt er mir nicht. Vielleicht kommen Sie besser zu mir und reden selbst mit dem Fremden.“, antwortete der Pförtner.
„Ich gehe schnell an die Pforte Christiane,“ meldete Herbert sich bei ihr ab, zog den Kittel aus und ging zum Treppenhaus, nicht ohne sich noch einmal heimlich Christiane genau anzuschauen. Denn ihm gefiel, was er an ihr sah: ihr vollschlanker, fast barocker Körper und ihre vollen Brüste, die sich auch im taillierten, hochgeschlossenen Laborkittel deutlich abzeichneten. Er konnte es sich nicht rational eingestehen, was er für seine Kollegin empfand, aber im Bauch registrierte er oft Schmetterlinge bei ihrem Anblick, und dieses Anzeichen waren eigentlich eine klare Äußerung seines Unterbewusstseins, die er auch deswegen ignorierte, weil er nicht das Gefühl hatte, bei der Kollegin wirklich landen zu können.
Sie war, ungeachtet dessen, vor allem in letzter Zeit etwas abweisend und roch zuweilen seltsam ‚fischig‘, wenn sie am Morgen heran rauschte und sie sich beim gemeinsamen Tragen der schweren Behälter sehr nahe kamen. Er hatte dann immer die Fantasie, dass sie morgens keine Zeit zum Duschen hatte oder diesen Geruch als Erinnerung an die vergangene Nacht nicht verlieren wollte. Eigentlich wusste er gar nichts von ihr, außer dass sie eine zuverlässige und kreative Mitarbeiterin war. So malte er sich ihr aufregendes Privatleben mit den wildesten Orgien in ihrer Freizeit aus und ließ sich selbst in seiner Phantasie daran teilhaben. So sind sie eben die Männer!
Oben angelangt, stand ein Mann in einem dunklen, langen Ledermantel und schwarzem Hut im Eingang und schlenderte angespannt auf und ab. Gerstenmayer sprach ihn an, aber der Fremde verhielt sich äußerst distanziert und fast schon unhöflich. Seinen Namen nannte er nicht und wollte sofort den Professor sprechen. Es sei sehr wichtig, ja sogar lebenswichtig, drängelte er ungehalten. Er sprach mit britischem Akzent. Als Gerstenmayer ihm zu verdeutlichen versuchte, dass der Chef heute noch nicht im Labor erschienen sei, ja sogar einen vereinbarten Termin habe sausen lassen, wurde der Fremde kreidebleich und versuchte jetzt schnell, Gerstenmayer loszuwerden, um abzuhauen.
„Wenn er auftaucht, versuchen Sie mich bitte so schnell wie möglich zu benachrichtigen. Geben Sie bitte in der Kneipe Café Servus gegenüber dem Haydn-Denkmal nahe der ehemaligen Maria-Hilf-Kirche Bescheid, und sagen Sie lediglich, dass Sie eine Nachricht hätten, und geben an, wo der Prof. zu treffen sei.“ Dann schlug er den Mantel vorne zusammen und ließ Gerstenmayer wie einen begossenen Pudel stehen.
„Unfreundlicher Zeitgenosse“, knurrte dieser. Anstatt wieder hinunter ins Labor zu gehen, bat er den Pförtner um das Telefon und informierte Christiane, dass er jetzt in die Stadt gehen und nach Baum schauen wolle. Allmählich machte er sich Sorgen. Es gab eigentlich nur eine Erklärung, die das Verhalten seines Chefs erklärte, außer derjenigen, die Katastrophe hätte schon wieder ein Spätopfer gefordert. Er aber wollte sicher-gehen und begab sich auf den Weg zu Baums Wohnung in der Nähe der ehemaligen UNO-City.
Eine Lovestory danach
Marietta und Hannes hatten zunächst in einer recht gut erhaltenen Hausruine in Maua bei Jena gewohnt. Früher ist da einmal die Autobahn A4 verlaufen und hat hier das Leben durch den ständigen Verkehrslärm unerträglich gemacht. Zu dem tiefen, regelmäßigen Brummen der Lkws hatte sich ab und zu ein getunter Porsche oder gar ein Ferrari gesellt, und das alles war vom hohen Schnurren einer Ducati oder einer Kawa überlagert worden. Aber diese Zeiten waren vorbei! Die riesige doppelte Saalebrücke, deren einer Teil aus gelbem Saale-Sandstein noch aus Hitlers Zeiten stammte, während der andere nur wenige Jahre nach der Jahrtausendwende dazu gebaut worden war, um einen sechsspurigen Ausbau zu ermöglichen. Eben diese lange Talbrücke war völlig zerstört. Im Hintergrund waren riesige längliche Schutthaufen zu sehen: Die alten DDR-Plattenbauten aus Lobeda hatten die Katastrophe nicht überlebt und waren dank ihrer schon immer mangelhaften Bausubstanz wie Kartenhäuser zusammengefallen.
Die beiden waren keine Thüringer, sondern hatten aus geheimer Quelle erfahren, dass die Strahlenbelastung in Thüringen besonders gering sein solle. Das war für sie der Grund gewesen, sich dort anzusiedeln.
Das Paar kam ursprünglich aus Oberbayern, und nachdem Hannes als internationaler Manager einer weltbekannten bayerischen Automarke nicht mehr in die Werke nach Spartanburg in USA oder nach Oxford in England hatte jetten können, um dort sein Wissen aus der Münchner Zentrale an Briten und Amerikaner weiterzugeben, nach der Auflösung des Konzerns also, als plötzlich der Anbau alles Essbaren wichtiger geworden war, da hatten sie beschlossen, Bayern zu verlassen.
Sie waren ein Traumpaar: er männlich muskulös, von normaler Größe und mit dem Herzen auf dem rechten Fleck, ein Freihandkletterer, der sich durch ständige Übung in Form hielt; Marietta dagegen das weibliche Gegenstück mit langen mittelblonden, kräftigen Haaren und vielen Naturlocken. Ihr Gesicht war breit mit vollen Lippen und starken Wangenknochen, die ihrem Gesicht eine slawische Note gaben. Ihre Augen wirkten katzenartig und erinnerten an Madame Chauchats Augen, wie sie im ‚Zauberberg‘ von Thomas Mann beschrieben wurden. Ihr Wesen war zwar dominant, aber sie hatte es im Gegensatz zur lungenkranken Russin im Roman nicht nötig, Türen laut zu zuwerfen, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie betrat einen Raum und erfüllte diesen mit ihrer Person sofort. Ihre schöne Gestalt lenkte alle Blicke auf sich. Wenn ihre tiefe, etwas rauchige Stimme dann noch mit einem Gruß nach half, nahm sie jeden sofort für sich ein.
Sie war meine engste Freundin in Polling gewesen, und ich hatte ihr lange nach getrauert, als sie zusammen mit ihrem Hannes weggegangen war und unser Traumpaar die Gemeinde verlassen hatte. Marietta hatte mir als ihrer besten Freundin anvertraut, dass sie beide gerne ein Kind hätten. Aber wie bei fast allen Paaren hatte die Katastrophe jegliche Hoffnung auf Fortpflanzung genommen. Marietta selbst war Heilpraktikerin und kannte sich in medizinischen Dingen gut aus. Ihr war klar, dass die komplexen Prozesse einer menschlichen Fortpflanzung durch die radioaktive Strahlung an vielen Stellen gestört wurden. Schon die turnusmäßige Einnistung eines Eies in die Gebärmutter war bei ihr wie bei fast allen jungen Frauen ge-stört, sodass von regelmäßigen Zyklen gar keine Rede mehr sein konnte. Falls aber tatsächlich einmal der Zufall half und ein männliches Spermium ein befruchtungsfähiges Ei antraf, dann war die Rate an verschmelzungsfähigen Spermien so gering, dass es so gut wie nie zu einer Befruchtung kommen konnte.
Es war allen Frauen klar, dass eine Fortpflanzung in dieser Umgebung nicht mehr möglich war. Viele Frauen stürzte dies in eine tiefe Depression, da sie mit ihrer ureigenen Rolle nichts mehr anzufangen wussten.
Für mich war es ein Segen, meinen Golie als Findelkind gefunden zu haben und auf diese Weise meiner Bestimmung als Frau gerecht werden zu können – obwohl ich immer wieder rechnete und mich ständig fragte, wie dieses kerngesunde Kind überhaupt auf die Welt hatte kommen können. Es war mir schon immer ein Rätsel, ein Mysterium, und oder vielleicht gerade deswegen hing ich so sehr an diesem Bengel.
In den vielen Gesprächen mit Marietta am Abend hörte ich deutlich ihre Klage, dass sie – sogar noch mit dem Luxus, sich auf einen verlässlichen Partner stützen zu können – auch gerne ein Kind hätte. Ihr Kummer, dass es nicht mehr so einfach ging, ein Kind zu zeugen wie vor dem Zeitpunkt null, machte sie sehr verzweifelt, und ich stand ihr immer ganz hilflos gegenüber, nahm sie in die Arme und wusste keinen echten Trost.
Eines Tages jedoch kam Hannes mit einer Nachricht von einer Wanderung aus München zurück, die fast zu unglaublich klang, um wahr sein zu dürfen. Es solle irgendwo in Thüringen bei Jena eine Art Klinik geben. Gesunde junge Frauen könnten sich dort einer künstlichen Befruchtung unterziehen. Dies finde in einem großen, alten Bunkersystem statt, wo die Radioaktivität wegen der Tiefe des Berges auf einen Schwellenwert abgesenkt sei, wie er vor der Katastrophe normal gewesen sei. Falls die Eizellen angenommen worden seien, verbrachten die Frauen ihre Schwangerschaft dann dort im Berg. Es klang alles wie im Märchen. Am Abend kam Marietta gleich zu mir gerannt und erzählte mir mit großer Begeisterung davon. Ich wusste sofort, dass ich bald eine sehr gute Freundin verlieren würde, denn ich sah meine abenteuerlustige Freundin schon in den nächsten Tagen neben ihrem Hannes marschierend das Dorf verlassen.
So war es dann auch schnell gekommen. Golie und ich hatten die beiden lange umarmt und ihnen nach gewinkt. Im Stillen hatte ich den beiden gegönnt, auch ein Kind zu haben. Was sind sie doch für ein schönes Paar gewesen!