Kitabı oku: «Das Buch der Bücher», sayfa 6
Die gleiche Geschichte, die ich schon von Onkel Najib gehört hatte. Dass ich das nicht so recht glaubte, sagte ich nicht. Stattdessen erzählte ich ihm, dass ich lieber nach Frankreich wollte.
Er lächelte mitleidig. Ob ich nicht wüsste, dass Flüchtlinge dort nicht willkommen seien, und dass man sie in Regen und Kälte im Freien kampieren ließe.
Ich verzichtete darauf, ihm zu erzählen, wie oft mein Großvater von seinen Kollegen aus Frankreich geschwärmt hatte. Erstmal gab es ohnehin Dringenderes als fruchtlose Diskussionen über unsere Zukunftspläne.
Während der Lieferwagen Fahrt aufnahm, zog ich meine Schuhe und Strümpfe aus, opferte einen Schluck Tee, um die Stellen zu säubern, an denen sich von den Märschen der Nacht wieder blutige Blasen gebildet hatten. Ich wickelte die letzte saubere Binde darum, die ich noch in meinem Rucksack gefunden hatte. Belal tat es mir nach. Er opferte sogar ein Hemd, indem er einen der Ärmel abtrennte, um damit seine Fußsohlen abzupolstern, die genauso schlimm aussahen wie meine.
Als der Kleintransporter anhielt, waren wir vorbereitet – so gut es eben ging. Der Fußmarsch dauerte nicht mal eine halbe Stunde. Auch den Rest des Tages kamen wir schnell voran. Wir mussten nur noch zwei Mal nicht allzu lange Strecken zu Fuß laufen. Beim ersten Mal hielt am Ende statt unseres kleinen, offenen Lieferwagens ein etwas größerer mit einer Plane über dem Laderaum neben uns. Wir waren heilfroh über das Dach über unserem Kopf, denn wir hatten seit dem Mittag in der prallen Sonne gesessen.
Es war schon dunkel, als wir auf eine holprige Piste einbogen und ein Stück weit in ein enges Seitental hineinfuhren. Als wir hielten und der Motor abgestellt wurde, hörten wir ein lautes Rauschen. Wir warteten ergeben auf das, was jetzt kommen würde. Den Planungen und Launen der Schlepper und ihrer Helfer ausgeliefert zu sein, waren wir ja inzwischen gewöhnt. Wir hörten, dass der Fahrer aus dem Führerhaus stieg. Er kam aber nicht zu uns nach hinten. Stattdessen hörten wir ein Knacken und Knistern und dann eine laute Stimme, die zu telefonieren schien. Eine immer wieder vom Knacken unterbrochene Stimme antwortete. „Funkgerät“, sagte Belal. Mehrmals fiel das Wort Kadér, aber das war auch das einzige, was wir von dem kurzen Austausch verstanden.
„Los, aussteigen“, hörten wir die Stimme von draußen. „Nun los, beeilt euch!“ Als wir von der Ladefläche sprangen, stellten wir fest, dass der Laster direkt an einer Felswand parkte, die rechterhand aufragte. Die Scheinwerfer erhellten nur noch ein kurzes Stück Piste vor uns, bis dahin, wo diese um die nächsten Biegung verschwand. Dahinter verlor sich ihr Licht im Dunkel eines Abgrunds auf der anderen Seite. Von dort drang das Rauschen herauf, das wir die ganze Zeit gehört hatten. Der Fahrer rief uns etwas zu, was wir nicht verstanden und zeigte dabei tiefer ins Tal hinein. Ohne weitere Erklärung kletterte er ins Führerhaus, setzte ein paar Mal vor und zurück, um auf dem schmalen Streifen zwischen Felswand und Abgrund zu wenden und fuhr in hohem Tempo davon.
Wir waren mit dem Rauschen des unsichtbaren Flusses allein, in einem engen Tal, das anscheinend von schroffen Bergen eingefasst war, von denen wir im Dunkeln aber nur schemenhafte Umrisse gegen den Sternenhimmel wahrnahmen. Ein Gefühl totaler Verlassenheit überkam mich. Ein Gefühl, das mir nur allzu vertraut war. Da half es auch nichts, das Belal neben mir stand und in seinem offenbar unerschütterlichen Optimismus meinte, irgendwie werde es schon weitergehen. Schließlich wollten die Geld verdienen mit uns.
Wir liefen vorsichtig bis zur nächsten Biegung vor. Dahinter aber war nichts auszumachen, was uns als Orientierung oder Ziel hätte dienen können. Einfach so weiter in die Dunkelheit zu stolpern, ohne zu wissen, wohin es ging, kam uns beiden sinnlos vor. Wir beschlossen, zu warten, bis es hell wurde und ließen uns an der Felswand nieder.
Belal sagte längere Zeit nichts mehr. Aber ich merkte, allmählich bekam er doch Angst. Bei jedem Vogelschrei vom Hang gegenüber, jedem Platschen unten in der Schlucht, jedem Rascheln noch näher bei uns zuckte er zusammen. Ich fragte ihn, ob er denn noch nie nachts allein in den Bergen gewesen sei.
„Du etwa?“, fragte er zurück.
„Du, da kommt jemand“, sagte ich. Gerade in dem Moment hatte ich einen Lichtpunkt bemerkt, der in der Ferne auf und ab tanzte. Ja, der bewegte sich eindeutig auf uns zu.
Der Platz unten am reißenden Bergfluss war ideal für eine Übernachtung so vieler Menschen, die niemand bemerken sollte. Obwohl er kaum eine Viertelstunde von dem Ort entfernt war, an dem Belal und ich uns niedergelassen hatten, war von dort kein Laut und kein Lichtstrahl zu uns gedrungen. Die Stelle unter der leicht überhängenden Uferböschung, wo der große Laster stand, war von der Piste aus wohl selbst bei Tageslicht nicht einsehbar, ebenso wie der Fahrweg, der dort hinunterführte, wohl nur jemandem auffiel, der die Stelle gut kannte.
Der Mann mit dem Funkgerät und der Taschenlampe, der uns abgeholt hatte, wies uns einen Platz auf dem sandigen Uferstreifen an, wo wir uns hinlegen sollten. Und dass wir ja niemanden aufweckten. Er wolle keinen Ärger mehr heute. Die Mahnung war überflüssig. Die Leute, die dort schon lagen, waren anscheinend genauso erschöpft wie wir und regten sich nicht. Auch ich wurde vom Schlaf überwältigt, kaum dass ich mich in meine Decke gewickelt hatte.
Erst im Morgengrauen, als das Yallah-Geschrei losging und die Schlepper Belal und mich noch mit ein paar anderen Nachzüglern unter Einsatz ihrer Fäuste und Schlagstöcke auf die bereits überfüllte Ladefläche des Lasters prügelten, wurde uns klar, dass wir die Flüchtlingsgruppe aus dem Keller in Van eingeholt hatten. Einige erkannten uns auch und begannen zu schimpfen, bis ein Afghane, der schon durch seine hünenhafte Gestalt aus der zusammengedrängten Masse herausragte, Ruhe gebot.
Die folgende Etappe meiner Flucht durch die Türkei schien kein Ende nehmen zu wollen. Dabei kann sie insgesamt nicht viel länger als drei Wochen gedauert haben, wie ich mir später ausgerechnet habe. Auf dem Weg durch Afghanistan und durch den Iran war ich die meiste Zeit trotz aller Ängste und Strapazen noch neugierig gewesen auf Landschaften, Orte und Menschen, und auf das, was mich als Nächstes erwarten würde. Je länger aber diese Flucht andauerte, desto gleichgültiger wurde mir alles.
Es gab nur noch diesen ständigen aufreibenden und schließlich abstumpfenden Wechsel zwischen endlosen Fahrten als häufig stinkendes menschliches Frachtgut, Märschen auf durchgelaufenen Füßen bis zur Erschöpfung und Stunden oder Tagen nervtötenden Wartens in irgendwelchen Ställen, Kellern oder verdreckten Wohnungen, bis es endlich weiterging. Zwischen Hunger und quälendem Durst und plötzlicher Dankbarkeit für ein Stück Brot oder einen Schluck Wasser. Zwischen schwindender Hoffnung auf ein Ankommen irgendwo und Angst vor der nächsten Kontrolle oder gar dem, was Einzelne der Flüchtlinge in irgendwelchen Polizeistationen oder Gefängnissen bereits hatten durchmachen müssen. Zum Glück hatte ich schon lange Übung darin, alle Gefühle auszuschalten, die Frage nach dem Warum zu vergessen und nur noch automatisch zu funktionieren.
So habe ich aus diesen Tagen und Wochen nur wenige Szenen in klarer Erinnerung. Und wenn – wie im Fall der Situation, in der der hünenhafte Afghane die Beschimpfungen aus der Gruppe gegen uns Nachzügler durch sein Machtwort gestoppt hat – so hat sich das möglicherweise auch nicht schon beim Aufbruch am ersten Morgen ereignet, sondern erst ein oder zwei Tage später…
Dass etwas nicht stimmte, merkten wir daran, dass die Pausen, bevor es jeweils ein Stück weiterging, immer länger wurden, die Telefonate der Schlepper und ihrer Wachleute immer nervöser klangen und ihre Ausreden immer weniger glaubhaft. In Van hatte es noch geheißen, spätestens in acht Tagen wären wir in Europa. Knapp drei Wochen später erfuhren wir schließlich, dass die Stadt, in der wir seit drei Tagen in einem heruntergekommenen Wohnblock festsaßen, Kayseri hieß und mitten in der Türkei lag.
Belal hatte das herausgefunden. Er hatte es in der engen Wohnung, in der wir eingesperrt waren, nicht mehr ausgehalten. Er hatte etwas Geld geopfert und einen der Wachleute bestochen, ihn für zwei Stunden rauszulassen – angeblich, um eine Medizin zu kaufen, die er dringend benötigte.
Als mein Freund nach der Rückkehr von seiner Entdeckung berichtete, explodierte Gaffar, unser hünenhafter Anführer. „Diese Betrüger haben uns im Kreis rumgefahren. Jetzt weiß ich auch, warum die uns hier die Mobiltelefone weggenommen haben. Von wegen zu unserer Sicherheit.“ Dabei hämmerte er mit beiden Fäusten gegen die Wohnungstür.
Im nächsten Moment wurde die aufgerissen und die vier Wachleute, die sich die meiste Zeit in der Nachbarwohnung aufhielten, stürmten mit Schlagstöcken bewaffnet herein. Gaffar erhielt einen Schlag vor den Kopf und Belal, der neben ihm stand, wurde von einem Faustschlag vor die Brust getroffen, der ihn mir vor die Füße warf.
Unser Hüne fasste sich ins Gesicht und erstarrte, als er das viele Blut sah. Zum Glück war er im Kopf noch klar genug, um zu begreifen, dass selbst er gegen diese vier bewaffneten Männer chancenlos war.
Ob wir alle im Knast landen wollten, rief einer von denen mit mühsam unterdrückter Stimme, sobald sie die Tür nach draußen geschlossen hatten. Sie rissen sich ein Bein aus, um dafür zu sorgen, dass wir sicher ans Ziel kämen, aber offenbar gebe es hier ein paar Idioten, die uns alle in Gefahr bringen wollten.
Dabei wussten wir, dass es diesen Typen nur ums leicht verdiente Geld ging und sie sich nebenan die Zeit mit Telefonieren, Videos und Kartenspielen vertrieben, wenn sie uns nicht gerade etwas zum Essen besorgen mussten. Aber keiner von uns wagte, noch etwas zu sagen.
Die Männer hakten Gaffar unter und schleppten ihn nach draußen. Bevor der letzte von ihnen von außen die Tür zuzog, rief er uns zu, wenn sie noch einen Mucks hören würden, würden sie erst so richtig aufräumen kommen.
Ich kümmerte mich erst mal um Belal. Zum Glück schien der außer einer Prellung – dort, wo ihn der Schlag getroffen hatte – keinen ernsthaften Schaden erlitten zu haben.
Immerhin führte dieser Vorfall dazu, dass noch am gleichen Abend Rezan mal wieder vorbeikam, der Schlepper, der uns auf diesem Abschnitt ‚betreute‘. Der Kurde hatte sich zwei Tage lang nicht blicken lassen.
Er kam mit zweien der Schläger von nebenan zu uns rein und versuchte, zu beruhigen. Die Route über das Meer zu den griechischen Inseln sei in diesen Tagen so gut wie unpassierbar. Man arbeite an einer Alternative, aber das dauere eben, und derweil hier im Landesinneren zu warten, sei einfach sicherer. Das aber nur, solange wir uns ruhig verhielten. Als Zeichen seines guten Willens werde er uns ab sofort auf drei statt bisher auf zwei Wohnungen aufteilen, damit die restliche Wartezeit für alle etwas erträglicher werde.
Er fragte, wie viele von uns von Kadér seien. Außer Belal und mir waren da nur noch zwei ältere Afghanen aus Mazar, die sich immer etwas abseits hielten. Er werde uns abholen, sobald er auch denen in der anderen Wohnung die Lage erklärt habe, sagte Rezan und verschwand erst mal wieder.
Die andere Hälfte unserer Flüchtlingsgruppe war in der Wohnung auf der anderen Seite der Wachleuteunterkunft untergebracht. Weil wir die ganze Zeit eingeschlossen waren, hatten wir die Leute dort seit drei Tagen nicht mehr gesehen. Umso größer die Überraschung, als ich in der Gruppe, die Rezan wenig später auf dem Korridor vor unserer Wohnung versammelt hatte, neben vier anderen Kadér-Afghanen und zwei Jungs, die ich nicht näher kannte, noch zwei Gesichter entdeckte, die wieder zu sehen ich nicht mehr erwartet hatte: Faizal und Zabiullah!
Obwohl mir insbesondere Letzterer nie besonders sympathisch gewesen war, weckte der Anblick der vertrauten Gesichter spontan ein warmes Gefühl der Zugehörigkeit in mir. Und dann umarmte Zabiullah mich auch noch. „Du lebst, Bruder – Allah-u Aqbar“, sagte er und wischte sich vor allen anderen eine Träne aus dem Auge.
Wir erfuhren, dass die beiden schon zwei Tage früher als wir in der Wohnung drüben gelandet waren. Die Situation dort sei unerträglich geworden, als zu den anderen aus unserer Gruppe zuletzt noch sieben weitere Flüchtlinge dazu gekommen seien. Eine dritte Wohnung bereitzustellen, was Rezan uns als großzügige Geste verkauft hatte, war also ohnehin unumgänglich geworden.
Man führte unsere Gruppe von zusammen zwölf Mann durchs enge Fluchttreppenhaus einen Stock höher in die Wohnung direkt über der der Wachleute. In einem der beiden Zimmer lag schon jemand auf eine Matratze gebettet: Gaffar, unser Anführer. Die hatten ihm eine dicke Bandage quer übers Gesicht geklebt, so dass er kaum aus den Augen sehen konnte. Die Nase wäre gebrochen, erklärte er uns, überraschend milde gestimmt. Vielleicht hatten die ihm irgendetwas versprochen.
Ein Krachen und lautes Gebrüll rissen mich aus dem Schlaf. Ich lag auf meiner Matratze. Um mich war Finsternis. Ein Alptraum? Jemand rüttelte mich.
„Was war das?“ Belals Stimme.
„Das kam von unten“, sagte eine andere Stimme.
Im Nebenzimmer polterte es. „Seid still – eine Razzia“, rief jemand
Alle drängelten sich zur Wohnungstür vor, um besser zu hören. Wieder krachte es. „Polizei! Keine Bewegung!“
Kein Zweifel, jetzt hatten sie unten auch noch die zweite Wohnungstür aufgebrochen.
„Ruhe – vielleicht wissen die von dieser Wohnung noch nichts.“ Unverkennbar Gaffars grollender Bass aus Richtung der Wohnungstür. Obwohl durch seine zugeschwollene Nase gedämpft, hatte seine tiefe Stimme nichts von ihrer Autorität eingebüßt.
Mit angehaltenem Atem lauschten wir alle auf die Geräusche, die zu uns heraufdrangen.
Irgendwas polterte unten gegen die Wand.
Ein Schrei.
Weitere Kommandorufe.
Mitten in die folgende Stille hinein ein Kratzen an unserer Tür, das uns alle vollends erstarren ließ. Ein Schlüssel wurde leise ins Schloss geschoben. Ein klickendes Geräusch und die Tür schwang auf. Im schwachen Licht der Notbeleuchtung auf dem Flur erkannten wir einen unserer Bewacher.
„Los, alle abhauen!“, rief er gedämpft in der uns inzwischen bestens vertrauten Mischung aus Persisch und Kurdisch. Er rannte voran auf die Nottreppe zu und alles rannte hinterher.
„Die Rucksäcke“, rief Belal mir zu und stürzte zurück in unser Zimmer. Ich ließ mich mitreißen und griff mir auch noch schnell meine Sachen. So kam es, dass wir zu den Letzten gehörten, die ins enge, spärlich beleuchtete Treppenhaus drängten.
Belal vor mir wand sich ungewohnt flink zwischen den vor uns Laufenden hindurch und war auf einmal verschwunden.
Als ich den ersten Treppenabsatz erreichte, wurde direkt vor mir die Tür aufgestoßen. Ein Mann mit Maschinenpistole und kugelsicherer Weste versperrte den Weg. Er brüllte etwas und richtete den Lauf seiner Waffe auf mich.
Ich konnte gerade noch rechtzeitig stoppen und riss meine Hände hoch
Der neben mir stürzte dem Bewaffneten direkt vor die Füße. Der brüllte erneut und trat zu, einmal, zweimal, wobei die Mündung seiner Waffe mich jedes Mal von unten bis oben bestrich. Ich stand wie festgefroren und spürte, wie mir der kalte Schweiß ausbrach.
Wie in Zeitlupe sah ich, wie sich der Polizist umdrehte, nur um festzustellen, dass der letzte von denen, die vor uns gelaufen waren, unten gerade um die Ecke verschwand.
Wieder dieses Brüllen. Daraufhin stürzten weitere Bewaffnete durch die Tür hinter ihm und machten sich auf sein Kopfnicken hin an die Verfolgung nach unten.
Während sich das Trampeln und Brüllen weiter unten im Treppenhaus verlor, befahl der Beamte mir und den zwei weiteren, die er noch abgefangen hatte, uns auf dem Treppenabsatz auf den Boden zu legen, mit dem Gesicht nach unten und den Händen über dem Kopf. Dabei verlieh er seinen uns unverständlichen Worten mit dem Lauf seiner Waffe unmissverständliche Klarheit.
Als ich wegen der Enge auf dem Treppenabsatz gegen den älteren Afghanen stieß, der zuvor gestürzt war, stöhnte der auf, was ihm einen weiteren Tritt in den Rücken eintrug.
Noch heute sehe ich den gezackten Verlauf des feinen Risses in aller Deutlichkeit vor mir, der sich dort unmittelbar vor meinen Augen durch den Betonboden zog.
Das Schlimmste waren die Stunden, bevor sie endlich auch mich zum Verhör holten. Wir mussten aufgereiht an der Wand eines langen Korridors auf dem Boden sitzen, im hellen Licht nervös flackernder Neonröhren, bewacht von mehreren Polizisten mit ausdruckslosen Gesichtern.
Einige von uns hatten es offenbar geschafft, zu entkommen. Gaffar zum Beispiel fehlte in unserer Reihe. Auch nach Belal hatte ich schon vor dem Appartementhaus, wo sie uns am Ende zusammengetrieben und in die Gefangenentransporter verfrachtet hatten, vergebens Ausschau gehalten. Sicher hätte ich mich etwas weniger verlassen gefühlt, hätte auch er dort in diesem trostlosen Flur bei mir gesessen.
Die ganze Zeit, während ich auf mein Verhör warten musste, hatte ich das Bild des kleinen Pakistani vor Augen, den sie sich als Ersten vorgenommen hatten, und - noch schrecklicher - die Geräusche im Ohr, die durch die gepolsterte Tür des Verhörzimmers ganz am Ende des Korridors zu uns gedrungen waren.
Nach nur wenigen Minuten war diese Tür wieder aufgestoßen worden. Zwei auffallend muskulöse Polizisten hatten den dürren Jungen über den Korridor an uns vorbei in den Fahrstuhl geschleppt. Als sie ihn wiedergebracht hatten, hatte er aus dem Mund geblutet und am ganzen Körper gezittert.
Sie hatten ihn ein zweites Mal in das Zimmer am Ende des Korridors gebracht. Diesmal war kaum etwas zu hören gewesen. Nur gelegentlich etwas, das wie ein Wimmern klang, zwei Mal unterbrochen durch einen kurzen Bums, als setzte jemand einen wassergefüllten Tonkrug grob auf einer hölzernen Tischplatte ab. Dann hatten sie ihn zu uns auf den Korridor hinausgeschleift und nicht weit von mir am Ende der Reihe auf den Boden sacken lassen.
Die ganze Aufführung hatte insgesamt wohl nicht mal zwanzig Minuten gedauert, aber das war mehr als genug, um uns alle in eine Art Schockstarre zu versetzen.
Wir hätten den Jungen gerne gefragt, was die von ihm hatten hören wollen und wohin sie ihn zwischendurch gebracht hatten. Aber selbst wenn seine untere Gesichtshälfte nicht so geschwollen gewesen wäre, wäre er kaum in der Verfassung gewesen, uns vernünftig zu antworten. Normalerweise hätte er mir leidgetan, aber in dieser Situation flößte mir sein Zustand nur Angst ein.
Als nächster war Zabiullah an der Reihe. Als er seinen Gang antrat, zeigte er keinerlei Anzeichen von Nervosität oder gar Angst. Die Polizisten hatten ihn beiderseits an den Oberarmen gepackt, aber es wirkte, als sei er derjenige, der das Tempo bestimmte, in dem die drei auf die ominöse Tür zumarschierten. Diesmal dauerte es lange, bis sich diese Tür wieder öffnete, ohne dass wir in der Zwischenzeit mehr als ein gelegentliches lauteres Wort gehört hätten. Unser Mann – diesmal in Begleitung von drei Beamten – trat so aufrecht auf den Gang hinaus, wie er hineingegangen war. Als er an der Stelle vorbeikam, wo Faizal saß, wurde dieser aufgefordert, mitzukommen. Mir warf Zabiullah im Vorbeigehen einen kurzen Seitenblick zu. Sein leises „Allah-u aqbar“ schien auch mir zu gelten. Sein üppiger Bart sah zerzaust aus, aber sonst konnte ich an ihm kein Anzeichen grober Behandlung erkennen. Die fünf verschwanden im Fahrstuhl.
„Vielleicht ist es am besten, man sagt einfach die Wahrheit“, flüsterte ich meinem Nachbarn zu, einem der beiden älteren Afghanen.
„Willst du etwa, dass sie dich direkt wieder nach Afghanistan abschieben?“, fragte er leise zurück. „Dann sollen sie mich lieber gleich hier erschießen.“
„Ist es etwa besser, in den Iran abgeschoben zu werden?“ Ich wusste, auch ihn hatten Kadérs Leute mit einem iranischen Pass ausgestattet.
„Von da aus ist es eine Grenze weniger bis nach Europa“, stellte er nüchtern fest. Er wollte noch etwas hinzufügen, aber der Blick eines unserer Bewacher brachte ihn zum Schweigen.
Eine Grenze weniger. Ich beschloss, dem Rat dieses Landsmanns zu folgen. Wieder und wieder ging ich im Kopf die ‚Geschichte‘ durch, die mir Belal anvertraut hatte.
Gespannt wartete ich, in welcher Verfassung mein Nachbar aus dem Verhörzimmer zurückkommen würde. Als sie ihn schließlich brachten und ich sah, wie er ganz am anderen Ende der Reihe zusammensackte, wusste ich, dass sie ihm seine Geschichte nicht geglaubt hatten. Dabei hatten sie sich, so wie es aussah, nicht mal die Mühe machen müssen, ihn zu misshandeln. Jetzt aber war es zu spät. Selbst wenn ich gewollt hätte, wäre ich nicht mehr in der Lage gewesen, mir in der Kürze noch etwas Neues zurechtzulegen.
Die beiden Polizisten, die mich abgeholt hatten, blieben hinter mir stehen, nachdem sie mich auf den niedrigen Hocker hinuntergedrückt hatten. Der Vernehmungsbeamte auf der anderen Seite des Tisches war ein breitschultriger, drahtiger Mann. Mit seinem hellen Khakihemd und dem kurz getrimmten Schnauzbart erinnerte er mich an das Bild eines britischen Offiziers in einem Buch meines Vaters über die Geschichte Afghanistans. Er lehnte scheinbar entspannt in seinem bequemen Bürostuhl und sah mich schweigend an.
Ich bemühte mich, extra gerade zu sitzen, so wie früher, wenn ich vor Großvater saß, und der mir etwas mitzuteilen hatte. Der Offizier klopfte mit der Spitze seines Kugelschreibers einen unregelmäßigen Rhythmus auf den dunkelroten iranischen Pass, der vor ihm auf dem Tisch lag. Ich dachte schon, ich halte dieses Schweigen nicht länger aus, da hörte das Klopfen auf. Mit einem Ruck richtete sich mein Gegenüber auf – wie eine Schlange, bevor sie zuschlägt.
„Du bist die Nummer 28“, sagte er. „Alle vor dir haben am Ende die Wahrheit gesagt.“ Nach einer kurzen Pause, die diesem Satz eine unheilvolle Schwere verlieh, beugte er sich zu mir herüber. Dabei erhob er sich halb aus dem Sessel und stützte sich mit seinen behaarten Händen auf dem Tisch ab. Sein nach Tabak riechender Atem wehte mir ins Gesicht. „Ausgerechnet du wirst doch wohl nicht am Ende noch unnötig unsere Zeit verschwenden wollen.“ Dabei sah er mich durchdringend an.
Seltsamerweise hatte er Persisch gesprochen. Gingen die davon aus, dass ich tatsächlich Iraner wäre? Ein Fünkchen Hoffnung glimmte in mir auf.
„Name?“
„Adib.“
„Alter?“
„fünfzehn.“
„Geburtsort?“
„Gonabad.“
Der Schnauzbart wischte den Pass vom Tisch. Klatschend fiel der neben mir auf den Boden. „Du willst uns also tatsächlich weismachen, dass du iranischer Staatsbürger bist! Dann erklär uns mal, wieso dein Persisch wie Dari klingt.“
Mit dieser Frage hatte ich gerechnet. Belal und ich hatten uns auch schon eine passende Antwort darauf überlegt. „In der Baufirma meines Vaters gibt es viele afghanische Arbeiter. Mit deren Kindern bin ich aufgewachsen. Mein Vater sagt immer, ich bin ein halber Afghane.“
„Na, dann können wir dich ja immerhin schon mal halb nach Afghanistan abschieben. Sag bloß, du kannst uns auch noch etwas über deinen Geburtsort Gonabad erzählen.“
Ich dachte an das, was Dr. Ponyandeh über diese Stadt gesagt hatte, die man in Van einfach aus meinem gefälschten iranischen Ausweispapier in den neuen iranischen Reisepass übernommen hatte. „Das ist die Stadt des Safrans“, sagte ich. “Und für die Sufis ist es eine heilige Stadt.“
Halb amüsiert, halb verblüfft sah mich der Vernehmungsoffizier an. „Du hältst dich wohl für besonders schlau – und uns für Idioten!“ Die letzten Worte brüllte er. „Du glaubst tatsächlich, du könntest uns mit einem primitiven Kartoffelstempel täuschen, der aussehen soll wie ein türkisches Touristenvisum?“ Er legte die Fingerspitzen an seine Schläfen, als dächte er nach. „Na, dann gebt ihm mal einen Vorgeschmack auf unser spezielles Programm für Touristen wie ihn.“
Ich wurde von beiden Seiten an den Haaren gepackt, mein Kopf mit der Stirn auf den Tisch geschmettert und sofort wieder hochgerissen. Für einen Moment wurde mir schwarz vor Augen und fast wäre ich von meinem Hocker gekippt. Vor Schmerz konnte ich keinen klaren Gedanken mehr fassen. Durch einen Tränenschleier hindurch sah ich den Schnauzbart nur noch verschwommen. Durch das Dröhnen in meinen Kopf hörte ich, wie er sagte, „Spätestens morgen wirst du uns alles erzählen.“ Dann sagte er noch etwas auf Türkisch zu den anderen. Die packten mich unter den Armen, schleiften mich hinaus auf den Flur und ließen mich an der Wand fallen wie einen Sack Mehl.
Ich hatte schon alles zugegeben, bevor sie überhaupt richtig angefangen hatten. Jetzt aber wollten sie immer noch mehr. Es waren ganz andere diesmal. Der Offizier mit dem Schnauzer war nur noch als Dolmetscher dabei. Sie haben erst von mir abgelassen, als sie sich abreagiert hatten. Vielleicht waren sie auch einfach nur erschöpft.
Dabei hätte ihnen doch von Anfang an klar sein müssen, dass man von einem knapp Sechzehnjährigen nicht erwarten kann, dass er sich an jedes Detail einer wochenlangen erschöpfenden Reise erinnert, an jeden Namen, jeden Ort und sogar an Adressen. Am Ende war mir alles egal. Ich hatte schließlich gelernt, wie man sich ganz in sich selbst verkriecht – so weit, dass man außen fast gar nichts mehr spürt und einfach fließen lässt, was nicht mehr zu halten ist.
Als sie mich zurück in die Zelle brachten und den anderen vor die Füße warfen, haben die sich sogar ein wenig um mich gekümmert und mir einen Platz an der Wand freigemacht. Von denen, die sie an diesem Morgen zum zweiten Mal ‚verhört‘ hatten, muss ich wohl so ziemlich am schlimmsten zugerichtet gewesen sein.
Als man uns Flüchtlinge in diese Zelle gepfercht hatte, waren die zwei Doppelstockbetten in der einen Ecke schon mit vier türkischen Kriminellen belegt gewesen – Drogendealern, wie wir später erfuhren. Am Abend des Tages, an dem man mich zum zweiten Mal verhört hatte, sprangen die vier plötzlich wie auf Kommando von ihren Betten und arbeiteten sich mit ihren Ellenbogen bis zur Zellentür vor. Minuten später wurde klar, warum. Die Zellentür wurde aufgeschlossen und ein Wärter schob mit dem Fuß einen großen Topf Reis und einen Stapel Blechschüsseln herein. Die Vier bildeten vor den Augen des grinsenden Wärters sofort einen Schutzwall um ihre Beute und begannen, in aller Ruhe große Portionen Reis in sich hineinzustopfen. Als der Wärter von außen die Tür verschloss, lachte er immer noch.
„Los, denen zeigen wir’s“, rief einer. Mit unserer Übermacht wäre es in der Tat ein Leichtes gewesen, diese Gauner zu überwältigen. Wir hatten seit fast zwei Tagen nichts mehr zu essen bekommen.
Ein älterer Paschtune aus Kandahar hielt alle zurück. „Wollt ihr etwa, dass diese Kerle um Hilfe schreien? Die da draußen warten ja nur darauf, sich nochmal mit ihren Knüppeln auf uns zu stürzen.“
Ich lag in meiner Ecke und konnte mich sowieso noch kaum rühren. Aber als ich jemanden sagen hörte, „Jetzt spucken diese Schweine auch noch auf den restlichen Reis in der Schüssel“, drehte sich mir nochmal der Magen um.
Mir war klar, dass ich mich damit abfinden musste: Wenn ich diese Gefängnishölle jemals verlassen würde, dann nur, um nach Afghanistan abgeschoben zu werden – dorthin, wo zweifellos nur noch Schlimmeres auf mich wartete. Seltsamerweise wünschte ich mir trotzdem nichts sehnlicher, als dass das möglichst schnell passieren würde. Nichts ist schlimmer, als auf das Unausweichliche auch noch warten zu müssen.
Wie es um unsere Sache stand, erfuhren wir dann ausgerechnet mit Hilfe dieser vier Gauner. Jedes Mal, wenn die Wärter hereinkamen, fingen die an, zu lamentieren, wann denn endlich dieses ‚dreckige Pack‘ aus ihrer Zelle verschwinden würde. Zum Glück hatten wir noch den älteren iranischen Kurden bei uns, den mit der Augenbinde, der schon in dem Keller in Van für Belal und mich aus dem Türkischen übersetzt hatte. Der gab an uns weiter, was er von dem Austausch zwischen den Gaunern und den Wärtern mitbekam.
So erfuhren wir, man erwarte nur noch einen Konsularbeamten unserer Botschaft in Ankara, um die Rücknahme der afghanischen Staatsbürger zu bestätigen. Dann würde alles ganz schnell gehen. Am dritten Tag unserer Gefangenschaft hieß es dann aber, die Botschaft könne zurzeit Niemanden schicken. Das Ganze könne sich noch um Tage, wenn nicht um Wochen verzögern.
Das nächste Gerücht, das sich herumsprach, elektrisierte mich geradezu: Die Botschaft verlange, dass die Abzuschiebenden ihren Flug nach Kabul selber bezahlten. Wer das Geld für den Flug nicht aufbringen könne, werde in den Iran abgeschoben.
In meinem Kopf begannen sich die Gedanken zu überschlagen. Gab es vielleicht doch noch einen Ausweg aus meiner so hoffnungslos erscheinenden Lage? Meinen Rucksack mit den hundert Dollar von meiner Tante Khosala konnte ich abschreiben. Gleich bei unserer Ankunft in der Polizeistation hatte man uns unsere Habseligkeiten abgenommen. Bei meinem zweiten Verhör hatten sie auch noch den Brustbeutel mit den weiteren einhundert Dollar entdeckt und ihn mir vom Hals gerissen. Blieben die hundert Dollar, die in meinem Gürtel eingenäht waren. Die würden sicher nicht reichen, den Flug zu bezahlen. „Wenigstens nicht gleich nach Afghanistan“, jubelte eine Stimme in mir. Die iranischen Behörden würden uns auf dem Landweg weiter bis zur afghanischen Grenze befördern. Da könnten sich ja Möglichkeiten ergeben, zu fliehen. Vielleicht sogar nahe Maschhad. Dann könnte ich versuchen, noch einmal bei Dr. Ponyandeh Unterschlupf zu finden. Es gab so viel, was ich von dem noch würde lernen können.
Natürlich war mir klar, dass das alles vollkommen unrealistische Träumereien waren. Und doch, ab diesem Tag – es muss mein fünfter oder sechster im Gefängnis gewesen sein – spürte ich tatsächlich wieder einen winzigen Funken der Hoffnung in mir.