Kitabı oku: «Kann Mahler Monroe lieben?», sayfa 4

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Ein Brief von Marietta

Ab und zu kam es vor, dass Kommunikation wie im Mittelalter über Briefe oder, besser gesagt, eine Art Flaschenpost statt fand. In jeder größeren Stadt gab es ein Briefzentrum, wo die wenigen Fremden, die sich auf beschwerliche Reisen gemacht hatten, Nachrichten mitbrachten und hinterließen oder welche mitnahmen. So war auch auf dem Marienplatz in Weilheim eine Ruine, die nachträglich mit einem schiefen Wetterschutz ausgerüstet worden war, als Möglichkeit Nachrichten zu versenden. Jeder, der zufällig in der Nähe war, schaute ab und an dort nach, ob es etwas für sich oder seine Nachbarn dort gebe. Jeder, der auf eine Reise ging, nahm mit, was in seine Richtung wies.

So war ich eines Tages sehr erstaunt, dass mir ein netter Nachbar – eben jener mit dem Traktor-Paco – aus der Stadt einen Brief mitbrachte. Ich öffnete den braunen Pappdeckel: Marietta hatte ihn unterschrieben. Ich setzte mich ans Fenster, da es jetzt allmählich dunkel in der Stube wurde, und während ich im Geiste Mariettas tiefe Stimme zu mir sprechen hörte:

Liebe Mary Lou,

ich hoffe nur, dass Dich mein Brief erreicht. Hier ist alles so anders und doch ähnlich wie bei Euch in Polling. Die Strahlenschäden sind ganz genau-so. Wir haben einen Unterschlupf im Nebengelass einer alten Schule in einem wunder-schönen Tal gefunden, durch das ein Flüsschen mit Namen ‚Orla‘ fließt. Diese ist etwa so tief wie unser Tiefenbach und fließt in Orlamünde in die Saale, so wie unser Bach dann in die Ammer. Die Schule steht auf einer Anhöhe, und man kann von dort über das ganze Tal blicken. Vor der Katastrophe war das einmal ein schönes Anwesen gewesen, und Langenorla war bestimmt nicht weniger verschlafen als unser Polling. Aber die Zerstörungen sind durch einen Bombeneinschlag in Jena ähnlich wie bei Euch um München herum, denn Jena liegt nur etwa 30 km nördlich von uns. Der Weg hierher war in vielen Etappen sehr beschwerlich gewesen. Überall die gleiche Elende, Not und das allgemeine Leiden und Sterben. Die Einschläge in Ingolstadt, Nürnberg und Bamberg mussten wir weiträumig um wandern, weil wir ausdrücklich vor der tödlichen Strahlendosis in diesen Zentren gewarnt wurden. Über den Thüringer Wald war es dann etwas einfacher. Die tiefen Täler schirmen die Strahlung etwas ab. Deshalb haben sich hierher mehr Menschen als anders wohin geflüchtet. Ich glaube, ‚überbevölkert‘ ist inzwischen schon der richtige Ausdruck dafür, und die Kriminalitätsrate übersteigt das eh schon angestiegene Maß um ein Vielfaches. Prompt hat man uns ausgeraubt und entführt. Obwohl sich Hannes tapfer gewehrt hatte, haben sie uns alles abgenommen, was wir noch an Wertvollem besessen hatten. Dann sind wir hier in unserem lieblichen Tal halb verhungert und auch sonst ziemlich abgerissen angekommen. Es ist zwar nahe an Jena, aber eben auch nahe an Rothenstein, wo diese Geburtsklinik liegt, die es doch tatsächlich gibt! Es war also kein Gerücht, sondern eine Tatsache, und ich bin froh, dass wir trotz allen Hindernissen und Entbehrungen hier-her gekommen sind. Die Strapazen sind jetzt schon fast vergessen, denn Hannes kann beim Nachbarn gegen Essen arbeiten, und ich hatte bereits eine erste Untersuchung im ‚Berg‘, wie wir die Klinik nennen. Der Arzt dort war sehr nett und meinte, dass ich bald ein Kind empfangen könne, sobald sie einen freien Platz hätten. Stell Dir vor, ich stehe auf der Warteliste schon auf Platz 49! In den nächsten Monaten wäre ich dann an der Reihe. Ich freue mich schon wahnsinnig, obwohl es mir auch davor graut, neun Monate lang dort in den Katakomben leben zu müssen, ohne Sonne und mit nur wenig Licht. Aber das muss wohl so sein, um den Embryonen genug Schutz vor der Strahlung zu bieten.

Leider hat die Sache noch einen Haken: Hannes kann wohl nicht der Vater sein! Ich wurde belehrt, dass wohl überwiegend alle Männer inzwischen unfruchtbar sind. Nur künstlich befruchtete Embryonen haben überhaupt eine Chance, gesund heran zuwachsen.

Die Ärzte sagen, dass diese eine besondere Strahlenresistenz aufweisen würden und eine natürliche Empfängnis habe nur eine viel zu geringe Chance, ein gesundes Kind zu zeugen. Deshalb verweigern sich die Ärzte, ein solches Risiko einzugehen und sagen, dass es ansonsten Vergeudung von Ressourcen wäre.

Hannes war stinksauer, als er davon hörte. Du weißt ja, dass er schnell jähzornig werden kann, und ich habe ihn mit vielen sanften Tönen davon abhalten können, hier im Berg eine größere Randale zu veranstalten. Jetzt gehe ich vorsichtshalber immer allein dahin und sage ihm auch nicht immer Bescheid. So läuft es – glaube ich zumindest – jetzt am besten.

Ich denke so oft an Dich und daran, was Du für ein Glück hattest, ein gesundes und begabtes Kind zu finden. Dieser Gedanke gibt mir Kraft, denn ich denke, selbst wenn ich jetzt ein Kind gebären sollte, ist es dennoch so ähnlich wie mit Dir und Deinem Golie. Damit habe ich mich abgefunden, und auch Hannes steht letztendlich dahinter. Was soll er auch anderes tun? Das ist wohl die Tragik unserer Zeit. Dass tut schon weh! Aber es ist eben so!

Jetzt habe ich einfach so in den Tag geplappert und weiß gar nicht, ob Dich der Brief erreicht und Du diese Zeilen jemals lesen kannst, ganz zu schweigen davon, ob Du das alles verstehst, was in mir vorgeht. Aber Du bist und bleibst meine beste Freundin, und ich weiß, dass Du mit mir mitfühlst, wenn dich dieser Brief je erreicht. Mit diesem Wissen geht es mir schon besser!

Versuche doch auch, mir zu schreiben. Ich würde gerne mit Dir in Kontakt bleiben, vor allem, wenn ich jetzt so lange im Berg bin!

Außerdem will ich, dass wir uns natürlich auch einmal wiedersehen, egal wo und wann, Hauptsache überhaupt!

Es grüßt und küsst Dich Deine

Marietta

Das Papier am Ende wellte sich an einigen Stellen, als ob jemand Tränen darauf vergossen hätte. Aber das alles lag jetzt auch schon einige Zeit zurück. Mag auch sein, dass der Brief monatelang unterwegs gewesen war und wo anders Nässe abbekommen hatte.

Trotzdem waren auch mir beim Lesen die Augen über gequollen. Ich blieb lange still sitzen. Statt einer Antwort nahm ich nur mein inzwischen großes ‚Baby‘ in die Arme und drückte Golie fest an mich. „Wie schön, dass ich Dich habe“, war alles was ich jetzt noch schluchzend sagen konnte.

Obwohl ich Innerlich völlig aufgewühlt war, setzte ich mich dennoch an meinen Tisch und versuchte eine angemessene Antwort zu formulieren:

Liebe Marietta,

ich habe hier auch niemanden, dem ich meinen Herz ausschütten könnte. Aber ich kann meine angestauten, zwiespältigen Gefühle nicht mehr zurückhalten!

Du wirst nicht glauben, was in diesem kleinen Polling vor sich geht!

Ein Fremder kam, um Steffens Orgel zu spielen, und ich habe Angst, mich ihm völlig auszuliefern! Du kennst mich in unserer gemeinsamen Zeit als selbstbestimmte starke Frau. Aber das ist weg! Ich bin jetzt seine Sklavin! Es ist mir unmöglich, unabhängig und frei zu denken. Ich bin total zerrissen zwischen dem Mutter-Sein und der Rolle, seine liebende Frau, ja sogar seine Sklavin zu werden.

Wo ist mein Ausweg?

Stell dir vor, er spielte auf der Orgel und ich trat für ihn den Blasebalg, nackt, gefesselt, mit verbundenen Augen.

Er spielt Chopin und ich spürte, nicht mehr auf der Erde zu sein. Ich vergaß alles, Golie, die Katastrophe und in Gedanken sah ich nur ihn, ob-wohl ich im Orgelkasten weit weg war.

Zuvor neckte ich ihn und spielte die Unerreichbare. Er hat mich dann brutal mit seiner Reitpeitsche gezwungen, die er immer mit sich herum trägt. Aber vor allem mit seinen Augen, die wirkungsvoller als seine Gerte waren, hat er mich regelrecht nieder gerungen, willenlos werden lassen, so das ich mich vor ihm nackt auszog. In der Kälte genoss ich auch noch das Brennen auf meiner bloßen Haut! Er fesselte mich, verband mir die Augen und dann nach einer unendlich langen Zeit, hörte ich plötzlich seine Musik…

Sie untermalte diese schönen Schmerzen von ihm!

Ich weiß, ich bin verrückt! ...

Ich konnte nicht weiter schreiben. Meine Beschreibung des intensivsten Moments in meinem ganzen Leben hatte mich noch einmal überwältigt.

Ich zerknüllte das Papier und warf es in meinen Ofen.

Schauspielern müsste man können!

Gerstenmayer fühlte sich sehr unwohl und sah sich ständig um. Aber es folgte ihm wohl niemand, als er aus Baums zerwühlter Wohnung hin-austrat, zumindest niemand, der ihm aufgefallen wäre. Dennoch fühlte er sich beobachtet. Blicke trafen und durch stachen ihn von hinten – so kam es ihm vor. Zu allem Übel wurde es auch noch schwarz am Himmel und ein Regenguss kündigte sich an. Gerstenmayer überlegte, was er jetzt unternehmen sollte. Einen öffentlichen Schutzraum aufsuchen und warten, bis der Regen aufhörte? Gerade kürzlich hatte ihm Christiane, seine Assistentin, von einem Doppelmord in dieser Gegend erzählt. Dann fiel ihm ein, dass der U-Bahn-Schacht gerade wieder freigelegt worden war und man sich dort unten gut zu Fuß fortbewegen konnte, wenn man einmal die Donau überquert hatte. Denn der Teil des Schachtes unter dem Fluss stand seit der Katastrophe bis zur Decke unter Wasser. Er schaute er zum Himmel, es wurde schwarz und noch schwärzer – er musste sich beeilen.

Bei diesen Überlegungen hatte er das brisante Papier ganz vergessen, das er in der Innentasche seiner Jacke trug.

„Warum haben diejenigen, die etwas beim Baum gesucht haben, dieses Papier nicht mitgenommen? Oder kannten sie den Inhalt schon? Haben sie noch etwas anderes gesucht?“ Gerstenmayer grummelte die Sätze vor sich hin. Das machte er gerne, weil er sich einbildete, mit solcher akustischen Unterstützung, konzentrierter denken zu können. Deshalb las er sich auch im Labor die schwierigen Vorschriften erst einmal laut und deutlich vor, manchmal ein, zwei, ja sogar drei Mal, bevor er sie wirklich verstanden hatte. Christiane lachte ihn dabei gerne aus, wenn sie ihn wieder einmal bei solchen ‚Selbstvorträgen‘ ertappte.

„Vielleicht haben sie den Inhalt auch nicht verstanden“, kam ihm eine wichtige Erleuchtung, die ihm lauter als zuvor aus dem Munde kam.

„Warum? Verstehst du’s denn?“, vernahm er plötzlich deutlich und überraschend nah eine Stimme neben sich. Woher war dieser Mann in seinem schwarzen Mantel, mit einem altmodischen Bowler auf dem Kopf und britischem Akzent in der Stimme, plötzlich aufgetaucht? Gerstenmayer erschrak zu Tode und blieb wie versteinert stehen.

„Mein Herr, wa-a-s meinen Sie denn? Ich verstehe Ihre Frage nicht. Oder können Sie etwa Gedanken lesen?“

„Das nicht gerade, aber ich habe gute Ohren, und du hast eben vor dich hin gequasselt, dass ‚die‘ den Inhalt nicht verstanden hätten. Also kombiniere ich messerscharf, dass du es geschnallt hast. Meine Auftraggeber und mich interessiert der Inhalt dieses Schreibens in deiner Jacke sehr, und du wirst es mir sicher genau erläutern können. Es soll auch nicht zu deinem Nachteil sein. Ansonsten ….“, jetzt wurde das vulgäre, aber bis dato noch freundliche Gesicht des Fremden steinhart. Dazu grinste er gemein und schielte auf einen verdeckten Gegenstand in seiner Hosentasche.

Gerstenmayer erschrak sichtlich. „Seit wann duzen wir uns?“ fragte er, um etwas Zeit zu gewinnen, und setzte dann hinzu: „Wie käme ich dazu, einem Wildfremden Laborgeheimnisse anzuvertrauen?“ Etwas Besseres war ihm in der Kürze der Zeit nicht eingefallen.

„Aha, in einem Labor arbeitest du also? Gibt es so was überhaupt noch? Und wenn ja, wo? Etwa hier in Wien? Du wirst ja immer interessanter! Da habe ich ja einen Volltreffer gelandet!“ Der Fremde war plötzlich wieder höflich und freundlich.

Gerstenmayer merkte, dass er wohl einen großen Fehler begangen hatte. War der Fremde neben ihm nicht kürzlich am Laboreingang gestanden und hatte nach dem Chef gefragt? Sollte dieser wirklich nicht gewusst haben, dass er vor dem Eingang eines unterirdischen Labors stand? Ja sicher! Schließlich gab es keinerlei Hinweisschilder an der Pforte.

War er dem rätselhaften Fremden auf den Leim gegangen? Jetzt konnte er es nicht mehr ändern! Plötzlich schoss ihm ein Gedanke in den Kopf, und er plante, der Schauspielerei seines Gegenübers mit einer gelungen eigenen Aufführung zu entgegnen.

Er ließ sich plötzlich fallen und gab mit gestenreichen Schmerzverzerrungen im Gesicht und Aufschreien vor, über eine über den Weg ragen-de Baustahlstange gefallen zu sein und sich dabei verletzt zu haben. Blitzschnell befeuchtete er seine Hand mit Speichel und schmierte sich den rotbraunen Rost des Eisens das Bein entlang. In der einbrechenden Dunkelheit sah es wirklich etwas wie Blut aus, und der Fremde reagierte zunächst verblüfft, zog aber sofort die Waffe aus der Tasche und bedrohte seinen Gefangenen, den so fühlte sich Gerstenmayer jetzt. Immerhin nahm ihm der Fremde seine Filmreife Szene ohne Verdacht ab. Dieser bog ihm den Arm auf den Rücken und hielt ihm mit der anderen Hand den Mund zu, um das klägliche Schreien zu unter-drücken. Sie waren inzwischen schon am Ufer der Donau, und die chinesischen Vasudevas waren durch den gut gespielten Schmerzensschrei auf die beiden aufmerksam geworden und rannten ihnen entgegen. Der Fremde war sich einen Moment lang unsicher, wie er sich jetzt verhalten sollte, schätzte aber seine Chancen, gegen so eine Übermacht anzukommen, trotz seiner Waffe als sehr schlecht ein, deshalb ließ er Gerstenmayer ruckartig los und türmte mit einem ärgerlichen Zischen zwischen seinen Lippen: „Freundchen, wir sehen uns wieder!“ Sein letzter Blick traf Gerstenmayers Gesicht. Der Fremde war wütend, die erleichterten, triumphierenden Züge seines entglittenen Opfers gerade noch erkennen zu können.

Kaum war der erste Chinese bei ihm, verschwand der unangenehme Fremde schon in einer nahen Ruine. „Das war knapp, aber gut gemacht“, lobte sich Gerstenmayer deutlich hörbar selbst.

Die Fährleute halfen ihm auf, erkannten aber in der Dämmerung nicht, aus welcher Gefahr sie ihren Kunden gerettet hatten, auf den sie jetzt werbend jetzt einstürmten. Dieser heuerte gleich beim Erstbesten an und gab ihm alles, was er bei sich hatte. Der Mann war sehr verwundert und dachte, er solle sich im Gegenzug sehr beeilen, weil der Regen gleich losbrechen würde. Sie eilten zum Boot, und der Ruderer legte sich gleich hoch motiviert in die Riemen.

Gerstenmayer versuchte, die Sprache des Ausländers anzunehmen, und fragte: „Tunnel, wo? Tunnel, U-Bahn?“

Der Chinese schaute ihn so an, als ob er nur Bahnhof und Abfahrt verstehen würde. Gerstenmayer versuchte es noch einmal etwas lauter: „Wo Tunnel?“

Diesmal erläuterte er den Suchbegriff mit einer pantomimischen Einlage, die die Erdoberfläche und wuselnde Finger darunter andeutete. Zum Abschluss ließ Gerstenmayer es noch mit den Fingern regnen, und sein besorgter Blick ging gen Himmel. Jetzt strahlte das Gesicht des Ruderers wie eine unter Strom gesetzte Glühbirne, und er deutete auf die Reste eines Stahlskelettes, dessen Verglasung zum größten Teil verschmolzen aussah. Gerstenmayer hoffte, das dies ein-mal ein Aufzug zur U-Bahn gewesen sein könnte. Am anderen Ufer rannte er zu dem skurrilen Ruinenkunstwerk, denn die ersten Tropfen fielen bereits vom Himmel. Zum Glück stand er vor den U-Bahn-Schienen. Er war doppelt gerettet! Aber wo war Prof. Baum? In welche kriminellen Machenschaften war dieser verwickelt? … und schon nahmen seine Gedanken die kurz verlassene Spur wieder auf.

Mariahilf

Am nächsten Tag machte sich Gerstenmayer auf den Weg zum Café neben dem Haydn-Denkmal vor der Mariahilfkirche, bevor er sich in den Laborbunker begab. Dabei leitete ihn nur ein undeutliches Bauchgefühl und ihm war nicht klar, was er dort eigentlich wirklich wollte. Irgendwie glaubte er, an der einzigen Adresse, die er in diesem Zusammenhang kannte, einen Hinweis für Baums Verschwinden zu finden. Er ging vor seinem Haus die Myrthengasse nach Süden bergauf und schwenkte in die Burggasse. Von dort musste er sich nicht an das alte Straßenmuster halten, sondern konnte durch die Ruinen queren und gelangte dann über die Neubaugasse in die Kirchengasse.

Dort auf dem Platz vor der Kirche war, wie ein Wunder, der ‚Papa Haydn‘ stehen geblieben, aber er war wie eine Tropfkerze zusammengeschmolzen. Lediglich sein markanter Kopf stand aufrecht ohne Körper auf seinem Podest. Niemand scherte sich darum.

Von den beiden Doppeltürmen der alten Wallfahrtskirche stand nur noch der Stumpf des hinteren, und auch der alte, hohe Kirchenraum war zusammengestürzt, sodass der Blick auf den alten Bunker am Esterhazy-Park frei war. Dieser hatte dank seiner massiven Bauweise aus dem ‚Tausendjährigen Reich‘ seiner ursprünglichen Bestimmung gemäß auch diese Katastrophe überlebt, wobei freilich seine zwischenzeitliche Nutzung als Aquarium schon lange aufgegeben worden war. Nur noch wenige Leute erinnerten sich daran, dass Aufnahmen von großen Fischen in einem englischen 007-Super-Agenten-Film dort drinnen gedreht worden waren. Der Titel hatte etwas mit ‚Pussy‘ zu tun, ‚Octopussy‘ oder so ähnlich? Das wusste er noch wegen der Anzüglichkeit, aber dann verließ ihn sein Gedächtnis.

Die an die Straßenecke angepasste runde Fassa-de des ‚Hotels Haydn‘ mit dem schwungvollen, optimistisch nach oben geschriebenen Schriftzug ‚Servus‘ stand noch wie eine Potemkin’sche Kulisse. Dahinter hatte man mit Zeltplanen einen Raum überdacht und den Betrieb des alten Cafés wieder aufgenommen.

Verschlafen kam Herbert Gerstenmayer an dem Platz vor der Kirche an, wo schon auffallend viele Menschen unterwegs waren. Die Mariahilfstraße war sogar wieder soweit von Trümmern geräumt, dass Pacos fahren konnten.

Tatsächlich musste Gerstenmayer einem Miet-Paco ausweichen, der ihn beinahe gerammt hätte. Er war noch nicht richtig wach. Das änderte sich schlagartig, als er in das Innere des Wagens blickte und einen ihm wohlbekannten, müden Blick aufschnappte. Es ging alles rasend schnell, Gerstenmayer sprang zur Seite, und das Auto war vorbei. Herbert ruckte mit dem Kopf in die Höhe, um richtig wach zu werden: War das nicht Prof. Baum und daneben der ihm bekannte Mann mit Bowler im Heck?

Er versuchte zu verfolgen, welchen Weg das Taxi nahm und sah gerade noch, dass es in Richtung Burgring, also in die Innenstadt, fuhr. Jetzt war Gerstenmayer hellwach und änderte schnell seine Pläne. Er rannte durch die Barnabitgasse, um sich ebenfalls in Richtung Laborbunker auf zumachen. Vergebens suchte er einen Miet-Paco; seine Bemühungen blieben erfolglos, und das war auch gut so, weil er sich so etwas sowieso nicht leisten konnte. So ließ er den ‚Aquarium-Bunker‘ zu Fuß hinter sich und rannte weiter in Richtung Südost. Immer noch fand er kein Taxi. Gerstenmayer war nicht sehr sportlich, zu viel Zeit hatte er sitzend im Labor verbracht. Eigentlich müsste er sich viel mehr bewegen, aber nach der Katastrophe und wegen all der Vorsicht, mit der man jetzt selbst einfachen Regenwolken begegnen musste, wurde er sehr bequem. Das rächte sich jetzt bitter, denn er kam schnell außer Atem und bekam heftiges Seitenstechen, sodass er innehalten musste. Als er gerade den Ring überblicken konnte, bildete er sich ein, den Miet-Paco von eben noch einmal gesehen zu haben, aber er war sich nicht sicher. Ihm fiel gerade noch auf, dass ein weißer Zettel aus dem Fenster des Vehikels herausflog, aber dann war er verschwunden. Ein weißer Zettel? Er überlegte, was das zu bedeuten hatte. Hatte er das überhaupt richtig beobachtet, oder war nur der Wunsch Vater seiner Sinnes eindrücke?

„Hat mich Baum auch gesehen und will mir verzweifelt eine Nachricht zukommen lassen?“, brummelte Gerstenmayer in seiner üblichen Manier laut vor sich hin und feuerte sich damit in seinen logischen Gedankenfolgen an.

Er holte mehrmals tief Luft und versuchte, in den Bauch und in die kurzen Rippen zu atmen. Das hatte er einmal auf geschnappt als Sofortmaßnahme gegen Seitenstechen. Er fühlte in sich, konzentrierte sich, um seinen schmerzen-den Seiten mentale Heilung zukommen zu lassen. Plötzlich merkte er, dass seine zunächst hilflos erscheinenden Aktionen tatsächlich halfen.

„Mag sein, ich bilde mir alles nur ein, aber ich merke fast nichts mehr“, hörte er sich befriedigt sagen.

Dann ging er weiter, erst langsam, dann wieder schneller werdend, immer vorsichtig auf seinen Atem achtend. Am Ring schaute er sich nach dem Zettel um. Die Suche einer Stecknadel im Heuhaufen war einfacher, denn da gab es zumindest eine Gewissheit: Eine Stecknadel war sprichwörtlich tatsächlich im Heuhaufen zu finden. In seiner jetzigen Situation war nicht einmal diese Gewissheit vorhanden, und er zweifelte inzwischen schon, ob es denn überhaupt einen Zettel gegeben hatte.

„Soll ich jetzt in Ruhe weiter suchen oder lieber ins Labor zurückgehen?“, fragte er diese leise zu sich selbst sprechend.

Einen irrsinnigen Wust an Gedankenfetzen reihte er aneinander und versuchte, eine logische Baumstruktur daraus zu formen. Schließlich kam er zu dem Schluss, dass er einfach weiter suchen sollte, weil auch dieser Unbekannte mit dem Bowler ihn sicher wiedererkannt hatte und der wohl wenig Interesse haben konnte, Baum einfach so wieder im Labor auftauchen zu lassen. Es sah doch alles wie eine Entführung aus. Dazu passte auch der Zettel – womöglich eine geheime Botschaft, die er doch besser finden sollte. Gerstenmayer zwang sich nach dieser Entscheidung, systematisch zu suchen. Er durchkämmte einen gewissen Bereich am Ring und ging in Form eines klassischen Mäanders immer auf und ab.

So verging der Vormittag. Er wollte gerade aufgeben, als der Wind ihm einen kleinen Zettel entgegenblies. Gerstenmayer schaute neugierig darauf und erkannte eine unendliche Reihe von großen Buchstaben: AGGTTCGA… Die Vorder- und die Rückseite eines DIN-A4-Blattes war damit gefüllt, andere Zeichen waren nicht zu sehen. Für den Biochemiker war daraus sofort ersichtlich, dass dies ein genetischer Code war. Die Wahrscheinlichkeit, dass dies der Zettel ist, den Prof. Baum aus dem Paco geworfen hatte, war nicht gering, und deshalb steckte Gerstenmayer ihn ein und beschloss, die Suche abzubrechen und ins Labor zu gehen, um diesen Code in die Suchmaschine seines Computers einzugeben. Viel-leicht gab es ja Analogien zu bekannten Sequenzen, die weitere Hinweise auf den Professor ergaben.

Gegen Mittag war er endlich in der Bohrgasse im Laborbunker, und Christiane, die Assistentin, war stocksauer auf ihn. Sie hatte den ganzen Morgen damit Mühe gehabt, ihre Zellen am Leben zu erhalten. Es war diesmal eine so große Charge, dass sie es allein gar nicht mehr rechtzeitig schaffen konnte. Baum war weg und jetzt auch noch Gerstenmayer!

Dieser hatte sie nur kurz begrüßt und sah ein, dass er ihr mit erster Priorität dringlich helfen musste. Schließlich kam morgen früh wieder der Transport-Paco, der die herangezüchteten Zellen zum richtigen Zeitpunkt abhole wollte. Falls das Timing nicht stimmte, setzte die Zelldifferenzierung ein, und die Zellen wären wertlos. Auch wenn Baum nicht da war, musste der Betrieb dennoch aufrechterhalten werden. Als sie es mit vereinten Kräften doch gerade noch geschafft hatten, setzten sie sich mit einem frischen Kaffee zusammen, und Herbert berichtete Christiane, was er am Morgen unter den Augen des zerschmolzenen Haydn-Denkmals erlebt hatte. Als er auf den Zettel zu sprechen kam, zog er ihn aus der Tasche, steckte ihn in den Scanner und ließ die Schrifterkennungs-Software darüber laufen. Da in der Mitte ein dicker, dunkler Fettfleck war, musste er einige Buchstaben manuell nach korrigieren. Dann ließ er in den ihm zur Verfügung stehenden Datenbanken nach der Sequenz suchen. Wie üblich dauerte eine solche Suche einige Stunden, und Gerstenmayer machte sich mit Christiane an die Arbeit, die Zellen für den nächsten Morgen transportfertig zu machen.

Am Abend, als er gerade heimgehen wollte, spuckte der Computer eine Analogie aus: ‚The Mozart Gene'. So war eine wissenschaftliche Publikation überschrieben, die eben genau diese Sequenz beschrieb. Die Publikation war schon über 20 Jahre alt. Herbert war sprachlos. Davon hatten sie beide noch nie etwas gehört! Das Paper hatte im Acknowledgement einen aufschlussreichen Hinweis: ‚We thank Prof. Baum (Vienna) for his kind support.'

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