Kitabı oku: «Take Me Home», sayfa 2
2. Kapitel
Im Frühling und Sommer waren Freitagabende gleichbedeutend mit Chairs. Das war der seltsame Name, den die guten Leute von Hartson’s Creek ihren wöchentlichen Zusammenkünften gegeben hatten. Sie versammelten sich alle in ihren Gärten entlang des Bachs und brachten Krüge voll selbstgemachtem Eistee mit. Die ein oder andere Mischung enthielt auch mal etwas Stärkeres. Dazu kamen noch die Stühle, die der Versammlung ihren Namen gegeben hatten.
So lange sie sich erinnern konnte, war Chairs ein Teil von Maddie Clarks Leben in Hartson’s Creek gewesen. Als Kind war sie herumgerannt und hatte gespielt, während sich die Erwachsenen unterhielten. Sie hatte in der Freiheit geschwelgt, herumalbern zu können, bis es draußen dunkel war, ohne ins Bett geschickt zu werden. Dann als Teenager hatte sie alles getan, um nicht zu Chairs gehen und den Erwachsenen bei ihren langweiligen Gesprächen zuhören zu müssen. Es war die Art von engstirnigem Klatsch, der sie unendlich dankbar für das Stipendium machte, das sie an der Ansell School of Performing Arts in New York bekommen hatte, wo sie sich ihren Bachelor in Musik verdienen wollte.
Und ja, sie hatte keinen Zweifel daran, dass sie das Thema des kleinlichen Tratschs war, als sie nicht mal ein Jahr später wieder nach Hause zurückkehrte, nicht gewillt, jemandem zu erzählen, weshalb. Nicht, dass irgendjemand etwas zu ihr gesagt hätte – weder als sie im Diner kellnerte noch als sie den jüngeren Kindern in der Stadt das Klavierspielen beibrachte.
Ihre Mom hingegen genoss es, von ihren Freunden und Nachbarn auf den neuesten Stand gebracht zu werden. Herauszufinden, was in der Stadt so vor sich ging. Nur ihr zuliebe grinste Maddie und bereitete sich mental auf den Abend vor, während sie ihre Mom in ihrem Rollstuhl über die Straße schob. Für sich selbst hatte sie einen alten Klappstuhl dabei. Die Beine des Stuhls lagen beim Tragen über ihrer Schulter. Eine kleine Kühltasche gefüllt mit selbstgemachtem Eistee und Zuckerkeksen ruhte auf dem Schoß ihrer Mutter.
»Heute sind eine Menge Leute hier«, bemerkte Maddie, als sie am Bach ankamen. »Muss am Wetter liegen.«
Es war ihre Lieblingsjahreszeit. Frühling und Sommer kämpften um die Oberhand und das Resultat war bereits eine ausgemachte Sache. Die Kälte und der Schnee des Winters waren eine bloße Erinnerung, die in der Wärme der Luft und dem Geruch nach Mais immer weiter verschwamm.
Sie rollte ihre Mom rüber zu ihren Freunden neben dem Getränketisch. Dort packten sie das Essen aus, das sie mitgebracht hatten, bevor Maddie ihrer Mom ein Glas einschenkte. Dann trug sie ihren eigenen Stuhl rüber zu dem Platz, wo sich die jüngeren Leute zusammengefunden hatten. Frauen, die sie aus Schultagen kannte, tratschten über ihre Ehemänner und riefen ihren Kindern zu, sie sollten sich beruhigen, wann immer ihre Stimmen zu laut wurden. Die Ehemänner standen neben dem Bach und tranken lachend aus braunen Bierflaschen. Dabei ignorierten sie alles um sich herum, während sie das Footballspiel der Woche zerpflückten.
»Hast du schon die Neuigkeiten gehört?«, platzte Jessica Martin heraus, bevor Maddie ihren Stuhl aufklappen und aufs Gras stellen konnte.
»Nein.« Maddie lächelte höflich. Jessica hatte denselben Jahrgang wie Maddies Schwester Ashleigh besucht. Seit sich Maddie erinnern konnte, waren die beiden Cheerleader im selben Team.
»Willst du raten?«, bot Jessica ihr händereibend an. »Oh, da kommst du nie drauf.«
»Sind bei den über Fünfzigjährigen Chlamydien ausgebrochen?«
Maddie verbiss sich beim Klang von Laura Bayleys tiefer Stimme ein Grinsen.
»Nein. Igitt. Natürlich nicht.« Jessica rümpfte die Nase. Dann warf sie Laura einen Blick zu. »Das stimmt doch nicht, oder?«
Laura zuckte die Achseln. »In dieser Gegend würde mich nichts mehr überraschen.«
Kopfschüttelnd wandte sich Jessica wieder an Maddie. »Hast du in letzter Zeit was von Ashleigh gehört?«
»Sie lebt in der Nachbarstadt«, zeigte Laura auf. »Das ist nicht gerade die Antarktis.«
Maddie warf Laura einen dankbaren Blick zu.
Obwohl Laura ein paar Jahre älter war als Maddie, waren die beiden befreundet, seit Laura ihren Kleiderladen neben dem Diner aufgemacht hatte, in dem Maddie arbeitete. Der schönste Teil des Tages war für sie, wenn sich Laura ihren morgendlichen Kaffee holte.
»Sie kam letzte Woche mit ihren Kindern vorbei«, erzählte Maddie den anderen Frauen.
»Und hat sie irgendwas gesagt?«, wollte Jessica nach vorne gebeugt wissen. Ihr blondes Haar fiel ihr dabei ins Gesicht.
Maddie blinzelte. »Was zum Beispiel?« Sie spürte, wie sich etwas in ihr zusammenzog. Stimmte mit Ashleigh irgendetwas nicht? Oder schlimmer noch, mit Grace oder Carter? Maddie liebte ihre Nichte und ihren Neffen, als wären sie ihre eigenen Kinder.
Jessica lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Dann schätze ich, sie weiß es wohl nicht.«
»Was weiß sie nicht?«, hakte Maddie nach und versuchte, nicht aufgebracht zu klingen.
»Dass Jessica der Auslöser für den Chlamydienausbruch ist«, flüsterte Laura aus ihrem Mundwinkel heraus.
Maddie musste lachen.
»Dass Gray Hartson zurück ist.« Jessica schickte Laura ein selbstzufriedenes Grinsen. »Ich schätze, ich bin die Einzige in der Gegend, die davon weiß.«
Trotz der warmen Luft um sie herum, gefror Maddie das Herz in der Brust. »Gray Hartson?«, wiederholte sie, das seltsame Trommeln in ihren Ohren ignorierend.
»Jepp. Carrie Daws hat mir davon erzählt. Sie arbeitet im Supermarkt. Laut ihrem Bericht ist er in einem schwarzen Rolls Royce angekommen.« Jessica verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich schätze, so reisen reiche Stars, wenn sie ihre Heimatstadt besuchen.«
»Ist Becca deshalb heute nicht hier?«, wollte die Frau wissen, die neben Jessica saß. »Ich habe mich schon gewundert.«
Gemeinsam mit Laura war Becca Hartson eine von Maddies engsten Freundinnen. Sie genoss Chairs ebenso sehr wie Maddie, also war ihre Abwesenheit keine Überraschung. Maddie hätte allerdings nie gedacht, dass Grays Rückkehr der Grund sein könnte.
Der Gedanke, dass er nach all den Jahren wieder hier war, brachte ihren Körper dazu, sich beinahe schwerelos anzufühlen. Sie legte die Hände fest um die Metallstangen ihres Stuhls, um nicht davonzuschweben.
»Was wird Ashleigh wohl sagen?«, sinnierte Jessica in einer Lautstärke, die hoch genug war, um Maddies Gedanken zu durchdringen. »Glaubst du, Michael wird eifersüchtig sein?«
»Warum sollte Michael eifersüchtig sein?«, fragte Laura. »Ashleigh war während der Highschool ein paar Jahre lang mit Gray zusammen. Na und? Seither sind mehr als zehn Jahre vergangen.« Sie grinste Jessica an. »Manch einer von uns ist im letzten Jahrzehnt erwachsen geworden.«
Maddie stützte das Kinn auf ihre Handfläche und starrte auf den Bach hinaus. Das Wasser war dunkel und sie konnte seine Bewegungen eher hören als sehen. Auf der anderen Seite des Ufers erleuchteten Glühwürmchen die Bäume wie tausend kleine Lampen.
Gray Hartson war zurück. Es fühlte sich seltsam an. Zu wissen, dass sie in derselben Stadt war und denselben Sonnenuntergang beobachtete wie er. Früher einmal war sie in ihn verknallt gewesen. Auf eine dieser herzzerbrechenden, intensiven Arten, die nur ein junger Teenager verstehen konnte. Sie hatte an ihrem Fenster gesessen und ihn beobachtet, wann immer er Ashleigh von einem Date nach Hause brachte. Die Luft hatte ihr in der Brust gestockt, sobald er eine Haarsträhne aus dem Gesicht ihrer Schwester strich und sich nach vorne beugte, um sie zu küssen.
Sie hatte damals stets eine seltsame Mischung aus Eifersucht und Wehmut verspürt. Doch sogar mit dreizehn war sie reif genug gewesen, um zu wissen, dass er nicht in ihrer Liga spielte. Zu alt, zu talentiert, zu gutaussehend. Ashleigh jedoch, mit ihrer eisblonden Schönheit und ihrer Beliebtheit in der Schule, hatte perfekt zu ihm gepasst. Zusammen waren sie der König und die Königin ihrer Abschlussklasse gewesen.
»Du solltest es Ashleigh vermutlich sagen, bevor Jessica dazu kommt«, flüsterte Laura an Maddie gewandt, als sie an ihr vorbeiging. »Ich weiß, es ist Jahre her, aber niemand freut sich darüber, seinem Ex unverhofft über den Weg zu laufen. Gib ihr die Chance, in den Schönheitssalon zu gehen und auszusehen, als wäre sie eine Million Dollar wert.« Laura richtete sich auf und zwinkerte ihr zu. »Ich hole mir noch etwas zu trinken. Will noch jemand was?«, fragte sie jetzt lauter in die Runde.
Nach Jessicas Offenbarung verspürte Maddie den Drang nach etwas Stärkerem als Eistee.
Und das war ganz und gar Gray Hartsons Schuld.
3. Kapitel
»Tja, dein Geheimnis ist raus«, verkündete ihm seine Schwester am Esstisch. »Ich habe gerade eine Nachricht von Laura Bayley erhalten. Du bist das Thema bei Chairs. Bis zum Ende des Tages wird die ganze Stadt wissen, dass du hier bist.«
»Süße, du kennst die Regeln. Keine Handys bei Tisch«, schimpfte Tante Gina.
Becca grinste und schob das Mobiltelefon zurück in ihre Hosentasche.
»Chairs?« Gray runzelte die Stirn. »Das macht ihr immer noch?«
»Das hier ist immer noch Hartson’s Creek«, erinnerte Tanner ihn und schaufelte sich einen riesigen Löffel voll Kartoffelpüree auf den Teller. »Dieser Ort ist gerade erst im zwanzigsten Jahrhundert angekommen, ganz zu schweigen vom einundzwanzigsten. Was gibt’s hier sonst zu tun, als sich zu betrinken und Tratsch zu verbreiten?«
»Die Leute bei Chairs betrinken sich nicht«, korrigierte Tante Gina und nahm Tanner dabei die Schüssel mit Püree ab, um sie an Gray weiterzugeben. »Und wir unterhalten uns. Wir tratschen nicht.«
»Das ist doch ein und dasselbe.« Tanner grinste sie an. »Und wir wissen alle, dass Rita Dennis ihren Eistee ein bisschen aufpeppt. So fängt das mit dem Tratsch ja immer an.« Er schluckte einen Mundvoll Püree runter. »Ich habe versucht, meinen Freunden in New York das Konzept von Chairs zu erklären. Sie haben mich angestarrt, als wäre ich durchgeknallt.«
»Grayson, kannst du deinem Vater einen Teller richten?«, bat Tante Gina und reichte ihm einen. »Er sollte mittlerweile wach sein. Vielleicht kannst du ihm etwas bringen und hallo sagen.«
»Ich werde ihm wahrscheinlich den Appetit verderben.« Gray nahm den Teller dennoch entgegen und befüllte ihn.
»Keine Soße für Vater«, wies Becca ihn an.
»Ich weiß.« Gray nickte. »Sie ruiniert ihm den Fleischgeschmack.« Seltsam, dass er sich so genau an die Aussage seines Vaters erinnern konnte. Er erhob sich und ließ seine eigene Mahlzeit halb aufgegessen zurück. Er wusste, Tante Gina würde sie für ihn aufwärmen, wenn er zurückkam. So wie sie es immer tat.
»Gray?«, fragte seine Tante.
»Ja?«
»Geh sanft mit ihm um, sein Zustand ist immer noch nicht der beste.« Sie presste die Lippen zusammen, während sie seinen Blick festhielt.
»Nichts anderes hatte ich vor.«
»Ich weiß.« Tante Ginas Lächeln wirkte angespannt. »Es ist nur, dass ihr beide ... Na ja, ihr wusstet schon immer, wie ihr den anderen zur Weißglut treibt.«
»Das heißt, du sollst vermeiden, ihm auf den Sack zu gehen«, erläuterte Tanner gedehnt. »Was meiner Erfahrung nach beinahe unmöglich ist.«
»Ignorier ihn.« Becca zog beide Augenbrauen mit einem Nicken in Tanners Richtung nach oben. »Er ist nur genervt, weil bei Chairs niemand über ihn redet.«
»Das liegt daran, dass ich öfter als einmal alle zehn Jahre nach Hause komme«, bemerkte Tanner.
Es war wie in alten Zeiten. Gray konnte sich an das konstante Geplänkel beim Abendessen erinnern, bei dem er und seine Brüder sich immer gnadenlos aufgezogen hatten. Als der Älteste hatte er immer versucht, den Frieden zu wahren. Es gab Tage, an denen er damit gerechnet hatte, Cam und Logan würden sich bis zum Tod bekriegen. Bis ihr Vater einschritt, natürlich. Ein Hieb auf den Tisch war normalerweise genug, um sie zum Schweigen zu bringen. Und wenn sie aus irgendeinem Grund nicht reagierten, reichte es immer, wenn er seine Stimme um ein paar Oktaven anhob. Im Teenageralter hatten sie gelernt, ihn nicht zu weit an den Rand der Geduld zu treiben. Keiner von ihnen wollte von ihm aufgefordert werden, ihn nach dem Essen in sein Arbeitszimmer zu begleiten.
»Wenn ihr alle still wärt, könnte ich vielleicht meine eigenen Gedanken hören«, tadelte Tante Gina, einen bösen Blick auf sie alle gerichtet. »Und zeig etwas Respekt, Tanner. Du bist im Haus deines Vaters. Darauf hat er ein Anrecht.«
»Respekt verdient man sich«, meinte Tanner trotz des Gewichts seiner Worte mit unbeschwertem Tonfall.
»Ich lasse es zwischen uns entspannt angehen«, versicherte Gray seiner Tante.
Sie nickte und bedachte ihn mit einem erneuten Lächeln.
»Viel Glück«, flüsterte Becca und drückte seine freie Hand, als Gray an ihr vorbeiging.
Grays Meinung nach brauchte er das nicht. Er war kein Kind mehr. Er hatte sein eigenes Zuhause, sein eigenes Auto und verdiente in einem Monat mehr Geld als sein Vater in seinem gesamten Leben. Der alte Mann im Schlafzimmer am Ende des Flurs jagte ihm keine Angst mehr ein. »Zum Teufel damit«, murmelte er vor sich her, bevor er mit den Knöcheln gegen die Tür klopfte. Als er seine Hand sinken ließ, ließ er sie weiterhin zu einer Faust geballt, als rechnete sein Körper mit einem Kampf. Die andere hielt immer noch an dem Teller fest, den er vorbereitet hatte.
»Herein.«
Gray blinzelte ob der Vertrautheit dieser Stimme. Er biss die Zähne zusammen, legte die Finger um die Klinke und wappnete sich, während er einen freundlichen Ausdruck aufsetzte.
Die Leute hielten es für seltsam, wenn er ihnen erzählte, dass er seit mehr als zehn Jahren nicht mit seinem Vater gesprochen hatte. Sie wollten all die Details über den Streit erfahren, der zu so einem Bruch geführt haben musste. Doch es hatte keinen Streit gegeben. Zumindest keine einzelne explosive Episode eines solchen. Stattdessen war die Beziehung zu seinem Vater vielmehr das Opfer von eintausend kleinen Schnitten.
Als Kind hatte er davon geträumt, diesem Ort zu entkommen. Er wollte ein Baumhaus in den Wäldern bauen, die im Norden an den Grund seines Vaters grenzten, es mit Comicbüchern und Limo füllen und seine Freunde einladen. In seiner Vorstellung hätte ihn sein Vater dort nie aufgespürt.
Mit den Jahren wurden seine Pläne komplexer. Zuerst waren sie akademischer Natur. Er lernte viel, spielte Football, machte alles, was ihm dabei helfen würde, in einem College aufgenommen zu werden. Doch obwohl seine Noten gut genug waren, um akzeptiert zu werden, reichte seine sportliche Leistung für ein Stipendium nicht aus. Und das Einkommen seines Vaters war zu hoch, um abgesehen von einem Kredit zusätzliche finanzielle Unterstützung zu erhalten.
Eines wusste Gray – er konnte nicht länger unter der Fuchtel seines Vaters stehen. Als sich sein einziges Entspannungsmittel, seine Musik, als sein Ticket aus der Stadt herausstellte, hatte er die Gelegenheit sofort beim Schopf gepackt. Hatte alles – und jeden – hinter sich gelassen. Ein notwendiges Opfer, um seine Freiheit zu erlangen.
Natürlich traf er sich weiterhin mit seiner Familie. Seine Brüder kamen nach New York oder L.A., um ihn zu sehen, wann immer sie es einrichten konnten. Tante Gina und Becca reisten nach Virginia und D.C. zu seinen Konzerten. Innerhalb eines Jahres hatte er ihnen allen Flugtickets nach London besorgt, damit sie zu einem Festival kommen konnten, bei dem er aufgetreten war. Das war eine tolle Woche gewesen.
Sein Vater aber kam nie. Er weigerte sich, solange Gray ihn nicht anrufen und persönlich einladen würde. Gray wusste jedoch, dass es eine Falle war. Sein Vater wollte bloß in den Genuss kommen, sein Angebot persönlich abzulehnen.
»Ich sagte, herein!«, rief sein Vater. »Was machst du da? An der Klinke rumspielen?«
Gray schüttelte den Kopf und öffnete mit durchgedrücktem Rücken die Tür, bevor er eintrat. Das Erste, das ihm auffiel, war der Geruch. Obwohl das Zimmer nicht länger als Arbeitszimmer diente, standen entlang der Wände immer noch Regale befüllt mit alten Büchern, deren muffige Seiten die Luft abgestanden riechen ließen. Dann war da noch der Piniengeruch der Seife seines Vaters – dieselbe Seife, die er schon immer verwendet hatte.
»Ich bringe dir Abendessen.«
Der alte Mann blickte von seinem Platz auf dem Bett hoch. Die Jahre, die Gray fort gewesen war, hatten seinen Vater nicht mit Güte behandelt. Das Haar von Grayson Hartson Senior war spärlich und bedeckte kaum seinen glänzend roten Schädel. Seine Haut war faltig und erschien beinahe gummiartig. Aber es war sein Körper, der Gray am meisten schockierte. Sogar durch das Laken hindurch konnte er sehen, wie dünn sein Vater war. Seine Arme wirkten wie die Zweige, die Tante Gina früher vor Weihnachten ins Haus gebracht hatte, um Deko passend zur Jahreszeit zu basteln.
»Das Essen wird schon kalt sein, nach der ganzen Zeit, die du beim Reinkommen verplempert hast«, grummelte sein Dad.
Gray schluckte. »Du willst es nicht?«
»Das habe ich nicht gesagt. Stell’s hier hin.« Sein Vater nickte zum Tisch, der vor ihm platziert war. Er stand auf Rädern. Es war die Art von Tisch, die man in Krankenhauszimmern sah. Gray trug den Teller rüber und stellte ihn in die Mitte.
»Du hast also beschlossen, auf Besuch zu kommen?«, erkundigte sich sein Vater, während er sich vorbeugte, um den Teller zu begutachten. »Schon wieder verdammtes Rindfleisch. Deine Tante weiß, dass ich das nicht essen kann. Bleibt mir in der Kehle stecken.«
»Soll ich dir Soße holen, damit du es leichter runterkriegst?«
Sein Dad schnaubte. »Ich esse einfach nur die Kartoffeln. Gib mir eine Gabel.«
Gray reichte das Besteck an ihn weiter und sah dabei zu, wie sein Vater einen Krümel Kartoffelpüree zwischen seine Lippen nahm. Die Zeit schien stillzustehen, während er seinen Kiefer hin- und herbewegte und sich sein verwelkter Hals wellenförmig hob und senkte, als er versuchte, den kleinen Bissen zu schlucken.
»Willst du ein Glas Wasser?«, bot Gray an.
»Nein«, stieß sein Vater heiser hervor. »Geh zurück zu deinem Essen. Ich komme hier klar.«
Gray war nicht sicher, wie er sich fühlen sollte, als er dabei zusah, wie sein Dad eine weitere zittrige Gabel an seinen Mund hob. Mitgefühl kämpfte gegen Verbitterung an, während sein Kopf versuchte, diese neue Realität in sich aufzunehmen. Sein Vater war alt und krank und dennoch war er jener Mann, der Grays Kindheit mit so viel Elend gefüllt hatte.
»Das hier ist keine Gratisshow«, machte ihn sein Vater aufmerksam, nachdem er seinen zweiten Bissen geschluckt hatte. »Du kannst jetzt gehen.« Er starrte ihn mit denselben blauen Augen an, denen Gray jeden Tag im Spiegel begegnete. Dann machte er eine wegscheuchende Bewegung mit der Hand.
Gray zuckte die Achseln und wandte sich ab. Er hatte seine Pflicht erfüllt, keiner konnte etwas anderes behaupten. Wenn er nach L.A. zurückkehrte, würde sich sein Vater wieder in nichts mehr als eine verschwommene Erinnerung verwandeln.
K
Maddie starrte ihr Handy an. Ihre Finger schwebten über dem Namen ihrer Schwester auf dem Bildschirm. Ashleigh Lowe. Seit ihrer Heirat mochte sie zwar ein paar Buchstaben in Maddies Kontakten nach unten gerutscht sein, war aber um ziemlich viele soziale Schichten aufgestiegen, als sie zu Michael Lowe Ich will gesagt hatte. Als berühmter Anwalt in Stanhope, einer Stadt zwanzig Meilen nördlich von Hartson’s Creek, war Michael auch noch der Sohn eines Senators und arbeitete hart daran, in der nächsten Wahl an die Stelle seines Vaters zu treten.
Die beiden hatten sich kennengelernt, als Ashleigh in einem Restaurant in Stanhope gearbeitet und für Michael und seine Arbeitskollegen gekellnert hatte. Sie war gerade mal zwanzig, als die beiden etwas mehr als ein Jahr später heirateten. Nicht, dass sich irgendjemand daran gestört hätte. Sie waren alle zu beschäftigt damit, sich zu fragen, ob Ashleigh immer noch Gray Hartson nachhing.
Maddie drückte den Finger auf den Bildschirm und wartete darauf, dass der Anruf durchging. Sie tat sich immer noch schwer mit ihrer Reaktion über das Aufkommen von Grays Namen bei Chairs. Sie hatte sich benommen wie die Teenagerin, die sie gewesen war, als er zuletzt in der Stadt gesehen wurde – geleitet von dem klappernden Herzen in der Brust und ihr Kopf so leicht wie Luft.
Gott sei Dank war es sonst niemandem aufgefallen. Sie war normalerweise immer gelassen. Für wann war seine Abreise noch mal geplant?
»Maddie? Stimmt etwas nicht?«, hallte Ashleighs Stimme durch den Lautsprecher. »Ist etwas mit Mom?«
Maddie warf einen Blick auf die alte Casio auf ihrem Handgelenk. Es war beinahe elf. »Tut mir leid, mir war nicht bewusst, dass es schon so spät ist«, entschuldigte sie sich. »Habe ich dich geweckt?«
»Nein. Ich warte darauf, dass Michael nach Hause kommt. Ich sitze auf einem Terrassenstuhl und trinke einen Becher heiße Schokolade. Bist du okay?«
»Jepp. Ich wollte dir nur etwas erzählen.« Maddie zupfte an einem losen Faden ihrer Überdecke. »Es ist vermutlich nicht wichtig, aber ich wollte, dass du es zuerst von mir hörst.«
»Was gibt’s?«
»Gray ist wieder in der Stadt. Jessica Martin hat mir davon erzählt, und Laura hat Becca angerufen, um sicherzustellen, ob es auch stimmt. Du weißt ja, wie es um die Gerüchte hier bestellt ist.«
Ashleigh war bis auf den Rhythmus ihrer Atmung still. Die Unterlippe zwischen ihre Zähne ziehend, wartete Maddie auf eine Antwort. Es fühlte sich seltsam an, dieses Gespräch zu führen. Seit Jahren hatte keine von ihnen Gray erwähnt. Es war eine unausgesprochene Übereinkunft. Sie sprachen nie über seine Musik, seinen Erfolg oder irgendeines der Gerüchte, die ihn zu umringen schienen wie Glühwürmchen einen Baum im Sommer. Es war, als hätte Ashleigh ihn mit einer Schere aus ihrem Leben geschnitten und in den Müll geworfen.
»Ash?«, drängte Maddie und spürte winzige Linien, die ihre Stirn zerfurchten.
Ashleigh räusperte sich. »Es tut mir leid. Ich habe auf die Kinder gelauscht«, meinte sie etwas zu schnell. »Also ist er wieder da. Ich schätze, das wird nicht lange so bleiben.«
»Becca meinte, es wäre nur für ein paar Wochen.«
»Das ist wahrscheinlich am besten so.« Ashleighs Lachen klang erzwungen. »Hoffentlich laufe ich ihm nicht über den Weg, während er hier ist.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen ... Das war’s auch schon. Ich wollte nur, dass du es weißt.«
»Danke. Hast du am Sonntag immer noch Zeit, auf Grace und Carter aufzupassen?«
»Ja, ich freue mich schon. Um drei bin ich mit der Arbeit fertig, also geht es für mich danach immer.«
»Ich schicke dir eine Nachricht, sobald ich die genaue Uhrzeit weiß. Gute Nacht, Maddie. Träum schön.«
»Du auch.« Maddie beendete den Anruf und legte das Handy auf das Nachtkästchen neben ihrem Bett. Sie ließ sich zurückfallen, bis ihr Kopf auf das weiche Kissen plumpste. Es war ein langer Tag gewesen und dennoch vibrierte ihr Körper immer noch, als wimmelte darin ein Bienenschwarm. Um sechs Uhr früh musste sie wieder bei der Arbeit antanzen und sie brauchte verdammt noch mal ihren Schlaf. Ihr Körper fühlte sich jedoch eigenartig an. Elektrisiert. Als stünde alles um sie herum am Rande von etwas Neuem.
Sie war sich nicht sicher, ob ihr dieses Gefühl behagte.