Kitabı oku: «Das Buch der Bücher», sayfa 8

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Als wir den Stacheldraht auf der Umzäunung des Geländes mit den niedrigen, barackenartigen Gebäuden zur Linken bemerkten, war es bereits zu spät. Auf dem Seitenweg, der vor dem Zaun entlang ins Halbdunkel führte, blendeten Scheinwerfer auf und erfassten uns. Das Fahrzeug schoss auf die Landstraße hinaus und stoppte unmittelbar hinter uns.

Ich erwartete, dass Polizisten oder mit Knüppeln bewaffnete Wachleute herausspringen und sich auf uns stürzen würden. Stattdessen streckte eine junge Frau mit langen blonden Haaren ihren Kopf aus dem Seitenfenster des Kleinbusses. „Good Morning! Please come in“, rief sie uns zu, während die Tür an der Seite des Busses aufglitt. Es wirkte, als hätte sie seit Stunden in ihrem Kleinbus nur auf uns gewartet.

Alle schauten auf Gaffar. Der schüttelte den Kopf. Auf diese Entwicklung der Lage konnte auch er sich offenbar keinen Reim machen.

„Welcome“, sagte die Blonde mit freundlichem Nachdruck und winkte uns einzusteigen.

Mehran setzte sich als Erster in Bewegung. Als wir alle im Bus saßen, setzte die junge Frau zurück und bog in den Seitenweg ein. Keiner von uns sagte ein Wort, als wir nach kaum mehr als zweihundert Metern durch das weit offene Tor auf das stacheldrahtumzäunte Gelände einbogen. Genau in diesem Moment malte die Morgendämmerung einen ersten rosigen Lichtstreifen an den Horizont, als wolle auch sie uns freundlich begrüßen.

Die Schlepper hatten tatsächlich die Wahrheit gesagt. Noch bevor man uns fragte, woher wir kämen und wer wir überhaupt wären, reichte man uns Becher mit heißem Tee und drückte uns dazu lange Stücke von einem knusprigen aber innen ganz flauschigen Weißbrot in die Hand.

Die Fragen kamen erst, als wir geduscht und uns neue Sachen übergezogen hatten, die wir uns in einer Kleiderkammer hatten aussuchen dürfen. Wir wurden gleichzeitig in einem größeren Raum an mehreren Tischen nebeneinander befragt. Die Beamten waren höflich, und nachdem wir bestätigt hatten, dass wir einen Antrag auf Asyl in Europa stellen wollten, notierten sie einfach nur unsere Antworten, ohne groß nachzufragen.

Der rundliche Mann mit dem Schnauzer, dem ich gegenübersaß, stellte seine Fragen in einer Sprache, die mir vollkommen fremd war. Das muss Griechisch gewesen sein. Der Hagere neben ihm übersetzte für mich ins Dari. Es war ein seltsames Gefühl, dass mich hier in Europa jemand freundlich in der Sprache meiner Heimat anredete. Nur als er die Frage nach meinen Fluchtgründen übersetzt hatte und ich nicht gleich antwortete, wurde er ungeduldig. Er wiederholte die Frage noch zwei Mal hintereinander. Dabei hatte ich nur schnell hören wollen, wie Mehran am Nebentisch gerade die gleiche Frage beantwortete.

Sein Vater habe seine Stelle als Lehrer verloren – wegen offener Kritik an den Mullahs, hörte ich ihn sagen. Die Revolutionswächter hätten ihn mitgenommen und wegen angeblicher Kontakte zu Feinden des Islamischen Staates verhört und gefoltert. Als eine erneute Verhaftung gedroht habe und man ihn, Mehran, von der Schule verwiesen habe, sei Flucht aus dem Iran für sie beide der einzige Ausweg gewesen. „In der Türkei haben sie meinen Vater dann wieder verhaftet und wahrscheinlich in den Iran abgeschoben. Ich konnte gerade noch fliehen“, beendete Mehran seine Erklärung.

Der Beamte, der ihn befragte, nickte verständnisvoll.

„Die Taliban haben meinen Vater ermordet“, war das einzige, was ich dann herausbrachte. Ohne eine Miene zu verziehen, notierte der Schnauzbart etwas in dem Bogen, der vor ihm lag. Weitere Fragen hatte er nicht.

Erleichtert bin ich aufgesprungen und hinter Mehran hergelaufen, der bereits auf dem Weg hinaus aus der Baracke war. „Das tut mir leid, das mit deinem Vater“, sagte ich spontan, als ich ihn eingeholt hatte. „Er war für uns alle der wichtigste Mann im Gefängnis in Kayseri.“

Mehran sah mich überrascht an. „Und ich habe mich noch nicht einmal richtig bei dir bedankt, dass du mir das Leben gerettet hast“, sagte er.

Die nächsten Tage hockten wir beiden oft zusammen draußen in der Sonne. Es gab nichts zu tun, und in unserem Wohncontainer war es zu heiß und zu eng. In den ersten zwei Tagen teilten wir sechs aus dem Schlauchboot den auch noch mit vier jungen Männern aus Syrien.

Es war ein ständiges Kommen und Gehen. Die Flüchtlinge, die schon vor uns dagewesen waren, erhielten nach und nach ihre Papiere und wurden dann in Bussen abtransportiert, während ständig wieder neue eintrafen. Schon am dritten Tag gehörten wir zu den Alten im Lager und konnten all die Nachrichten und Gerüchte an die Neuankömmlinge weitergeben, die auch wir am Anfang begierig aufgenommen hatten.

Gute Nachrichten waren das nicht. Die Grenzen nach Norden seien geschlossen und bestens bewacht, hieß es. Auch der Versuch, von der Hafenstadt Patras aus mit dem Schiff nach Italien zu gelangen, sei inzwischen praktisch aussichtslos. Es gebe Flüchtlinge, die schon seit über einem Jahr in Athen auf der Straße lebten, ohne Geld, ohne Arbeit und ohne jede Aussicht, weiterzukommen. Das war vor allem ein Schock für diejenigen, deren Flucht nur bis Griechenland bezahlt worden war, und die sich von hier aus alleine weiter durchschlagen mussten. Das waren die meisten.

Auch in unserer Sechsergruppe waren es nur Mehran und ich, für die Geld für eine Flucht bis nach Italien hinterlegt war. Allerdings hatten wir keine Ahnung, wie wir mit den Schleppern für die nächste Etappe in Kontakt kommen sollten. „Die werden sicher einen Weg finden, uns aufzuspüren, sobald wir in Athen sind“, beruhigte ich Mehran, ohne das selbst so richtig zu glauben.

Am vierten Tag erhielten tatsächlich auch wir die Bescheinigung, die uns berechtigte, uns sechs Monate lang in Athen aufzuhalten. Noch am gleichen Vormittag konnten wir den Bus besteigen, der uns dort hinbringen sollte. Spätestens da war klar, dass uns die beiden Schlepper belogen hatten, soweit es unsere Freunde betraf, die in dem zweiten Schlauchboot den Grenzfluss überquert hatten.

Einen Moment lang spielte ich mit dem Gedanken, mich zu weigern, das Lager zu verlassen, bis Belal kam. Aber vielleicht hatte man ihn und die anderen schon direkt nach Athen gebracht. Dann würde ich womöglich meine Chance verpassen, selber weiterzukommen. Ich beruhigte mich mit dem Gedanken, dass die Flucht meines Freundes sogar bis Deutschland bezahlt war. Er würde für die Schlepper also weiterhin bares Geld wert sein, bis er dort angekommen wäre. Genau das hatte er ja selber immer gesagt.

„Am besten, wir schlafen möglichst viel, damit wir ausgeruht sind, wenn wir in Athen ankommen“, sagte ich zu Mehran, als wir losfuhren. Man hatte uns gesagt, unsere Fahrt würde mehr als zwölf Stunden dauern.

Mehran nickte nur stumm. Ich wusste, woran er in diesem Moment dachte. Durch die bevorstehende Fahrt würde er sich nur immer weiter von seinem Vater entfernen.

Ich selbst muss bald darauf eingedöst sein. Ich schreckte aus dem Schlaf hoch, weil der Bus plötzlich stand. Mehran stieß mich an und zeigte auf das flache Gebäude draußen. „Pinkelpause“, sagte er, und gähnte.

Die meisten der anderen Flüchtlinge im Bus – darunter auch einige Frauen und Kinder – standen schon im Gang und drängten nach draußen. Als Mehran und ich vor dem Waschraum für Herren ankamen, hatte sich vor der Tür schon eine lange Schlange gebildet. Die hatte sich noch kaum voran bewegt, als zwei junge Männer aus dem Gebäude herauskamen. Die fielen mir sofort ins Auge, schon wegen ihres selbstbewussten Auftretens und ihrer schicken Sonnenbrillen. Flüchtlinge waren das offenbar nicht. Auffallend langsam schlenderten sie an den Wartenden vorbei. Der eine schien dem anderen in kurzen Abständen irgendwas zuzurufen. Als sie näherkamen, verstand ich plötzlich, was er da rief, und dass das nicht für seinen Begleiter bestimmt war. Auch Mehran war zusammengezuckt, als er das Zauberwort hörte: „Kader?“

Wir beide nickten. Die Sonnenbrillen blieben kurz stehen.

„Nur ihr zwei?“ Das war Kurdisch! Wir nickten nochmals.

„Bleibt da drinnen, bis wir euch holen“, sagte der eine, drehte den Kopf kurz in Richtung Toiletten und beide schlenderten weiter, als wäre nichts gewesen, auf einen militärgrünen Toyota Land Cruiser zu, der nicht weit von unserem Bus entfernt geparkt war. Ich sah mich um. Nirgends ein Schild, das verriet, wo wir waren.

„Wie haben die uns hier nur gefunden?“, fragte Mehran.

„Müssen die ganze Zeit hinter unserem Bus hergefahren sein“, vermutete ich. Es war mir etwas unheimlich, dass der Arm unseres afghanischen Schlepperkönigs bis an diesen namenlosen Ort in Europa reichte. Aber es machte mich auch ein wenig stolz.

Im Waschraum angekommen stellten wir fest, dass es nur zwei Toilettenkabinen gab, die man von innen abschließen konnte. „Ihr seht aus, als hättet ihr es noch eiliger als wir“, sagte ich zu denen, die noch hinter uns kamen. Wir ließen allen den Vortritt, damit nicht gleich einer an die Tür hämmern würde, wenn wir uns da länger einschließen würden. Es dauerte nicht lange, und wir waren allein.

„Hoffentlich bemerken die nicht so schnell, dass zwei fehlen“, hörte ich Mehran nach einer Weile nebenan flüstern.

„Dazu ist der Bus zu überfüllt“, flüsterte ich zurück, „und es sind ja nicht mal Wachleute dabei.“

„Wo sind wir hier überhaupt?“, fragte Mehran auf Kurdisch, sobald wir hinten im Geländewagen saßen. „Kurz hinter Thessaloniki“, antwortete der Beifahrer von vorne fröhlich, als ginge es auf einen Familienausflug. Schon als wir auf sein Klopfen hin die Toilettentüren geöffnet hatten, hatte er einen total entspannten Eindruck gemacht. Auch auf unsere weiteren Fragen gaben die beiden Sonnenbrillen munter und bereitwillig Auskunft.

Warum sie uns nicht schon direkt an der türkischen Grenze abgeholt hätten.

Weil die Fahrt viel risikoloser wäre, jetzt, wo wir die Bescheinigung für Athen hätten. Nun könnten wir immer sagen, unser Bus wäre versehentlich ohne uns losgefahren, und jetzt wären wir per Anhalter dorthin unterwegs.

Ob es dann nicht einfacher gewesen wäre, wenn sie uns bei der Ankunft in Athen abgepasst hätten.

Wir sollten froh sein, dass sie uns das erspart hätten. Dort herrsche das totale Chaos. Außerdem wäre die anschließende Fahrt bis zu Grenze mehr als doppelt so weit gewesen. Kaum hatte Mehran mir das übersetzt, war meine Angst wieder da.

„Grenze? Wohin fahren wir überhaupt?“

„Zur albanischen Grenze“, antwortete der Fahrer. „Noch heute Nacht bringt euch mein Bruder hier“ – er nickte zu seinem Beifahrer hinüber– „auf die andere Seite. Keine Sorge, alles vollkommen easy.“

Ich kannte diese kurdischen Schlepper inzwischen nur allzu gut. Die waren anscheinend allesamt Brüder, und wenn sie behaupteten, alles wäre okay oder gar easy, drohte gewöhnlich Gefahr.

Mehran hatte anscheinend das Gleiche gedacht. „Müssen wir da etwa schon wieder über einen Fluss?“, fragte er.

„Nur über ein paar Berge“, lachte der ‚Bruder‘ des Fahrers.

Wir fuhren bereits durch eine bergige Gegend, die mich teilweise an meine Heimat Afghanistan erinnerte, auch wenn die Berge hier nicht ganz so hoch und meist bis oben hin bewaldet waren. Immerhin ließ mich dieser Anblick hin und wieder minutenlang meine Angst vor dem vergessen, was uns in der Nacht bevorstehen mochte. Wir kamen auf der fast durchweg vierspurig ausgebauten Strecke beunruhigend schnell voran.

Die Sonne war noch nicht einmal untergegangen, als der Fahrer plötzlich abbremste, die Fernstraße verließ und auf einer schmalen Landstraße weiter in die Berge hinauffuhr. Mehrere Kilometer ging es durch dichten Laubwald bergauf, bis wir auch die Landstraße verließen und in den Wald hineinfuhren, soweit es gerade noch ging.

Plötzlich standen mir die drei Grenzübertritte vor Augen, die ich schon hinter mir hatte. Aber sich zu erinnern machte nur schwach. Ich zwang mich, an die Helden meiner Kindheit zu denken, die großen Krieger aus dem Shahnameh. Denen war immer bewusst, dass keine Schlacht ohne Opfer abging, aber trotzdem marschierten sie jedes Mal los, ohne zu zögern. „Auf geht’s“, sagte ich mit fester Stimme zu Mehran.

„Drei Stunden etwa“, sagte unser junger, drahtiger Führer. Zum ersten Mal überhaupt nahm er die Sonnenbrille ab. Auf einmal sah er viel jünger aus. Sein Gesicht hatte etwas Spitzbübisches. Sein älterer ‚Bruder‘ machte es sich im Wagen gemütlich und nahm genüsslich einen ersten tiefen Zug aus seiner Zigarette. Es war nicht ganz klar, ob sein versonnener Blick uns galt, oder dem Rauch, den er uns hinterherblies.

Das Unterholz unter den hohen Bäumen war zum Glück nicht allzu dicht. So konnten wir unserem Führer im Restlicht des Abends noch gut folgen.

Schwierig wurde es erst, als wir nur noch den tanzenden Lichtkegel seiner Taschenlampe zur Orientierung hatten. Das Gelände erwies sich allerdings als weit weniger schwierig als das im Grenzgebiet zwischen dem Iran und der Türkei. Zweimal kamen wir auch auf einer schmalen geteerten Straße heraus, der wir jeweils ein längeres Stück folgten. Die Spannung ließ nach und es gelang mir, Mehran aufmunternd auf die Schulter zu klopfen.

Schließlich ging es doch noch ein ganzes Stück steiler bergauf durch steiniges Gelände. Schwer atmend erreichten wir einen weißlich schimmernden Felsgrat. Unser Führer löschte die Taschenlampe. Erst sahen wir unter uns nur hier und da vereinzelte Lichter. Dann erkannten wir im silbrigen Schein der Mondsichel, dass wir hoch über einer weiten, flachen Ebene standen.

„Albania?“, fragte ich und zeigte nach unten.

„Albania schon hier“, antwortete unser Führer, als wäre das eine Auskunft, wie jede andere.

Der folgende Abstieg war der schwierigste Teil des ganzen Marschs. Die Taschenlampe blieb ausgeschaltet. Man hätte unseren Weg nach unten sonst von der Ebene aus schon von weitem verfolgen können. Ohne das schwache Licht des jungen Mondes wäre es völlig unmöglich gewesen, den schmalen, im Zickzack steil nach unten führenden Pfad auszumachen. Unser Führer schien hier jeden Tritt zu kennen. Mehran und ich aber mussten uns immer mal wieder gegenseitig stützen, um nicht zu stolpern oder abzurutschen.

Unten angekommen wies unser Fahrer auf die schmale Mondsichel. Genau auf die zu sollten wir über die Felder laufen, bis wir auf eine Straße stoßen würden. Dort sollten wir im Straßengraben abwarten, bis kurz nach Sonnenaufgang ein blauer Lieferwagen mit roter Aufschrift vorbeikäme. Der Fahrer würde nach uns Ausschau halten, so dass wir nur kurz zu winken bräuchten. Er drehte sich um und ließ uns am Fuß der hochaufragenden, kalkweiß schimmernden Klippen zurück.

. . .

„Jetzt lass mich mal weiter vorlesen“, hat Martina mich an dieser Stelle unterbrochen, „du bist ja schon ganz heiser.“

„Ich kriege auch langsam Hunger“, habe ich gesagt.

Nach kurzem Blick in den Gefrierschrank haben wir uns für die Pizza entschieden. Während wir darauf gewartet haben, dass sich der Backofen aufheizte, haben wir uns an den kleinen Tisch in der Küche gesetzt.

„Wenn ich das richtig mitverfolgt habe, sind bisher ungefähr zwei Monate seit dem Beginn seiner Flucht vergangen. Es muss also so Mitte Mai gewesen sein, als der Junge die Grenze nach Albanien überquert hat. Er ist aber erst Anfang November in Deutschland angekommen“, habe ich nachgerechnet. „Dann muss er ja dazwischen noch monatelang in Europa herumgeirrt sein.“

„Ich hoffe, er ist nicht wieder irgendwo im Gefängnis gelandet. Oder in irgendeinem schrecklichen Lager. Wie viele Seiten sind es denn noch?“

„Wir haben bisher noch nicht mal zwei Drittel geschafft, schätze ich.“

„Dann muss er ja tatsächlich noch eine Menge durchgemacht haben. Ich hol‘ den Hefter hierher. Dann kann ich schon mal weiter vorlesen, während du dich um die Pizza kümmerst.“

. . .

Albanien

Im Lager Fylakio hatte man uns vor dem Versuch gewarnt, von Athen aus nach Patros und von dort aus über das Meer nach Italien weiterzukommen. Man hatte uns wahre Horrorgeschichten erzählt. Geschichten von Flüchtlingen, die beim Versuch, auf dem Hafengelände hinten auf einen fahrenden Lastwagen aufzuspringen, zu Tode gestürzt waren. Von anderen, die zu spät gemerkt hatten, dass sie einen Kühlwagen geentert hatten – ihre steifgefrorenen Leichen hatte man angeblich erst in Italien entdeckt. Von einer großen Gruppe von Afrikanern, die von ihren Schleppern in einen Container gestopft worden waren. Der war vor der Verschiffung noch zwei Tage auf dem Kai in der prallen Sonne stehen geblieben. Die waren, wie es hieß, alle qualvoll erstickt.

Obwohl ich vor der Überquerung einer weiteren Landgrenze ein wenig Angst gehabt hatte, war ich doch froh gewesen, als uns die beiden Kurden eröffnet hatten, dass wir nicht nach Patros und über das Meer mussten. Über dieses Albanien würde es ja nun wohl einen Landweg nach Italien oder Frankreich geben. Selbst wenn dieser Weg etwas länger war, bliebe mir so wenigstens die lebensgefährliche Fahrt über das Meer erspart.

Schon beim Einsteigen in den blauen Lieferwagen mit der roten Aufschrift versuchte ich, mir Gewissheit zu verschaffen. Der Fahrer, ein älterer Mann, dessen Gesicht so wettergegerbt war, als hätte er ein Leben lang als Bauer auf dem Land oder als Fischer auf dem Meer gearbeitet, verstand mich erst gar nicht. Ich versuchte es mit Englisch.

„We drive to Italy, with car?” Er schüttelte den Kopf.

“Walk?“ Er lachte.

„Ship?“

„Durres“, antwortete er mit einer tiefen, rauen Stimme und nickte. Ich hoffte, er hätte mich nicht richtig verstanden und wiederholte die Frage.

„With Ship? Over the sea?“ Sein mit Nachdruck gebrummtes “Yes, Ferry” ließ keinen Zweifel mehr…

Es muss schon gegen Mittag gewesen sein, als wir die Straße verließen, auf einer buckeligen Piste ausrollten und stehen blieben. Kurz zuvor waren wir den Geräuschen nach zu urteilen durch eine etwas größeren Ortschaft gefahren, wo der Fahrer zweimal kurz angehalten hatte. Als er jetzt die Tür öffnete und einen Karton zu uns auf die Ladefläche schob, sahen wir, dass er für uns eingekauft hatte: Fladenbrot, Ziegenkäse, Tomaten und Weintrauben. Zum Schluss hievte er auch noch einen großen Plastikkanister mit Wasser zu uns rauf. Er gab uns zu verstehen, dass wir an diesem Platz bis zum Abend stehen bleiben würden und uns satt essen sollten. Das nächste Mal würde es wohl erst wieder etwas geben, wenn wir in Italien wären.

„Ship today?“, fragte ich erschrocken. Seinen mit vielen Gesten untermalten paar englischen Brocken entnahmen wir schließlich, dass er uns in der Nacht zum Parkplatz einer Transportfirma fahren würde. Er würde uns helfen, ein Versteck auf einem der dort über Nacht geparkten Lastwagen nach Italien zu finden. Mit dem würde es in den frühen Morgenstunden zum Hafen und auf eine der Fähren gehen. Er schärfte uns noch ein, auf keinen Fall draußen herumzulaufen, während der Wagen an dieser Stelle geparkt sei. Niemand dürfe uns sehen.

Während er redete und gestikulierte, waren auf einem steinigen Hang hinter ihm ein paar Ziegen zu sehen, die gemächlich an dem spärlichen Bewuchs herumknabberten. Das machte die Vorstellung, dass es hier in der Nähe einen Hafen mit großen Schiffen geben sollte, nur noch unwirklicher.

Als unser Schlepper nach vorne in sein Führerhaus verschwunden war, machten wir uns über das Essen her. Auch Mehran waren inzwischen offenbar die Geschichten wieder eingefallen, die wir in Fylakio gehört hatten.

„Wenigstens sieht es so aus, als ob wir nicht auf fahrende Laster aufspringen müssten“, sagte er zwischen zwei Bissen.

„Und in einen Container lassen wir uns auch auf keinen Fall einsperren“, ergänzte ich.

Wir wussten, dass wir noch viele Stunden vor uns hatten, in denen wir nichts tun konnten, als zu warten, bis es endlich weiterging. So versuchten wir nach dem Essen, ein wenig zu schlafen. Offenbar gelang es aber auch meinem Freund nicht, die ständigen Gedanken daran zu verdrängen, was uns bevorstehen mochte. Immer wieder drehte er sich von einer Seite auf die andere. Um ihn abzulenken, fragte ich ihn, wo er eigentlich hinwolle, von Italien aus. Er werde dort bleiben, sagte er. Direkt in dem Ort, wo wir ankommen würden.

„Wieso das denn?“, fragte ich.

„Mein Vater“, sagte er.

„Was hilft das denn deinem Vater?“, rutschte es mir spontan heraus. Er aber schien meine Taktlosigkeit nicht mal wahrgenommen zu haben. Ungerührt erklärte er mir, Italien sei ihr Ziel gewesen, und so würde sein Vater ihn dort auch am ehesten aufspüren können – falls sie ihn doch nicht abgeschoben hätten oder er eine Gelegenheit finden würde, erneut aus den Iran zu fliehen.

„Ich werde dir meine Handynummer geben“, sagte ich, weil er mir leidtat. „Muss mir in Italien sowieso so ein Smartphone besorgen. Alle sagen, ohne das geht es nicht, wenn man sich alleine durchschlagen muss. Vielleicht kann ich dir ja von Paris aus mal irgendwie helfen.“

„Wieso Paris?“, fragte er. Er habe gedacht, ich wolle nach Deutschland. Wie auch sonst fast alle.

„Bei mir ist es wegen meines Großvaters“, antwortete ich kurz.

„Der ist in Paris?“, fragte Mehran verwundert.

Ich bereute, überhaupt angefangen zu haben mit meiner Familiengeschichte. Hätte ja gereicht, einfach zu sagen, dass ich so viel Tolles über Paris gehört hätte.

„Mein Großvater hat früher viel mit französischen Kollegen zusammengearbeitet“, habe ich nur noch gesagt und mich weggedreht. Mein Freund hat dann auch nicht weiter gefragt.

Wir waren noch gar nicht lange gefahren, als uns der Verkehrslärm draußen sowie das mehrfache Abbiegen und ständige Bremsen und Wiederanfahren verrieten, dass wir eine größere Ortschaft durchquerten. Unvermittelt hielten wir irgendwo am Straßenrand an. In der Nähe heulte in kurzen Abständen eine Kreissäge auf, etwas weiter weg war ein Rattern und ein metallisches Hämmern zu hören. Offenbar eine Gegend mit Werkstätten oder Fabriken.

Ansonsten passierte erst mal längere Zeit gar nichts. „Der wartet wohl darauf, dass es dunkel wird“, flüsterte Mehran. Später muss ich eingeschlafen sein. Ich wachte erst wieder auf, als der Wagen anfuhr und ich ein Stück über den Boden rutschte. „Alles in Ordnung bei dir?“, tönte es leise aus der Dunkelheit. „Alles klar“, rief ich ebenso leise zurück. Kurz darauf hielten wir an und der Motor wurde abgestellt. Die Fahrertür schlug zu. Schritte entfernten sich. Wieder hieß es warten.

Plötzlich schreckten wir auf. Jemand machte sich von außen an der Tür des Laderaums zu schaffen. Diesmal hatten wir keine Schritte gehört. Erleichtert atmeten wir auf, als wir unseren Fahrer erkannten.

Wir folgten ihm eine hohe Mauer entlang die Straße hinunter, bis wir die durch ein breites Gittertor gesicherte Einfahrt zu dem Gelände hinter der Mauer erreichten. Durch die Gitterstäbe konnte man im Hintergrund ein langgestrecktes Gebäude erkennen. Davor standen mehrere Lastwagen aufgereiht nebeneinander. Für einen Moment dachte ich, im Führerhaus des einen Lasters hätte sich etwas bewegt. Es war aber nur der gelbliche Widerschein der einsamen Laterne auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

Unser Fahrer stemmte sich seitlich gegen das Tor. Er war offenbar sicher, dass das kleine Wächterhäuschen da drinnen neben der Einfahrt unbesetzt war. Er schaffte es, das Tor einen Spalt breit aufzuschieben. Er winkte einladend mit dem Arm.

Ich dachte, diese Geste hätte uns gegolten, aber Mehran stieß mich an und zeigte die Straße hinunter. Erst jetzt sah auch ich, dass dort sechs oder sieben junge Männer nacheinander von einem Laster sprangen und direkt auf uns zustürmten. Mehran und ich sahen uns erschrocken an.

„Okay, okay, no problem“, brummte unser Schlepper, packte Mehran am Arm und zog ihn durch die Öffnung auf das Gelände. Ich schlüpfte hinterher und schon drängte auch der erste der jungen Männer nach. Sekunden später waren wir alle hinter dem Wärterhäuschen im Schatten der Mauer versammelt.

Kein Zweifel, die anderen waren ebenfalls Flüchtlinge, und das Ganze war eine perfekt geplante Aktion. Sofort ging es weiter, ein Stück die Innenseite der Mauer entlang, dann auf die Ecke des Lagerhauses zu und von dort hinter die Laster. Unser Schlepper steuerte direkt einen etwas kleineren LKW an, einen auffallend weiß schimmernden Kastenwagen. Dass sich dessen rückwärtige Flügeltür ohne weiteres öffnen ließ, wunderte mich nun auch nicht mehr.

Schon hievte sich einer der dazugekommenen Flüchtlinge hoch und verschwand über die aufgestapelten Kisten im Dunkel des Laderaums. Ich wollte gleich hinterher, um noch einen guten Platz zu ergattern, aber Mehran war plötzlich verschwunden. Während sich andere vordrängten, schaute ich um mich. In dem Moment tauchte mein Freund wieder neben mir auf.

„Nicht da rein“, flüsterte er mir mit weit aufgerissenen Augen zu. „Kühlwagen!“

„Wie kommst du darauf“, fragte ich leise zurück.

„Außen, vorne über dem Führerhaus, ein Kasten, wie eine Klimaanlage.“

„Aber…“

„No time! Quick!“ Unser Schlepper winkte uns ärgerlich heran. Alle anderen waren schon eingestiegen.

„No“, sagte Mehran in entschlossenem Ton und wich einen Schritt zurück. Auch ich schüttelte den Kopf. Völlig entgeistert starrte der Alte uns an.

„Why?“, knurrte er – so laut, dass einer der anderen Flüchtlinge seinen Kopf aus dem Transporter steckte.

„Other truck!“, rief ich und trat ebenfalls einen Schritt zurück. Ein zweiter Kopf erschien über den im Wagen gestapelten Kisten.

Erst jetzt bemerkte unser Schlepper, dass die anderen auf unseren Widerstand aufmerksam geworden waren, und die Lage außer Kontrolle zu geraten drohte. Energisch drückte er die beiden Türflügel des weißen Vans zu und verriegelte sie.

„Other truck? No other truck!“, herrschte er uns an. „You crazy!“ Es folgte eine Reihe nachdrücklicher, aber unverständlicher Verwünschungen. Er packte Mehran am Arm und zog ihn an der Reihe der geparkten LKWs vorbei.

„What other truck?“, wiederholte er, “No other truck!”

Anscheinend hatte er recht. Neben dem vermeintlichen Kühlwagen stand ein mit einem Container beladener Sattelschlepper. Die weiteren LKWs in der Reihe hatten geschlossene Aufbauten und bei jedem von ihnen zeigte er finster triumphierend auf Plomben, mit denen die Frachträume gesichert waren. Mehran zerrte zurück in die andere Richtung, mit einer Sturheit und Kraft, wie ich sie ihm nie zugetraut hätte. Offenbar hatte er ein bestimmtes Ziel. Widerstrebend ließ der alte Schlepper ihn los und folgte ihm kopfschüttelnd. Der vorletzte LKW in der Reihe war ein Hochboarder, der nur mit einer Plane gesichert war.

„This one!“, sagte Mehran. Unser Mann schüttelte immer noch den Kopf. Aber er begann, die Vertäuung der Plane zu prüfen. Nach kurzem Herumtasten hatte er ein Ende gefunden, an dem er sie lösen konnte, offenbar selbst überrascht, dass sie nur einfach verknotet war. Er hob die Plane ein Stück weit hoch und tastete darunter. Wieder schüttelte er den Kopf.

„Hilf mir mal“, sagte Mehran zu mir. Ich half ihm, sich hochzuhieven. „Muss gehen“, rief er mir zu und kroch unter die Plane. Jetzt schien der Alte die Sache nur noch schnell hinter sich bringen zu wollen. Er sagte etwas, das wohl so viel wie „auf eure eigene Verantwortung“ hieß. Er half mir hoch und stieß mich so heftig unter die Plane, das ich mir das Knie an der Bordwand anschlug.

Ich verbiss meinen Schmerz und robbte vorwärts. Unter mir fühlte ich die runden Wülste der Deckel von dicht an dicht stehenden Plastikfässern. Die waren nicht allzu hart und man fand guten Halt. Ich fühlte, wie die Plane über mir straffgezogen wurde. Zum Glück blieb uns darunter ein wenig Spielraum, uns zu bewegen, da die Fässer ein ganzes Stück niedriger waren als die Bordwand. Ich kroch bis an Mehran heran.

„Hast uns gerettet“, sagte ich leise.

„Noch sind wir nicht drüben“, gab er zurück.

„Pst!“, machte ich. Draußen waren Stimmen zu hören. Der raue Bass unseres Schleppers, der sich mit der sich überschlagenden Stimme eines anderen Mannes eine leise, aber heftige Auseinandersetzung lieferte. Ich hielt den Atem an – so lange, bis sich die Stimmen entfernten.

„Vielleicht irgendwo am Rand“, hörte ich Mehran sagen. Anscheinend war ihm gerade der gleiche Gedanke gekommen, wie mir. Dass es vielleicht irgendwo eine Lücke zwischen den Fässern gab, in die wir uns verkriechen konnten. Trotz der Schmerzen in meinem Knie robbte auch ich mich, nach links und rechts tastend, in der Dunkelheit weiter. Es gab aber nirgendwo eine Lücke, in die auch nur einer von uns beiden hineingepasst hätte. Schließlich fanden wir uns direkt hinter dem Führerhaus wieder zusammen. Wenn wir uns dort hintereinander der Länge nach ausstreckten, würde die leichte Ausbuchtung in der Plane am wenigsten auffallen.

Unsere anfängliche Euphorie, alles richtig gemacht zu haben, wich sehr bald der immer drängenderen Frage, wie lange wir es in der stickigen Luft unter der schweren Plane über jeweils drei dieser Fässer hin ausgestreckt liegend überhaupt aushalten würden. Die Deckelwülste, die uns am Anfang noch rund und weich vorgekommen waren, schienen immer härter zu werden. Wie man auch lag, man musste ständig die Position wechseln, weil es jedes Mal schon nach kurzer Zeit an mindestens einer Stelle unerträglich zu drücken begann. In Seitenlage ging es einigermaßen. Auf dem Bauch für kürzere Zeit auch gerade noch so. Auf dem Rücken liegen aber ging gar nicht. Wir begannen zu ahnen, was uns bevorstand.

Dass der neue Tag anbrach, merkten wir daran, dass draußen auf der Straße erste Autos vorbeifuhren. Kurz darauf hörten wir, wie jemand das Rolltor aufschob. Wie oft hatte ich in den Wochen und Monaten zuvor in irgendeinem Fahrzeug versteckt auf sich nähernde Stiefelschritte gelauscht. Auch diesmal begann mein Herz schneller zu schlagen, als sie endlich kamen. Mehrere Fahrer zugleich. Sie riefen sich laut irgendwas zu. Jemand lachte. Fahrzeugtüren wurden geöffnet und schlugen gleich wieder zu. Ich erwartete, jeden Moment auch in unserem Versteck diese leichte Erschütterung zu spüren.

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