Kitabı oku: «Das Buch der Bücher», sayfa 7
Wenige Tage später hatten die Gefängniswärter auf einmal gute Neuigkeiten für unser Gaunerquartett. So wie die reagierten, verstanden wir das auch schon ohne die Übersetzung unseres Iraners. Der erklärte uns dann, man wolle uns in ein Gefängnis nach Ankara verlegen. Die seien dort besser eingerichtet für größere Gruppen von aufgegriffenen Flüchtlingen und die Botschaften zur raschen Bestätigung unserer Staatsbürgerschaft seien vor Ort.
Der Tag unserer Verlegung begann mit einer großen Überraschung: Statt direkt zum Bus führten uns die Wachen erst einmal zu dritt oder zu viert in einen kleinen fensterlosen Raum, in dem wir unsere Sachen identifizieren sollten. Meinen Rucksack entdeckte ich gleich vorne in einem der Regale und angeknotet an einen der Tragriemen auch gleich noch den Brustbeutel, den man mir beim zweiten Verhör abgenommen hatte. Ich war so verdattert, dass mich einer der Wärter zweimal auffordern musste, endlich meine Sachen zu nehmen und Platz für die nächste Gruppe zu machen.
Im Bus, in dem wir uns jeweils zu Dritt in die Zweiersitze quetschen mussten, zeigte mir schon kurzes Betasten von außen, dass die in Plastik eingerollten Geldscheine noch da waren. Unauffällig zog ich das eine Röllchen aus dem Rucksack und steckte es mir in die Hosentasche, in die ich vorher auch schon den Brustbeutel gestopft hatte. Die Aussicht, nun womöglich doch direkt nach Afghanistan ausgeflogen zu werden, versetzte mich in Panik. Fieberhaft überlegte ich nur noch, wie ich das überschüssige Geld noch vor unserer Ankunft in Ankara unauffällig loswerden könnte.
Mitten in meine wirren Gedanken hinein platzte die Ansage, dass es auf der siebenstündigen Fahrt nur eine einzige Pinkelpause geben werde.
„Das ist unsere letzte Chance, zu entkommen“, flüsterte mir der kleine Pakistani ins Ohr, der neben mir saß.
„Du bist verrückt“, flüsterte ich zurück „Hast du nicht die Pistolen gesehen, die unsere fünf Bewacher dabeihaben?“
Vier Stunden später hockten wir alle auf einem offenen Acker. Jeder duckte sich so gut wie es ging in die Furche, um möglichst unbeobachtet von den anderen – und von den Wachen, die uns umstanden – sein Geschäft zu verrichten.
Dass einige das nur vortäuschten, merkte ich erst, als plötzlich mehrere von uns gleichzeitig aufsprangen und zurück auf die Straße rannten. Sie teilten sich auf, um links und rechts um den auf der anderen Straßenseite parkenden Bus herum das jenseits davon gelegene Wäldchen zu erreichen.
Dieses tollkühne Manöver kam selbst für unsere Bewacher so überraschend, dass sie erst reagierten, als der Erste der Flüchtenden bereits um den Bus herum außer Sicht verschwand. Drei der Polizisten nahmen die Verfolgung auf und alarmierten mit lauten Rufen ihren einen im Bus zurückgelassenen Kameraden. Ein Schuss fiel.
„Yallah! Sofort zurück in den Bus!“, brüllte der Polizist, der bei uns zurückgeblieben war, und fuchtelte nervös mit seiner Pistole.
Ich kam als einer der Letzten auf die Beine, und als ich endlich meine Hose zugeknöpft hatte, hatten die anderen bereits die Straße erreicht. In diesem Moment näherte sich ein kleiner Lieferwagen mit hoher Geschwindigkeit auf unserer Seite der Straße. Der Fahrer bremste scharf ab, als er bemerkte, dass da plötzlich Leute auf die Fahrbahn liefen. Direkt auf Höhe des Busses kam er zum Stehen.
Der Polizist sprang vor ihm auf die Straße, scheuchte die anderen von uns mit der Pistole rüber zum Bus, wo sein Kollege sie schon erwartete, und brüllte gleichzeitig auf den Fahrer des Lieferwagens ein.
Es muss alles völlig automatisch vor sich gegangen sein. Plötzlich fand ich mich an der Rückseite des Lieferwagens wieder, hievte mich in einem Schwung auf die Ladefläche hinauf und verschwand unter der Plane. Mein Herz raste und meine Arme zitterten von dem plötzlichen Kraftakt. Ich hatte mir das eine Knie aufgeschlagen. Erst als der Lieferwagen anruckte und mit mir davonfuhr, wurde mir so richtig bewusst, was ich soeben getan hatte.
Die alte Frau schlug die Hände über dem Kopf zusammen und rief irgendwas, was so viel heißen musste, wie „Junge, wo kommst du denn her.“ Sie packte mich so fest am Arm, dass mir der Apfel aus der Hand fiel, der mich über den Zaun gelockt hatte, zog mich durch den kleinen Garten ins Haus und rief laut einen Namen. Ein Mann, ebenso alt und verrunzelt wie sie, tauchte aus einem Nebenraum auf und starrte mich an. Ich zitterte und rechnete fest damit, dass er mich für meinen Apfeldiebstahl verprügeln würde.
„Adamcagiz!“ Dieser Ausruf klang eher bedauernd. Er sagte etwas zu der Frau. Daraufhin sagte die etwas zu mir, das eindeutig begütigend wirken sollte, bugsierte mich zu einem der Sitzkissen an der Wand und drückte mich sanft darauf nieder. Mein Anblick muss zum Erbarmen gewesen sein.
Fünf Tage habe ich bei den beiden alten Leuten in ihrem abseits gelegenen Häuschen verbracht. Sie haben mir mein blutiges Knie verbunden, haben mir offene Stellen am Rücken und unter dem Fuß mit Salbe bestrichen und haben mich regelrecht aufgepäppelt. Warum, habe ich nie erfahren, auch weil wir uns nur mit Händen und Füßen verständigen konnten. Sie schienen nicht mal besonders fromm zu sein. Jedenfalls habe ich sie nie die vorgeschriebenen Gebete verrichten sehen. Vielleicht habe ich sie an einen Sohn erinnert, den sie verloren hatten. Nirgendwo aber war ein Foto eines jungen Mannes zu sehen. Vielleicht hatten sie sich diesen Sohn auch nur gewünscht und hatten ihn nie bekommen.
Am dritten Tag wagte ich endlich zu fragen, ob ich mal ihr Telefon benutzen dürfe. Es war ein großer schwarzer Apparat mit einer Scheibe zum Wählen, wie er auch bei meinem Großvater auf dem Schreibtisch gestanden hatte. Ich wählte die Nummer, die man uns zuletzt für den Fall genannt hatte, dass wir unbedingt Kontakt zu unserem Schlepper aufnehmen mussten. Die hatte ich mir zum Glück noch auf der Innenseite meines Gürtels notiert.
Als ich hörte, dass jemand den Anruf annahm, nannte ich meinen Namen und den von Kadér. Einen Moment lang herrschte Schweigen am anderen Ende. Dann die überrascht klingende Stimme eines Mannes, der in nur schwer verständlichem Persisch fragte, wo ich denn wäre.
„In Sicherheit“, sagte ich, „in der Nähe von Kayseri.“
Die Antwort verstand ich erst, als der Mann sie wiederholte. „Da kann ich nichts machen.“
„Aber …“
„Ankara“, sagte er.
Ich zuckte zusammen. Ankara war die Stadt mit dem Gefängnis, in das uns die Polizisten hatten bringen sollen. „Aber …“, sagte ich.
„Ankara!“, wiederholte der Mann mit Nachdruck mehrmals hintereinander.
Ich fürchtete, er werde gleich auflegen und mir fiel nichts anderes ein, als den Hörer an meinen Gastgeber weiterzugeben. Der sagte oder fragte irgendetwas auf Türkisch, woraufhin ihm der andere offenbar etwas erklärte. Eine kurze Rückfrage noch, dann legte der Alte den Hörer auf. „Gut“, sagte er zu mir, „alles gut.“
Fast wäre ich vor Schreck vom Rücksitz des alten Motorrads gefallen, als vor uns der Wegweiser auftauchte: Kayseri 12 km. Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass ich die letzten Tage so nah an der Stadt mit dem schrecklichen Gefängnis verbracht hatte. Dabei hätte ich mir das eigentlich denken können. Der Kleintransporter war ziemlich lange in die Richtung zurückgefahren, aus der ich mit dem Gefängnisbus gekommen war, bevor er zum ersten Mal gehalten hatte und ich mich über die Felder hatte davonmachen können.
Ich klammerte mich noch fester an den alten Mann vor mir und hielt mein Gesicht in den flatternden Stoff seiner Jacke. Wie hatte ich gestaunt, als er dieses Uraltmotorrad aus dem Schuppen hinter dem Haus herausgeholt hatte. Noch mehr staunte ich, mit welcher Selbstverständlichkeit dieser alte Mann jetzt durch den chaotischen abendlichen Großstadtverkehr manövrierte.
Am Busbahnhof parkte er das Motorrad in einem Winkel außerhalb des Lichtkreises der Straßenlaternen und bedeutete mir, dort im Halbdunkel zu warten. Wenig später kam er mit dem Ticket zurück.
Ich fingerte nach dem Brustbeutel unter meinem Hemd, aber er schüttelte energisch den Kopf. Dann zeigte er auf mich, hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu und dann mit der Rechten den Mund. Anschließend tat er so, als ob er etwas sagen wolle, ohne dass er einen Ton herausbrachte und zeigte wieder auf mich. Schließlich legte er sich die Hand hinters Ohr, als ob er schlecht höre und schüttelte seinen Kopf. Ich nickte, ich hatte verstanden.
Er lief voraus und stieg noch vor mir in den Bus. Mit lauter Stimme, so dass alle, die schon auf ihren Plätzen saßen, es hören konnten, redete er auf den Fahrer ein. Ich verstand zwar nur einzelne Wörter, aber die begleitenden Gesten waren eindeutig genug: Ich, sein Enkel, sei taubstumm, und der Fahrer solle darauf achten, dass ich den Bus erst in Ankara verließe, wo mich mein Vater erwarte.
Dieser alte Mann war raffinierter als alle Schlepper, die ich auf meiner Flucht bisher getroffen hatte. Wenn es unterwegs eine Kontrolle gäbe, würde es genügend Menschen um mich herum geben, die den Polizisten oder Soldaten erklären könnten, dass ich nichts verstehen würde und leider auch nicht antworten könnte.
Ich küsste meinem Wohltäter die Hand, lief durch zu meinem reservierten Platz, und als der Bus losfuhr, winkten wir beide uns noch so lange zu, bis wir uns aus den Augen verloren. Ganz so, als wären wir wirklich Großvater und Enkel.
Als die mit Gewehren bewaffneten Wachen das große Rolltor aufschoben und mich sowie die drei syrischen Familien, mit denen ich gekommen war, in die Halle trieben, wurden wir mit Flüchen empfangen. Ich hatte nur das Glück, dass Gaffar, der Hüne, dem die Wachleute in Kayseri die Nase zertrümmert hatten, mich gleich erkannte und Belal losschickte, mich zu ihrer Gruppe zu holen. Mein Freund kam auf mich zugestürzt und umarmte mich.
„Wie damals in dem Keller in Van“, sagte ich.
„Ja, nur dass es hier noch viel schlimmer ist.“
Gaffar und die anderen, die in Kayseri hatten entkommen können, hatten sich eine eigene Ecke an der Seite der Halle gesichert. Natürlich musste ich als erstes berichten, wie es mir und den anderen nach der Razzia ergangen war. Als ich erzählte, wie ich der Polizei auf dem Transport nach Ankara buchstäblich in letzter Minute entwischt war, unterbrach Belal meinen Bericht.
„Du bist der größte Glückspilz, der rumläuft“, meinte er.
„Dieses Glück hätte ich gerne dir überlassen“, gab ich zurück. Er und meine anderen alten Bekannten wirkten hungrig und erschöpft und stanken noch schlimmer als ich. Aber wenigstens waren sie, statt ins Gefängnis zu kommen, nach nur drei Tagen auf irgendwelchen Lastwagen in dieser aufgegebenen Fabrikhalle in einem Industriegebiet am Rande von Istanbul gelandet. Der Wachmann, der uns damals gerade noch rechtzeitig aus der Wohnung geholt hatte, war so schlau gewesen, sie statt raus auf die Straße in einen Kellerraum des Apartmenthauses zu führen. Dort hatten sie sich hinter großen Müllcontainern versteckt, bis die Luft wieder rein gewesen war und die Schlepper ihren Weitertransport organisiert hatten.
Ich erzählte, wie ich zum Schluss in Ankara noch zwei Nächte in einer Wohnung mit den Flüchtlingen aus Syrien verbracht hatte, mit denen ich jetzt gekommen war. Die hatten eine ähnliche Irrfahrt durch die Türkei hinter sich, wie wir. Sie waren nach der Flucht in den Osten der Türkei erst an die Küste nach Mersin gebracht worden. Weil die Seeroute nach Zypern nach dem Untergang eines Flüchtlingsboots vor der dortigen Küste auf unbestimmte Zeit blockiert war, waren sie schließlich in Ankara gelandet. Unsere Schlepper in Kayseri hatten also nicht gelogen, als sie uns erklärt hatten, es gebe Probleme mit einigen der bisher üblichen Fluchtrouten.
Gaffar nickte. Deshalb sei es ja auch hier in der Halle inzwischen so voll. Die Probleme seien offenbar immer noch nicht gelöst. Das habe auch ihr Türke gerade erst wieder aus den Gesprächen der Wachleute herausgehört.
„Ich bin kein Türke! Ich bin Kurde aus dem Iran“, protestierte der schmächtige Junge an Gaffars Seite. „Dafür, dass ich so gnädig bin, euch über die aktuelle Lage auf dem Laufenden zu halten, weil ich hier als einziger von euch Türkisch verstehe, müsstet ihr mir eigentlich auf den Knien danken, statt mich zu verspotten.“
„Unsere Dankbarkeit ist schier grenzenlos“, sagte Gaffar. „Hätten wir Afghanen dich sonst so brüderlich in unsere Runde aufgenommen?“ Der Junge grinste. Es schien schon scherzhafte Routine zu sein, dass man ihn in der Gruppe als Türke bezeichnete und er sich dagegen verwahrte. Ich erinnerte mich zwar dunkel daran, dass er in Kayseri am Ende in der dritten Wohnung dabei gewesen war, aber in der kurzen Zeit dort war er mir nie weiter aufgefallen.
„Willst du uns nicht ein wenig die Zeit vertreiben, indem du uns erzählst, wie es so in einem türkischen Gefängnis zugeht“, schlug Belal vor.
„Wollt ihr wirklich wissen, wie es in der Hölle ist“, habe ich – halb scherzhaft – zurückgefragt. Der junge ‚Türke‘ sah mich mit einem Blick an, als hätte ich ihm persönlich die Hölle angedroht. „Aber es haben doch alle überlebt?“, fragte er in seltsam flehentlichem Ton
„Ja, doch, aber klar“, versucht ich ihn zu beruhigen.
„Und du warst wirklich der Einzige, der vor der Abschiebung fliehen konnte?“, fragte er. Er machte dazu ein Gesicht, als wäre eine Abschiebung in seinen Augen mindestens genauso schlimm, wie eine türkische Gefängnishölle. Kann ich nicht mit Sicherheit sagen, sagte ich nur.
Später fragte ich Belal, ob er Näheres über den ‚Türken‘ wisse. „Den kennen wir doch aus Van“, erklärte er mir. Jedenfalls an seinen Vater müsse ich mich eigentlich erinnern. Das sei der iranische Kurde mit der Augenbinde gewesen, der die Beschimpfungen des Typen mit den Pässen für uns übersetzt habe.
Da war mir natürlich klar, warum der Junge so reagiert hatte. Erst wollte ich direkt zu ihm rübergehen, um ihm zu erzählen, wie wichtig sein Vater für uns alle im Gefängnis gewesen war, da er dort – genau wie er hier – für alle die Rolle des Türkisch-Dolmetschers übernommen hatte. Aber dann hätte ich ihm auch bestätigen müssen, dass sein Vater mit uns im Gefängnis gewesen und inzwischen wohl längst in den Iran abgeschoben worden war. Das kleine Fünkchen Hoffnung, dass er vielleicht doch irgendwie hatte entkommen können, wollte ich ihm nicht nehmen.
Am nächsten Tag wurde zu ersten Mal seit einer Woche wieder eine Gruppe von Flüchtlingen von ihren Schleusern aus der als ‚Zwischenlager‘ dienenden Halle abgeholt. Gaffar schickte sofort unseren ‚Türken‘ los, sich an die Schleuser heranzumachen, während die Glücklichen ihre Habseligkeiten zusammenpackten. Was Mehran – ich wusste inzwischen, dass unser junger Dolmetscher so hieß – anschließend zu berichten wusste, machte uns Hoffnung. Er hatte die Worte Landweg und Griechenland aufschnappen können.
Wir alle hatten Angst vor der Überfahrt über das Meer nach Griechenland gehabt. Darüber kursierten die schlimmsten Gerüchte. Wir hatten zwar auch gehört, dass es hoffnungslos wäre, die Landgrenze nach Griechenland überqueren zu wollen, aber die Situation dort musste sich aus irgendwelchen Gründen verändert haben. Belal jedenfalls verbreitete wieder mal Optimismus. Er erinnerte uns daran, dass die Schlepper ihr Geld ja erst dann voll ausgezahlt bekämen, wenn sie uns sicher auf die andere Seite gebracht hätten.
Als am folgenden Tag gleich zwei Gruppen abgeholt wurden, stieg unsere Stimmung weiter an. Es sah so aus, als hätten die Schlepper endlich Wege gefunden, den Stau aufzulösen, der auf ihren gewohnten Routen in den Wochen zuvor entstanden war. Außerdem gab es mit jedem Weggang etwas mehr Platz. Die Schlangen vor den Toiletten und der einzigen Dusche, die es im hinteren Teil der Halle gab, wurden kürzer. So bekam auch ich endlich einmal, spät in der Nacht, die Chance, mich richtig zu waschen. Ich fühlte mich, als hätte man mir ein neues Leben geschenkt. Sogar die Essensportionen waren am Abend, wie die ‚Alteingesessenen‘ feststellten, ein klein wenig größer geworden.
Schon am nächsten Tag, gegen Mittag, war endlich unsere Gruppe dran. Wie auf Kommando sprangen wir alle auf, als jemand von Eingang her laut „Kadérs Leute“ rief. Keine fünf Minuten später hatten wir uns alle zwölf in den kleinen Lieferwagen gequetscht, mit dem man uns abtransportierte.
Wir dachten, es ginge gleich weiter zur Grenze. Als wir nach gut zwei Stunden Fahrt anhielten und die Türen von außen geöffnet wurden, stellten wir fest, dass wir vor einem heruntergekommenen Wohnkomplex standen. Das war hier offenbar immer noch Stadtgebiet. Ich war fast ein wenig erleichtert. Im Dunkel des geschlossenen Lieferwagens war das Gespenst meiner Angst vor dem kommenden Grenzübertritt in voller Größe zurückgekehrt.
Der Schlepper – ausnahmsweise kein Kurde, sondern ein älterer Afghane – führte uns in eine Wohnung im Erdgeschoss, die auf einen düsteren Innenhof hinausging. Er erklärte uns, hier müssten wir warten, bis er von Kadér sein Geld erhalten habe. Gaffar protestierte. Kadér zahle doch erst, wenn wir drüben wären. Seinen Lohn ja, erklärte der Mann. Aber irgendwie müsse er ja erst mal seine laufenden Kosten decken. Wir trauten diesem Mann nicht, obwohl er ein Landsmann war, aber wir waren ihm ausgeliefert.
Immerhin waren wir die einzigen in der kleinen Zweizimmerwohnung, und nach der Fabrikhalle war diese düstere Unterkunft geradezu luxuriös. Als wir auf dem Tisch und im Kühlschrank einen kleinen Vorrat an Lebensmitteln entdeckten, waren wir beinahe schon wieder versöhnt. Das erste Mal seit langem würden wir uns sogar selber was kochen können. Der erneute, aber unter diesen Umständen wenigstens nicht ganz so unangenehme Wartezustand hat dann nochmal fast drei Tage gedauert.
Es war schon dunkel, als die Tür des Lieferwagens geöffnet wurde. Es roch nach feuchter Erde und frischem Grün. Der Wagen stand auf einem Feldweg. Das vor uns schien ein weiter Acker zu sein, aber Genaueres konnte man in der Dunkelheit nicht erkennen.
Unser afghanischer Schlepper und zwei weitere Männer stießen uns wortlos vor sich her um den Wagen herum auf die andere Seite. Ich erschrak, als einer der Männer plötzlich mein Handgelenk packte und mich ein Stück weit in ein Gebüsch zog. Mit gedämpfter Stimme rief er, alle sollten sich an den Schultern des jeweiligen Vordermanns festhalten. Sogar Gaffar gehorchte sofort. Es waren unverkennbar seine schweren Pranken, die sich auf meine Schultern legten. Der Mann zog mich voran. Am Ruckeln an meiner Schulter merkte ich, wie hinter mir einer nach dem anderen mitgezogen wurde, bis die ganze Schlange sich – immer wieder ruckend und stockend – durch das dichte Buschwerk vorwärtsbewegte.
Über uns rauschte es auf. Ein Windstoß fuhr durch die Baumkronen. Das war offenbar dichter Laubwald, durch den sich unsere Schlange vorankämpfte. Ich schloss die Augen, nachdem mir ein zurückschnellender Ast ins Gesicht gepeitscht war. Sehen konnte man in der Dunkelheit sowieso so gut wie nichts.
Vielleicht verläuft die Grenze an dieser Stelle mitten durch den Wald, fuhr es mir durch den Kopf. In der Fabrikhalle in Istanbul hatte unser Türke etwas von einem Grenzfluss gehört. Genaueres hatten wir aber nicht herausfinden können. Die Wachen in Kayseri hatten ja ‚aus Sicherheitsgründen‘ alle Handys eingesammelt. Auch diejenigen, die nicht im Gefängnis gelandet waren, hatten die ihren nie wiederbekommen.
Meine aufkeimende Hoffnung, dass wir vielleicht schon auf griechischer Seite sein könnten, wurde kurz darauf wieder zunichte gemacht – durch penetranten Fäkaliengestank. Ganz in der Nähe musste sich erst kürzlich eine größere Anzahl von Menschen erleichtert haben. Kurz darauf ein Quaken und dann ein Platschen. Der Mann vor mir lockerte seinen eisernen Griff um mein Handgelenk. Wir standen plötzlich im Freien, offenbar am Rande eines Gewässers.
Es muss eine mondlose Nacht gewesen sein oder der Himmel war dicht bewölkt. Jedenfalls konnte man selbst die am nächsten Stehenden nur mehr ahnen als sehen. Die Schlepper zerrten irgendetwas aus dem Gebüsch. Es folgte ein seltsames Knarzen, Surren und Zischen. „Schlauchboote“, flüsterte jemand.
Obwohl die Nacht kühl war, fühlte ich, wie mir der Schweiß ausbrach. Ich konnte nicht schwimmen. Der Gedanke, auf einem kleinen, schwankenden Gummiboot auf einen tiefen, reißenden Fluss hinausgetrieben zu werden, ohne auch nur das Geringste zu sehen, machte mir Angst.
Ganz in meiner Nähe rief jemand mit unterdrückter Stimme auf Persisch im typisch breiten kurdischen Dialekt, die beiden Kräftigsten sollten zu ihm kommen. Wer sich außer Gaffar, der direkt neben mir stand, noch bei ihm meldete, konnte ich nicht sehen. Aber die Instruktionen, die der Schlepper den beiden erteilte, verstand ich. Sie bekämen ein Paddel und sollten sich jeweils ganz vorne in eins der beiden Boote setzen. Auf das Startsignal hin sollten sie kräftig zu paddeln beginnen, immer abwechselnd links und rechts vom Bug, um das Boot auf Kurs zu halten. Nach dreihundert beidseitigen Paddelschlägen sollten sie einhalten, und zwar für ungefähr fünfzehn Minuten. Die starke Strömung würde uns in der Zeit von selbst über die Mitte des Flusses hinweggetragen haben. Anschließend sollten sie dann so schnell wie möglich auf das nächstgelegene Ufer zupaddeln.
Gaffar oder der andere sagte etwas, das ich nicht verstand. Es hörte sich aber eher wie ein leiser Protest als wie eine Frage an. Nein, hörte ich den Schlepper antworten, das sei absolut sicher. Wir würden so völlig problemlos die griechische Seite erreichen.
Das Surren der elektrischen Pumpe hatte aufgehört. Leise Platscher verrieten, dass die beiden Boote zu Wasser gelassen wurden.
Nicht lange, und ich wurde an den Schultern gepackt und vorwärts geschoben. Mein Fuß stieß an etwas Weiches. Wenn ich nicht stürzen wollte, musste ich über das Hindernis steigen. Es gab kein Zurück mehr. Wie ich es geschafft habe, mich auf den wabbeligen Boden zu setzen, ohne ins Wasser zu stürzen, weiß ich nicht. Jedenfalls fand ich mich weit vorne im Boot wieder, gleich hinter unserem Mann mit dem Paddel. „Belal?“, fragte ich ins Dunkel hinein. Statt einer Antwort zischte jemand „Sei still!“
Ein Stoß, ein Knirschen, und wir schaukelten auf dem Wasser. Ein leises „Okay?“ vom Ufer her, ein „Okay“ von Gaffar und eins von der Seite, ein Stück weit entfernt.
Gaffar begann, sein Paddel ruhig, aber kräftig mal links, mal rechts vom Bug in den Fluss zu tauchen. Jedes Mal, wenn er es auf meiner Seite voll durchzog, traf mich ein Schwall kalten Wassers. Nach kurzer Zeit war ich völlig durchnässt. Ein leiser Fluch von gegenüber zeigte mir, dass es dem, der dort saß, genauso erging.
Ich hatte das Gefühl, dass wir schnell zur Seite hin abtrieben, aber der Schlepper hatte ja auch etwas von starker Strömung gesagt. Auf dem offenen Wasser glaubte ich in einiger Entfernung den Schatten des zweiten Bootes zu erkennen. Auch hinter uns schien es sich ein klein wenig aufzuhellen. Die noch tiefere Dunkelheit dort zog sich fast unmerklich zu einem breiten, horizontalen Streifen zusammen, der nach und nach in die Ferne rückte. Es gab anscheinend genügend Restlicht, um den Uferstreifen zu erkennen, wenn man genau hinsah.
Angestrengt blickte ich voraus, aber in der Richtung konnte ich im Dunkel keinerlei Strukturen ausmachen. Zu hören war nur das regelmäßige Platschen des Paddels.
Keiner im Boot muckste sich mehr. Alle starrten sicher genauso angespannt in die Dunkelheit, wie ich. Was, wenn sich das Boot in der schnellen Strömung unmerklich drehte? Vielleicht paddelten wir inzwischen längst wieder in Richtung des türkischen Ufers zurück?
Kaum war mir das durch den Kopf geschossen, stellt Gaffar das Paddeln ein. Er musste bereits bis dreihundert gezählt haben. Bis auf ein gelegentliches leises Glucksen war es jetzt absolut still. Auch von unserem zweiten Boot war nichts zu hören. Das ging eine ganze Weile so. In der Ferne krächzte ein Vogel. Die fünfzehn Minuten müssten doch längst vorbei sein, dachte ich.
In dem Moment flammte seitlich hinter uns ein Scheinwerfer auf. Der schien hoch über dem Ufer zu schweben. Ein Wachturm! Fast blieb mir das Herz stehen. Zögernd senkte sich der Lichtstrahl auf die Wasseroberfläche hinab. Für einen kurzen Moment hob er das leuchtende Grün dichten Buschwerks am gegenüberliegenden Ufer aus dem Dunkel. Im Gegenlicht konnte man etwa zwanzig Meter entfernt jetzt auch unser zweites Boot mit den tief geduckten Gestalten darin deutlich erkennen.
Langsam trieben wir von dem hin und her über die Wasseroberfläche schweifenden Lichtkegel fort. Offensichtlich waren wir kurz zuvor direkt vor diesem Wachturm vorbeigetrieben. Aber selbst in dieser Entfernung konnten die uns doch unmöglich übersehen. Ich erwartete jeden Moment Schüsse zu hören. Oder zumindest laute Warnrufe oder eine Sirene. Mein Herz raste. Ich hielt den Atem an, als ob ich so für den Schützen dort oben unsichtbar würde.
Jemand klammerte sich an meinem Arm fest. Jetzt erst erkannte ich, dass Mehran, unser ‚Türke‘, neben mir saß.
Der Lichtkegel des Scheinwerfers verharrte nunmehr in der Mitte des Flusses. Die ganze Szenerie wirkte wie eingefroren.
Wie in Zeitlupe sanken der Scheinwerfer oben und der von ihm unten in den Fluss gemalte glänzende Lichtfleck in die Ferne zurück – so wie ein böser Traum langsam verblasst, wenn man erwacht. Stattdessen schob sich die Erkenntnis in mein Bewusstsein, dass wir inzwischen längst über die Mitte des Flusses hinweg sein mussten.
Da traf mich auch schon ein Schwall kalten Wassers. Gaffar hieb nun das Paddel in den Fluss, als wolle er mit nur drei oder vier Schlägen das andere Ufer erreichen. Vom Scheinwerfer flussaufwärts war nichts mehr zu sehen.
Es war wieder vollkommen dunkel, als unser Boot über ein Hindernis schrappte und stecken blieb. Es muss ein scharfes Hindernis kurz unter der Wasseroberfläche gewesen sein. Es zischte. Der pralle Wulst in meinem Rücken erschlaffte und sackte weg. Als ich hochschnellte, trafen meine Füße sofort auf festen Grund. Kaum hatte ich mich voll aufgerichtet, merkte ich, dass ich bis zu den Knien im Wasser stand.
Jemand drängte sich an mir vorbei Richtung Ufer. Ich wollte sofort hinterher, aber ein Hindernis unter Wasser stoppte mich und hätte mich beinahe zu Fall gebracht.
Jemand schob sich an meiner rechten Seite vorbei, im gleichen Moment bekam ich einen Stoß von der anderen Seite. Plötzlich war da niemand mehr rechts. Ich hörte nur einen Hilfeschrei und ein Platschen.
Im nächsten Moment kniete ich bis zum Bauch im Wasser, krallte mich mit der einen Hand an irgendwas fest und tastete mit der anderen wild in der Richtung herum, aus der ich das Planschen und Gurgeln hörte. Eine Hand packte meinen Arm, glitt aber sofort wieder ab.
Wie von Sinnen rutschte ich auf den Knien nach vorn und bekam irgendein Kleidungsstück zu fassen. Gleichzeitig verlor meine andere Hand ihren Halt. Ich glitt noch tiefer ins Wasser und bevor ich noch schreien konnte, tauchte ich gänzlich unter. Im selben Moment fühlte ich, wie mir jemand unter die Arme griff.
Ich lag rücklings auf trockenem Sand und schnappte nach Luft. Neben mir hörte ich jemanden spucken und husten.
„Du hast unserem Türken das Leben gerettet,“ flüsterte jemand. Ich spürte, wie sich eine schwere Hand auf meine Schulter legte.
„Und wer …?
„Psst“, machte Gaffar, „noch sind wir nicht in Sicherheit.“
Äste knackten. Ein Rascheln, wie wenn ein Tier durchs Unterholz flieht. „Da kommen welche“, flüsterte es. Das Licht einer Taschenlampe fuhr über uns hin. Wir waren sechs, aber mein Freund Belal war nicht dabei.
„Kadér?“, fragte eine raue Stimme aus der Dunkelheit hinter der Taschenlampe.
Griechenland
„Where are the others?“, fragte ich, als die zwei Männer uns aufforderten, hinten in ihren Lieferwagen zu steigen. Zu meiner Überraschung antwortete der eine von ihnen auf Kurdisch.
„Die waren nicht ganz so schnell wie ihr. Sind erst zwei Kilometer weiter flussabwärts gelandet. Unsere bringen sie zu der Polizeistation dort in der Nähe.“
„Seid ihr durchgeknallt?“, grollte Gaffar. „Ihr liefert unsere Freunde der Polizei aus?“
„Immer mit der Ruhe“, sagte der Kurde, unbeeindruckt von Gaffars drohendem Unterton. „Wir sind hier nicht in Afghanistan. Die werden denen dort ein paar höfliche Fragen stellen und dann wird man sie in einem bequemen Bus nach Fylakio fahren. Genau dahin, wohin auch wir euch jetzt bringen. Wahrscheinlich seht ihr die alle morgen schon wieder.“
„Und was passiert dann mit uns in diesem Fylakio?“ Gaffar schien genauso verblüfft wie ich.
„Man wird euch ein wenig befragen – registrieren nennen die das – und wenn ihr Glück habt, nimmt sich einer der Ärzte dort auch noch die Zeit, zu prüfen, ob ihr euch etwa erkältet habt.“ Dabei ließ der Kurde seinen Blick leicht amüsiert über unsere durchnässten Kleider gleiten. „In letzter Zeit sind die dort so überlaufen, dass sie euch so schnell wie möglich in einen Bus nach Athen setzen werden – mit einer Bescheinigung in der Hand, dass ihr euch erst mal für sechs Monate dort aufhalten dürft. Und jetzt rein mit euch. Sonst holt ihr euch tatsächlich noch eine Erkältung.“
Das war alles so verwirrend, dass wir ohne weitere Fragen in den Lieferwagen kletterten.
Es begann gerade erst zu dämmern, als sie uns wieder rausließen. „Fylakio“, sagte der eine und wies auf ein Ortsschild in Fahrtrichtung. „Ihr dort hinunter“, sagte der andere und zeigte dabei in die entgegengesetzte Richtung. Nachdem der weiße Lieferwagen zwischen den ersten Häusern des Dorfes verschwunden war, standen wir erst einmal unschlüssig herum. Natürlich trauten wir diesen Schleppern nicht. Im Dorf krähte ein Hahn. Dann war es wieder vollkommen still. Kein Lüftchen regte sich. In den Ort trauten wir uns nicht. Einfach stehen bleiben konnten wir auch nicht. So setzten wir uns schließlich alle sechs – einer nach dem anderen – langsam in Bewegung, die verlassene Landstraße entlang in die einzige Richtung, die blieb.