Kitabı oku: «Take Me Home», sayfa 3
4. Kapitel
In dem zu kleinen Bett seiner Kindheitstage lag Gray wach und starrte die Wände an, die immer näher zu rücken schienen. Sie waren leer – all die Poster, die er als Teenager entgegen der Regeln seines Vaters aufgehängt hatte, waren lange fort. Übrig waren bloß ihre dunklen Schatten und glänzende Kreise an den Stellen, wo er sie einst an der Wand befestigt hatte.
Gray setzte sich auf und fuhr sich durchs Haar. Vielleicht sollte er ein paar Minuten nach draußen gehen. Ein wenig frische Luft schnappen und die kühle Brise all die Träume wegwehen lassen, die ihn schon die ganze Nacht lang heimgesucht hatten. Er zog sich frische Kleidung aus seinem Koffer über, den er sich nicht die Mühe gemacht hatte auszupacken, und begab sich leise auf den Weg aus dem Haus. Als sich die Tür hinter ihm schloss, hoffte er gen Himmel, dass jemand wach sein würde, um ihn bei seiner Rückkehr ins Haus zu lassen.
Am Kiesweg angekommen, zog er sich eher aus Gewohnheit als aus einem Bedürfnis heraus eine graue Strickmütze über das dunkle Haar. Er war es gewohnt, sich in der Öffentlichkeit so unauffällig wie möglich zu verhalten.
Auf den Straßen war es ruhig, als er durch die Stadt wanderte. Bloß ab und an schnitt das Aufheulen eines Motors durch die stille Morgenluft. Gray spürte, wie sich seine Muskeln nach und nach entkrampften und sein Kiefer immer weniger angespannt war. Er hatte vergessen, wie sehr ihn dieses Haus an seine Grenzen trieb.
Als er zehn Minuten später am Stadtplatz ankam, schien ein Licht in Murphy’s Diner und sein Magen gab einen Laut von sich, als würde er wissen, was das bedeutete. Gray fasste sich an die Taschen seiner Jeans, um sicherzustellen, dass er seine Brieftasche dabeihatte, bevor er sich auf den Weg machte.
Das Diner war so leer wie die Straßen. Er trat an den Tresen und musterte die Glasglocken, unter denen er frisch gebackene Schokoladencookies und großzügig portionierte Stücke Zitronenkuchen entdeckte. Der Geruch ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen.
»Sorry, ich habe Sie nicht reinkommen hören«, rief eine Frau durch die halb offene Tür zur Küche. »Ich bin gleich da.«
»Es eilt nicht.«
Gray lehnte sich an den Tresen, als die Frau rückwärts mit ihrem in Jeans gehüllten Hintern die Tür aufdrückte. Als ihm klar wurde, dass er sie anstarrte, blinzelte er. Ihre Kehrseite schien weich und rund, und es wäre völlig unpassend, dabei erwischt zu werden, wie er dieses Körperteil musterte. Irgendwie brachte er es fertig, seinen Blick loszureißen, bevor sie sich umdrehte und das mitgebrachte Tablett auf die Ablage vor ihm schob.
»Oh.« Sie blinzelte. »Kann ich dir Kaffee bringen?«
Ihr Gesichtsausdruck war undeutbar. Er hatte keine Ahnung, ob sie ihn kannte oder nicht. Becca meinte, dass inzwischen der Großteil von Hartson’s Creek über seine Rückkehr Bescheid wusste. Allerdings war seine kleine Schwester dafür bekannt, zu Übertreibungen zu neigen.
Er nickte. »Schwarz. Kein Zucker, bitte.«
»Kommt sofort.« Die Kellnerin lächelte, während sie ihm einen Becher einschenkte. »Weißt du schon, was du noch möchtest?«
»Ich lasse zuerst das Koffein wirken.« Als er den Becher von ihr entgegennahm, strichen ihre Fingerspitzen über seine. Er runzelte die Stirn, als ein Schlag seinen Arm durchfuhr. Das Gefühl brachte seine Hand zum Zittern und heißer Kaffee schwappte über den Rand und auf seine Finger.
»Oh mein Gott, das tut mir leid.« Die Kellnerin riss ein Stück Papier von einer Rolle an der Wand hinter ihr. »Bist du okay? Habe ich dich verbrannt?« Sie drückte das Papiertuch auf die Stelle. »Ich habe hier irgendwo einen Erste-Hilfe-Kasten. Da muss eine Salbe drin sein.«
»Ist schon okay«, winkte er amüsiert ab. »Es waren nur ein paar Tropfen. Wir können uns den Verbrennungskoffer sparen.«
Durch ihre dichten Wimpern hindurch sah sie ihn an. Gott, war sie hübsch. Auf diese Mädchen-von-nebenan-Art-und-Weise. Mit großen, grünbraunen Augen und hohen Wangenknochen voller Sommersprossen, die ihn an ein Rehkitz erinnerten. Als sie sich über den Tresen lehnte und seine Hand abtupfte, versuchte er, nicht nach unten auf ihr kurviges Dekolleté zu linsen.
Was zum Teufel stimmte nicht mit ihm? Er war ganz und gar nicht dieser Typ von Mann. Seinen Blick wieder bestimmt auf ihr Gesicht gerichtet, wurde ihm klar, dass sie ihm bekannt vorkam. Nicht, dass das eine große Überraschung darstellte. Er war wahrscheinlich mit ihr zur Schule gegangen, hatte Football mit ihrem Bruder gespielt oder bei einer Schulveranstaltung mit ihrer Cousine rumgemacht. Er müsste nur nach ihrem Namen fragen, um herauszufinden, wer sie war und wer ihre Verwandten waren. Und dennoch tat er es nicht. Weil er ihr dann würde sagen müssen, wer er war.
Er hob den Becher an die Lippen und schluckte einen Mundvoll Kaffee, während er beobachtete, wie sie den Tresen abwischte. Er konnte das Getränk kaum schmecken.
»Soll ich dir nachfüllen?«, bot sie ihm an.
»Das wäre nett.« Er hielt ihr den Becher hin. Diesmal war sie extra vorsichtig. Schenkte ihm langsam ein und hielt gute drei Zentimeter Abstand zwischen Kaffee und Becherrand. »Ich bestelle gleich was. Ich konnte mich noch nicht entscheiden.«
»Lass dir Zeit. Murphy ist da hinten sowieso noch im Halbschlaf. Ich rate den Kunden immer, vor acht Uhr nichts Essbares zu erwarten.«
Gray lachte. »Ist der Laden deswegen so leer?«
Sie schüttelte den Kopf. »Er ist leer, weil jeder so lange schläft, wie er kann, ehe die Kirche anfängt. Vor dem Ende der Messe ist hier sonntags nie viel los.«
»Alle gehen in die Kirche?« Immer noch? Gray hatte seit Jahren keinen Fuß mehr in ein Gotteshaus gesetzt.
»So ziemlich.«
»Nur du nicht.«
Sie grinste. »Ich bete in der Kaffeekirche.«
»Du kommst in die Hölle.« Er zwinkerte ihr zu.
»Da war ich schon. Ich bin ein paar Jahre dortgeblieben, habe mir ein T-Shirt besorgt und beschlossen, nicht wieder zurückzukehren.« Sie hob eine Augenbraue, während sie sich mit dem Ellenbogen auf den Tresen stützte und ihr Kinn in die Handfläche legte. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass es unanständigere Leute gibt, auf die sich der Teufel konzentrieren kann.« Die Art, wie sich ihre Lippen kräuselten, stellte irgendetwas mit ihm an. Es war überhaupt kein Make-up auf ihnen verteilt und sie waren dennoch genauso voll wie all jene, die er in L.A. gesehen hatte.
Es war viel zu lange her, seit er zuletzt flachgelegt worden war. Doch der Gedanke daran, diesen Zustand in Hartson’s Creek zu bereinigen, brachte ihn beinahe zum Lachen. Gerüchte flogen in Lichtgeschwindigkeit durch diese Stadt. Er machte sich allerdings weit mehr Sorgen darüber, dass Tante Gina davon Wind bekam, als über jedes Klatschblatt, das für diese Art von Informationen gutes Geld bezahlen würde.
»Okay, ich glaube, ich bin bereit, was zu bestellen. Ich nehme die Pancakes mit Ahornsirup in einer Kanne. Und habt ihr Erdbeeren?«
»Sicher doch.«
»Dann nehme ich noch frische, aufgeschnittene Erdbeeren in einer extra Schüssel dazu.«
»Willst du auch Eier?«, fragte sie ihn.
»Danke, nein.«
»Gute Entscheidung. Ein Restaurantkritiker von der Stanhope Daily war mal hier. Er hat sie als ungenießbar beschrieben.« Sie beugte sich kopfschüttelnd zu ihm vor. »Das ist eigentlich eine Lüge. Was er wirklich gesagt hat, war: Die gebratenen Eier in Murphy’s Diner erinnerten mich an das erste Mal, als ich meinem Freund meine tiefste Zuneigung gezeigt habe. Liebe Leser, ich empfehle zu spucken, nicht zu schlucken.« Sie rümpfte die Nase.
Gray brach in schallendes Gelächter aus. Gott, war dieses weibliche Wesen süß. Er wollte herausfinden, ob sich diese Lippen so gut anfühlten, wie sie aussahen. Wollte mit den Fingern durch ihr Haar fahren, um zu sehen, ob es so seidig war, wie er es sich ausmalte.
»Spart euch die Eier, definitiv«, holte er sich selbst aus den Gedanken.
Als sie sich umdrehte, um in die Küche zu gehen, wandte er den Blick zum Fenster, um hinaus auf den Stadtplatz zu starren. Ja, sie war hübsch, aber er war hübsche Mädchen gewohnt. Das Letzte, was er jetzt brauchte, war eine Komplikation wie diese.
K
Nachdem Gray zwei Teller von Murphys feinsten Pancakes vertilgt hatte, verließ er das Diner. Mit seinen langen, in Jeans gehüllten Beinen überbrückte er die Entfernung zwischen dem Tresen und dem Ausgang in wenigen Schritten.
Kaum, dass sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, wurde Maddies Gesicht heiß. Durch das Glas hindurch beobachtete sie ihn dabei, wie er die Wollmütze auf seinem Kopf zurechtrückte und die Hände in seine Taschen steckte, bevor er auf dem Gehweg losmarschierte. Seine Wangen waren eingezogen und die Lippen gespitzt, als würde er pfeifen.
Sie schnappte sich seinen leeren Teller und seufzte.
»Murph?«, rief sie.
»Hm?« Die Zeitung lesend, saß dieser mit einem dümmlichen Grinsen auf dem Stuhl in der Ecke. Was seltsam war, weil Murphy nie lächelte.
»Was liest du da?«
»Die Witzseiten.«
»Wirkt so, als würden sie dir gefallen.«
»Sie sind der letzte Dreck.« Als fiele ihm gerade erst auf, dass er lächelte, zog Murphy die Brauen nach unten, rollte die Zeitung zusammen und warf sie quer durchs Zimmer. »Weiß nicht, warum ich dieses Schmierblatt überhaupt kaufe.«
Maddie verbiss sich ein Lachen. Murphy kultivierte seinen Mürrischer-alter-Mann-Look schon seit Jahren. »Ich mache mal Pause. Es ist keiner im Diner, aber ich halte Ausschau und komme zurück, falls irgendwelche Kunden reinschneien.«
»Hm.« Nickend ließ er den Blick auf die Zeitung auf dem Boden gleiten.
Seine Antwort als Ja interpretierend, schenkte sich Maddie einen Becher Kaffee ein und fügte extra Sahne hinzu, bevor sie sich auf den Weg zur Sitzbank machte, die in der Mitte des Stadtplatzes stand. Das war ihr liebster Pausenort, besonders, wenn sonst niemand hier war. Im Sommer schloss sie immer die Augen und atmete den Duft des Rosengartens ein, der von der warmen Brise zu ihr hochgetragen wurde. Im Winter zog sie den Reißverschluss ihrer gefütterten Jacke bis oben hin zu und kauerte sich über ihrem Becher zusammen, als wäre er ein wärmendes Feuer.
»Ich habe vergessen, dich nach deinem Namen zu fragen.« Der Klang einer geschmeidigen, tiefen Stimme ließ sie aufschrecken. Maddie blickte zu Gray hoch, der vor ihr stand. Mit seinen breiten Schultern blockierte er die frühe Morgensonne.
»Meinen Namen?«, wiederholte sie stirnrunzelnd.
»Ja, ich wollte ein Trip-Advisor-Kommentar schreiben. Den Lesern erzählen, dass du mir geraten hast, die Eier zu vermeiden.«
Maddie verbiss sich ein Lächeln. »In dem Fall ist mein Name Cora Jean«, machte sie ihm weiß. »Soll ich dir das buchstabieren?«
»Du sieht nicht aus wie eine Cora Jean.« Er legte den Kopf schief und fing ihren Blick mit seinem auf. Sie hatte vergessen, wie magnetisch er war. Wie anziehend diese dunkelblauen Augen wirkten. Für den Fall, dass sich ihr Körper entscheiden sollte, sich an seinen zu werfen, umfasste sie die hölzerne Sitzfläche der Bank fester.
»Wie sieht denn eine Cora Jean normalerweise aus?«
Sein Mundwinkel zuckte. »Ich bin hier gerade ziemlich am Arsch, oder? Wenn ich dir sage, dass Cora Jean wie eine Sechzigjährige mit Nikotinflecken auf den Fingern aussieht und einen besseren Schnurrbart hat, als ich ihn mir je stehen lassen könnte, und sich herausstellt, dass dein Name tatsächlich Cora Jean ist, wirst du mich ohrfeigen wollen.«
»Und wenn mein Name nicht Cora Jean ist?«
Er senkte die Stimme. »Dann würde ich sagen, dass mich das nicht überrascht, weil du an dem Schnurrbart echt noch arbeiten müsstest.«
»Du bist ein ziemlicher Süßholzraspler.«
»Du bringst das einfach aus mir heraus, Cora Jean.« Er grinste, und Maddie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Es schien unmöglich, ihn nicht anzulächeln. Gott, sah er gut aus. Sein graues, langärmeliges T-Shirt trug nichts dazu bei, die Konturen seiner Brust oder die Größe seines Bizeps zu verbergen. Und seine dunkelblauen Jeans klebten an seinem Hintern, als wollten sie ihn niemals loslassen.
Als sie sich das erste Mal in die Augen gesehen hatten, hatte Maddie erwartet, er würde sie sofort erkennen. Sie hatte sich nicht besonders verändert, seit sie ein Kind gewesen war. Oder zumindest glaubte sie das nicht. Dennoch war kein Hauch von Wiedererkennen in seinen Blick getreten, während sie ihm den Kaffee von den Fingern gewischt hatte. Und aus irgendeinem seltsamen Grund gefiel ihr das. Sie musste nicht erklären, warum sie noch immer hier in Hartson’s Creek wohnte, obwohl sie die Stadt Jahre zuvor hätte verlassen sollen. Musste ihm nicht erzählen, dass sie bei ihrer Mom lebte und Kartoffeln frittierte, um sich ein Dach über dem Kopf zu verdienen, während er in fünf unterschiedlichen Ländern die Charts toppte.
Für ein paar Minuten hatte sie es genossen, jemand anderes zu sein. Aber das Gefühl war flüchtig, so viel stand fest. Es musste nur jemand an ihnen vorbeigehen und sie grüßen, schon wüsste er, wer sie war. Niemand flog in dieser Stadt unter dem Radar.
»Meine Pause ist aus«, erklärte sie Gray, nachdem sie ihren letzten Schluck Kaffee genommen hatte. »Ich muss zurück zur Arbeit.«
Er nickte und trat einen Schritt von ihr weg. »Es war schön, dich kennenzulernen, Cora Jean. Danke für das Frühstück und dafür, dass du mich vor gebratenem Ekelei bewahrt hast.«
Kopfschüttelnd lachte sie und warf ihren geflochtenen Zopf beim Aufstehen über die Schulter. »Jederzeit.« Dann wandte sie sich um und lief, ohne sich ein weiteres Mal umzudrehen, zum Diner. Ihre Kehle fühlte sich für einen Blick zurück zu eng an. Sobald sie die Tür aufgezogen hatte und eingetreten war, stieß sie die gesamte Luft aus ihrer Lunge.
Gray Hartson hatte Frühstück bei ihr gegessen. Wenn sie diese Story bei Chairs erzählen würde, wäre sie wochenlang in aller Munde. Was exakt der Grund war, warum sie es keiner Seele verraten würde.
5. Kapitel
»Ich hätte nie gedacht, den Tag noch zu erleben, an dem du freiwillig in die Kirche gehst«, stellte Tante Gina fest, während sie auf dem Weg die Treppen zur First Baptist Church hoch die Hand durch seine Armbeuge schob. Die Kirche stand direkt neben dem Stadtplatz.
Gray zuckte die Achseln. »Was gibt’s hier sonst an einem Sonntagmorgen zu tun?«
»Becca und Tanner haben etwas anderes gefunden, um sich zu beschäftigen.«
»Sie sind noch nicht mal wach.« Gray lächelte seine Tante an. »Ich spüre noch immer den Jetlag. Mein Körper weiß nicht, ob es noch gestern oder schon morgen ist.«
»Na ja, du bist jedenfalls ein guter Junge.« Sie zog ihre Hand aus seiner Armbeuge und tätschelte sein Gesicht. Bei der Berührung rümpfte sie die Nase. »Obwohl du dich hättest rasieren können.«
»Ich hoffe, Gott wird mir die paar Haare vergeben.«
Er drückte die Kirchentür auf und schluckte hart, als sich alle zu ihnen umdrehten. Die Bänke waren zum Bersten gefüllt mit Gläubigen und so, wie es aussah, auch mit einigen Ungläubigen. Ein paar der Letzteren tippten auf ihren Handys herum. In der Hoffnung, seine Anwesenheit würde sich nicht wie ein Lauffeuer verbreiten, schickte er ein Stoßgebet gen Himmel.
»Heute ist viel los«, murmelte Tante Gina, seinen Arm tätschelnd. »Auch viele jüngere Leute sind hier.« Beim Anblick der Handys schnalzte sie die Zunge. Als sie an einem Mädchen vorbeikamen, das Gray ungeniert filmte, warf Gina ihr einen finsteren Blick zu. »Kannst du das fassen?«, zischte sie. »Es ist ihnen noch nicht mal peinlich.«
»Schon okay. Ich bin’s gewohnt.«
»Tja, ich aber nicht.« Zwischen ihren Augen schien ein tiefes V eingemeißelt worden zu sein. »Das ist so unhöflich.«
Gray führte sie zu einer Bank, die ein paar Reihen vom Altar entfernt stand, und alle rutschten zur Seite, um ihnen Platz zu machen. Hier erkannte er ein paar Gesichter wieder – Eltern seiner alten Freunde und Freunde seiner Eltern. Sie wirkten erschöpfter und ihr Haar war weißer als zum Zeitpunkt seines Fortgehens. Dennoch waren sie immer noch dieselben.
Jemand tippte ihm auf die Schulter und er drehte sich zu einem Handy um, das ihm von einer Teenagerin hingehalten wurde. »Kann ich ein Selfie mit dir machen?«
»Ähm. Klar. Sicher.«
Noch bevor er das letzte Wort herausgebracht hatte, platzierte sie ihre Schulter neben seiner und neigte das Handy so, dass ihre Gesichter darauf erschienen. »Hey«, fing sie an, während sie gefühlt hundert Fotos knipste. »Wirst du heute singen?«
»Natürlich wird er singen«, warf das Mädchen neben ihr ein. Nach der Farbe ihres Haares und der Ähnlichkeit ihrer Gesichtszüge nach zu urteilen, nahm er an, dass die beiden Schwestern waren. »Wir sind in einer Kirche. Da gibt es Kirchenlieder, du Dummerchen.«
»Ich meinte vorne. Ein Solo. Wäre das nicht unglaublich? Ich könnte es aufnehmen.« Die Augen des ersten Mädchens leuchteten. »Hast du einen Insta-Account? Dann verlinke ich dich im Foto. Oh, könntest du ein Kommentar darunterschreiben? Das würde Ella Jackson wahnsinnig machen. Sie behauptet, sie sei dein größter Fan, kennt aber nicht mal die Lyrics zu Along the River.«
Die Orgel ertönte mit voller Wucht und erstickte mit ihren tiefen Noten jedwede mögliche Antwort. Nicht, dass Gray eine parat gehabt hätte. Den Blick nach vorne wendend, entdeckte er Reverend Maitland, dessen lange, weiße Robe hinter ihm herwehte. Das Auftauchen des Geistlichen reichte nicht aus, um die Aufmerksamkeit von Gray wegzulenken. Er spürte noch immer dieses Brennen im Genick, das ihm deutlich machte, dass alle Augen auf ihn gerichtet waren. Vielleicht hätte er ein paar Bodyguards mit in die Stadt bringen sollen. Aber welches Arschloch traf in der örtlichen Kirche seine eigenen Sicherheitsmaßnahmen? In dieser Situation konnte er nur verlieren. Entweder saß er hier und nahm es hin oder er rauschte divenhaft davon. Als Tante Gina zu ihm aufsah und ihre besorgte Miene vom schummrigen Licht erhellt wurde, war ihm klar, dass er so oder so festsaß. Er musste bloß die nächste Stunde überstehen. Das sollte machbar sein. Und danach würde er die Kirche für die nächsten tausend Jahre meiden.
K
Maddie versuchte, sich im noch menschenleeren Diner zu beschäftigen. Sie wischte bereits blitzblanke Tische ab und arrangierte die Speisekarten über dem Tresen neu. Diesen Teil des Sonntags hatte sie immer schon gehasst. Die Ruhe vor dem Sturm, kurz bevor der Gottesdienst zu Ende war und jeder ins Diner rannte, um den besten Platz zu ergattern.
Letzte Woche wäre es beinahe zu einer Schlägerei gekommen, als Mary-Ellen Jones und Lucy Davies versuchten, ihre ausladenden Hintern in die begehrte Nische an der Eingangstür zu schieben. Erst nach einer zehnminütigen Verhandlung und Maddies Versprechen, ihr gratis Backwaren zu servieren, begnügte sich Lucy mit einem Tisch weiter hinten im Diner.
Die Glocke über der Tür ertönte und Cora Jean kam herein. Ihr silbernes Haar war zu einem perfekten Knoten gebunden. Trotz ihres Alters war sie rüstig und liebte den sonntäglichen Hochbetrieb. Den meisten Teenagern von Hartson’s Creek konnte sie dabei noch eine gesunde Gottesfurcht lehren.
Coras Anblick erinnerte Maddie an ihr Gespräch mit Gray. Er hatte doch nicht wirklich vor, einen Kommentar auf Trip Advisor zu schreiben? Falls doch, müsste sie vermutlich Cora Jean erklären, wie es dazu gekommen war, doch darauf hatte sie ehrlich gesagt keine Lust. Noch schlimmer, wenn es über Social Media verbreitet würde. Oh Gott, nicht auszudenken.
Kopfschüttelnd ärgerte sich Maddie über ihre Dummheit. Anfangs war es ihr lustig erschienen, so zu tun, als wäre sie jemand anderes.
»Warum lungern die jungen Leute bei der Kirche herum?«, fragte Cora Jean, während sie ihre Jacke neben dem Tresen aufhängte. »Seit das letzte Harry Potter-Buch rausgekommen ist, habe ich nicht mehr so viele Kinder auf einem Haufen gesehen.«
»Das war vor zehn Jahren«, bemerkte Maddie amüsiert.
»Ja, na ja, die Kinder sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Zu beschäftigt damit, Videos auf ihren Handys zu gucken und ihre Bleats zu schreiben, um sich noch für Bücher zu interessieren.« Cora Jean legte sich ihre Schürze um den Hals, ohne den adretten Haarknoten zu berühren. »Ich vermisse die Zeit, als ihr alle bloß nach dem Fernsehen süchtig wart.«
»Bleats?«, wiederholte Maddie.
»Du weißt schon, das Twitterding. Bleats. Sag nicht, du wüsstest nicht, was das ist?«
»Man nennt das Tweets. Tweet heißt zwitschern. So wie Vögel. Deshalb nennt man die App auch Twitter.« Maddie musste sich ein Lachen verbeißen. »Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob die Jugend das noch benutzt. Es dreht sich jetzt alles um Snapchat und Instagram. Egal. Warum sind denn so viele in der Kirche? Ist heute eine Taufe?«
»Nicht, dass ich wüsste.« Cora Jean zuckte die Achseln. »Sie hocken alle auf der Treppe, als würden sie auf einen Bus warten. Die Handys kleben ihnen natürlich an den Pfoten.«
»Ich werde mal nachschauen.« Maddie starrte zur Tür heraus. Die First Baptist Church stand am anderen Ende des großen Grasplatzes und wurde teilweise vom Musikpavillon und den Eichen verdeckt, die sich an die Fassade schmiegten. Vergebens reckte Maddie den Hals. Sie konnte absolut nichts sehen.
»Ist es okay, wenn ich einen Moment abhaue?«, fragte sie Cora Jean, die mit einem Nicken zustimmte.
Draußen lief Maddie um den Platz herum und hielt auf der anderen Seite inne. Tatsächlich hatten sich mindestens dreißig Leute versammelt, die alle an den weiß getünchten Wänden des First Baptist Gebäudes hochlugten. Als sich die übergroßen Holztüren öffneten, fing die Menge an, regelrecht zu vibrieren. Diejenigen, die auf den Stufen saßen, sprangen auf und wogten wie einer Welle der offenen Tür entgegen. Bald aufholend bahnten sich auch die anderen mithilfe ihrer Ellenbogen einen Weg nach vorne und reckten die Handys in die Luft.
»Ist Gray Hartson da drinnen?«, schrie eines der Mädchen.
»Ja, wir wollen Gray!«
Der Lärm stieg rapide an. Wie angewurzelt stand Maddie da, ein wenig entsetzt, doch ebenso amüsiert.
War Gray wirklich in der Kirche? Was zum Teufel hatte er sich dabei gedacht? Hartson’s Creek mochte eine verschlafene Kleinstadt sein, aber sie lag nicht im Koma. Neuigkeiten verbreiteten sich hier ebenso schnell wie in L.A. und New York und welche Stadt ein Gray Hartson auch immer gewohnt war. Hier vermutlich sogar schneller. Gelangweilte Kleinstädter stürzten sich geradezu auf Tratsch.
Maddie entdeckte Reverend Maitland im Türbogen. Sogar von hier konnte sie die Verwirrung über das plötzliche Interesse der örtlichen Kids auf seinen Zügen erkennen. Er hielt die Hände hoch, und sie erwartete beinahe, dass sich die Menge teilen würde wie das Rote Meer. Stattdessen duckten sich zwei Mädchen an ihm vorbei und rannten ins Gebäude.
»Junge Damen!«, rief Reverend Maitland mit zusammengezogenen Brauen hinterher. »Die Messe ist vorüber.«
Maddie unterdrückte ein Lachen. Das war alles so absurd. Und so weit entfernt von der Normalität eines Sonntags in Hartson’s Creek.
Ein weiterer Teenager stieß gegen Reverend Maitland und das Lächeln fiel von Maddies Gesicht. Jemand würde sich noch verletzen. Der Reverend machte einen Schritt nach vorn, um das Gleichgewicht zu wahren, und der Platz, den er dabei freigab, wurde sofort von neuen Dränglern gefüllt.
Tief durchatmend ging Maddie auf die Kirche zu und zog die Brauen zusammen, als Reverend Maitland zwei weitere Stufen nach unten gezwungen wurde. »Hey!«, rief sie aus und versuchte, sich durch die Masse zu kämpfen. »Ihr müsst euch beruhigen. Hört auf zu schubsen.«
Es war, als hätte sie kein Wort gesagt. Alle schubsten sich weiterhin gegenseitig und drängten den Reverend dabei fort. Maddie musste die Leute mit den Ellenbogen aus dem Weg räumen, um zu ihm zu gelangen.
Sie fasste nach seinem Arm. »Sind Sie okay?«
»Ich bin okay«, bestätigte er ein wenig außer Atem. »Vielleicht mit ein paar blauen Flecken mehr. Aber da drinnen ist ein junger Mann, der viel schlechter dran ist als ich.«
»Ist Gray in der Kirche?«, fragte Maddie. Obwohl sie ihre Stimme gesenkt hielt, ließ die Erwähnung seines Namens die Menge erneut aufbrüllen.
»Ich fürchte, ja. Ich habe alle aufgefordert, sitzenzubleiben, während ich nachschaue, was hier draußen vor sich geht. Und jetzt komme ich nicht mehr rein.«
»Könnt ihr den Reverend bitte wieder in seine Kirche lassen?«, rief Maddie der Menge auf den Stufen zu. »Kommt schon, zeigt ein wenig Respekt.«
Doch Respekt schien eine Rarität in dieser Gegend. Ihrer Ellenbogentechnik gelang jedoch, was ihre Bitte nicht erreichen konnte, und irgendwie schaffte sie es mit Reverend Maitland zurück in die Kirche. »Sie sollten den Eingang verschließen«, riet sie ihm, als sie an den Türen ankamen. »Ich rufe die Polizei und sehe zu, dass diese Teenager nach Hause geschickt werden.«
»Der Einzige im Dienst ist Scott Davis. Den verschlingen diese Kinder zum Frühstück«, erklärte Reverend Maitland. »Wir müssen Gray Hartson hier rausbekommen. Das sollte ihnen den Wind aus den Segeln nehmen.«
»Wo ist er?«
»Zuletzt saß er noch in der dritten Reihe.« Reverend Maitland deutete in die Mitte der Kirche. Jetzt war dort niemand mehr. Die Schaulustigen lungerten alle herum und sprachen in schnellen Sätzen miteinander. Ihre Augen waren so groß, als wäre so ein Chaos noch nie in Hartson’s Creek vorgekommen.
»Ist der Hinterausgang offen?«
»Man muss nur gegen den Sicherheitsbügel drücken. Von dort kommt man allerdings nirgendwo hin, außer um die Kirche herum zum Eingang.«
Richtig. Die Hinterseite der First Baptist Church war von den Hinterhöfen der anschließenden Wohnstraße umringt. Und vor diesen Höfen lag der Bach. Ob man nun ging oder fuhr, der einzige Weg von hier fort führte über den Stadtplatz. »Ich überlege mir was«, murmelte Maddie. »Entweder das oder er wird den Löwen zum Fraß vorgeworfen.«