Kitabı oku: «Schärengrab», sayfa 3
Kapitel V
Rollentausch an Bord
Der Kapitän konnte den beiden Ermittlern aus Oslo nur noch zwei Kabinen im Crewbereich zur Verfügung stellen, da die „Norwave“ ausgebucht war. Die Sommermonate sind in Norwegen mittlerweile so mild geworden, dass der August einer der begehrtesten Reisemonate ist. Die norwegischen Polizisten hatten sich in einem Besprechungsraum der Crew eingerichtet, um ihre Ermittlungen und Befragungen durchzuführen. Thorstens Angebot, mit dem Profilerteam gemeinsam Abend zu essen, schlugen sie aus. Die Ermittler mussten objektiv bleiben und konnten mit Beteiligten eines Mordverfahrens, die soeben noch in dringendem Tatverdacht standen, nicht den Abend gemeinsam bei einem Glas Bier oder Wein verbringen. Sie hatten als ersten Zeugen Thorsten Büthe für 21 Uhr zur Vernehmung vorgeladen, der natürlich pünktlich erschien.
„Guten Abend, Herr Büthe“, begrüßte ihn die junge Ermittlerin in deutscher Sprache recht formell. Thorsten wurde als Zeuge belehrt und zur Wahrheit ermahnt, was sich den Vorschriften in Deutschland anglich.
„Dann erzählen Sie doch mal von sich. Wie ist Ihre persönliche und berufliche Situation? Wie kommt es, dass Sie mit Ihren Mitarbeitern zusammen auf dem Schiff sind? Und dann schildern Sie bitte den Ablauf des heutigen Tages bis zu Ihrer Festnahme“, wies die Ermittlerin an und ergänzte: „Ich gehe zudem davon aus, dass Sie sich einverstanden erklären, die Aussage auf Band aufzunehmen.“
Thorsten begann mit seiner familiären Situation und hielt sich exakt an die Reihenfolge, die Politibetjent 1 Larsen vorgab.
Sie ließ ihren Zeugen ungestört berichten und setzte sogenannte Akzente des aktiven Zuhörens durch bestätigendes Nicken oder zustimmendes Brummen ein. Taktisch kommentierte sie ihr unklare Schilderungen mit einem langgezogenen „Okaaaay?!“, was Thorsten Büthe veranlassen sollte, darauf detaillierter einzugehen.
Nachdem der Zeuge in etwa 90 Minuten alles beschrieben hatte, folgten einige Nachfragen, wobei der bislang völlig wortkarge Ermittler, Politibetjent 2 Andersen, seiner Kollegin mehrfach ins Ohr flüsterte und der Ermittlerin weitere Fragen formulierte.
„Frau Larsen, Entschuldigung, wie will Ihr Kollege jetzt Fragen formulieren, wenn er bislang kein Wort verstanden hat?“, warf der Profiler ein.
„Herr Büthe, wir sind ein eingespieltes Team, das lassen Sie ruhig unsere Sorge sein“, konterte die Beamtin.
„Okay, Herr Büthe, ich glaube, wir haben alles. Haben Sie noch Fragen an uns?“
„Unbedingt“, warf der LKA-Beamte ein. „Was machen Sie hier eigentlich? Sie vernehmen mich in aller Ruhe zu einem Sachverhalt, der Ihnen seit dem frühen Abend bereits bekannt ist. Ihr Kollege versteht leider nichts, was wir hier die letzten zwei Stunden gesprochen haben. Kann er die Zeit nicht mit wichtigeren Ermittlungen verbringen? Sie überprüfen nicht, wer von den Passagieren die Frau mit dem Rollator sein kann. Sie ignorieren unsere Kompetenz in solchen Fällen total und verplempern einfach nur Zeit.“ Der OFA-Leiter wurde zornig, als der bullige Politibetjent 2 aufstand und sich vor Thorsten auf die Tischkante setzte.
„Herr Büthe, wir wissen genau, was wir wie und wann machen müssen. Zeitgleich werden die Passagierdaten durch die Crew überprüft und natürlich auch sämtliche Videodaten ausgewertet. Die Fotos der Bordfotografen werden abgeglichen und wir vernehmen unseren Hauptzeugen, der vor drei Stunden noch unter Mordverdacht stand. Und bevor Sie wieder nachfragen müssen, habe ich jedes Ihrer Worte verstanden. Ich war mit einer deutschen Ärztin verheiratet, die nach Norwegen ausgewandert ist, weil ihr in Deutschland so super mit euren Medizinern umgeht. Ist das mit LKA-Beamten ähnlich?“
Thorsten war nicht so schnell zu beeindrucken, aber das hatte gesessen, was er sich jedoch nicht anmerken lassen wollte.
„Prima, das vereinfacht doch alles. Darf ich noch eine wesentliche Frage stellen?“ Der Profiler wartete die Antwort nicht ab.
„Wie ist eure Dienststelle in Oslo bei Tötungsdelikten aufgestellt? Gibt es Experten für Tatrekonstruktionen, die Täterverhalten interpretieren und daraus ein Profil und darauf resultierend alternative Ermittlungskonzeptionen erstellen?“
„Natürlich, die sitzen direkt in Oslo. Die Einheit ist 2011 nach dem Massaker in Oslo und auf der Insel Utøya gegründet worden. Anders Behring Breivik hatte damals 77 Menschen erschossen und natürlich wollte man wissen warum. Diese Ermittlungen jedoch führen wir selbst“, stellte Politibetjent 2 Andersen klar.
„Ist es möglich, dieses Team mit ins Boot zu holen? Ich glaube, wir könnten die Ermittlungen unterstützen“, bot der OFA-Leiter an.
„Leider haben wir den Tatort gerade verlassen und sind auf hoher See. Wie soll das funktionieren?“, hinterfragte der bullige Beamte.
„Wir benötigen Tatortfotos, einen entsprechenden Befundbericht, Angaben zum Opferbild und das rechtsmedizinische Sektionsprotokoll. Wäre das möglichst schnell umsetzbar?“, forderte der deutsche Beamte.
„Um dann was damit zu tun?“, fragte Politibetjent Larsen unsicher.
„Damit können wir in einer sogenannten Fallanalyse Angaben zu den Tathandlungen, den Motiven des Täters, der Nähe zum Opfer und Angaben zur Täterpersönlichkeit erarbeiten. Vor allem ist es möglich einzuschätzen, ob die Oma mit dem Rollator die Täterin sein kann oder anders mit drinsteckt“, versuchte Thorsten zu argumentieren und setzte nach, als er in verständnislose Gesichter blickte. „Ich kenne mich in der Kriminalitätslage von Oslo nicht so gut aus, aber in Deutschland haben wir nicht regelmäßig junge tote Frauen in Parks liegen, von denen der Täter den Skalp als Trophäe oder was auch immer mitnimmt.“ Thorsten gönnte den beiden Beamten keine Atempause. „Die erste Frage, die sich aufdrängt, ist: Wie ist die Frau denn getötet worden?“
„Sie ist erstochen worden“, klärte Politibetjent 1 Larsen auf.
„Das habe ich gehört. Wie genau? Wie viele Stiche? Wo waren die Stichwunden, am gesamten Körper? Gab es aktive oder passive Abwehrverletzungen? Wurden Körperpartien priorisiert oder bewusst ausgespart? Waren das Gesicht oder die Geschlechtsmerkmale betroffen? Waren es nur Stich- oder auch Schnittwunden? Hat ein sexueller Missbrauch stattgefunden? Und vermutlich die wichtigste Frage zur Motivation: Ist die Frau vital oder postmortal skalpiert worden? Versteht ihr, was ich meine?“, schloss Thorsten seinen Appell.
Ingrid Larsen verstand. „Wir stecken in dem Fall noch nicht so tief drin und können diese Fragen nicht beantworten.“
„Welche Fragen hättet ihr mir denn als Mordverdächtigem gestellt, wenn ihr nicht einmal wisst, was passiert ist?“
Politibetjent 2 Andersen wurde wieder offiziell. „Herr Büthe, vielen Dank für Ihre Angaben, Sie dürfen gehen. Wir werden die Ermittlungen morgen früh fortführen und auf Sie zukommen. Gute Nacht.“
Thorsten erkannte, dass es an diesem Abend keinen Sinn machen würde, die Ermittler von einer Kooperation zu überzeugen. Er wollte sich im Team abstimmen, ob sie sich hier überhaupt weiter engagieren sollten, kannte aber schon zumindest seine Position.
Der deutsche Profiler versuchte, den Kapitän auf der Brücke zu sprechen, wurde aber mit dem Verweis auf seine mangelnde Zuständigkeit und seine Position als normaler Passagier abgewiesen.
So blieb dem gesamten Team nichts weiter übrig, als in der ,Fjord-Bar‘ bei dem einen oder anderen Getränk diesen chaotischen Tag Revue passieren zu lassen. Lachend ertappten sie sich, dass alle in der Menge nach einer älteren Dame mit Rollator Ausschau hielten.
Kapitel VI
Ein Seetag
Beim gemeinsamen Frühstück beschloss das Profilerteam, sein Engagement von der Kooperationsbereitschaft der Osloer Kollegen abhängig zu machen. Ohne die erforderlichen Daten und Unterlagen konnten sie niemandem helfen. Thorsten suchte die Brücke auf, und der Kapitän kam kurz an die Tür, um ihm mitzuteilen, dass die Überprüfungen an Bord keinerlei Erfolg gezeigt hatten. Die älteren Passagiere waren alle befragt worden. Auf den verfügbaren Video- und Fotodateien sei die Dame mit Rollator nicht verzeichnet gewesen.
„Herr Büthe, eigentlich darf ich es Ihnen nicht sagen, aber weder die Osloer Polizei noch wir hier an Bord können davon ausgehen, dass die Dame mit dem Trolley jemals die ,Norwave‘ betreten hat. Sie wäre niemals durch die letzten beiden Schleusen gelangt. Wer weiß, wie alt die Bordkarte war, die sie am Pier bei der ersten Sicherheitsschleuse vorgezeigt hatte. Die beiden norwegischen Ermittler werden in Bergen wieder von Bord gehen und ihre Ermittlungen in Oslo weiterführen. Bitte sagen Sie den anderen Passagieren noch nichts. Wir werden jetzt erst nach Bergen fahren. Die beiden kollidierten Schiffe unter der Hardanger Brücke blockieren noch immer die Fahrrinne. Wir mussten wieder umdisponieren. Ich wünsche Ihnen jetzt eine erholsame Reise und entschuldige mich für die bisherigen Umstände.“ Mit diesen Worten kehrte der Kapitän zurück auf seine Brücke und ließ den LKA-Beamten fassungslos stehen.
Völlig echauffiert berichtete Thorsten von diesen nicht nachvollziehbaren Entscheidungen und versuchte die norwegischen Kollegen zu erreichen, die ihnen allerdings bewusst aus dem Weg gingen.
Die beiden Politibetjents waren nach dem Gespräch mit dem deutschen LKA-Beamten nachdenklich und hatten am Morgen die Anregungen des Profilers ihrem Polizeichef, Inger Olsen, vorgetragen. Sie hatten sogar gebeten, die erforderlichen Unterlagen an Bord der „Norwave“ zu mailen, was der Herr Olsen vehement ablehnte. Er untersagte sogar, die anderen Zeugen zur älteren Dame zu vernehmen. Die bisherigen ersten Aussagen bei der Hafenpolizei seien ausreichend. Die Ermittler sollten in Bergen von Bord gehen und umgehend nach Oslo zurückkehren, um dort die Mordermittlungen vor Ort zu unterstützen.
Mit dieser Entscheidung wollten sie ihren deutschen Kollegen nicht konfrontieren, frühstückten daher extra in der Crewkantine und mieden die Passagierdecks.
Das Team redete auf Thorsten ein, er solle erst einmal wieder herunterkommen.
„Mann, jetzt mach da ’nen Haken dran und vergiss die Geschichte, wenn sie unsere Hilfe nicht wollen“, schlug Kristin vor.
„Wirklich, Thorsten“, versuchte es Carlotta ein wenig sanfter, „es macht doch keinen Sinn sich aufzureiben. Lass uns an den Anlass der gemeinsamen Reise denken: Entspannung und Erholung pur.“
„Wie soll ich mich erholen, wenn ich weiß, dass da draußen oder vielleicht sogar in unserer Nähe ein Mörder rumläuft?“, fragte Thorsten. „Vor allem, wenn wir überhaupt keine Chance haben, helfend einzugreifen.“
„Er hat recht“, stimmte Maik zu. „Mir lässt das auch keine Ruhe, euch vielleicht?“
„Nicht wirklich“, bestätigte Thomas.
„Uns wird wohl aber nichts anderes übrig bleiben“, vermutete Nina nachdenklich. „Oder will sich hier irgendjemand einen Alleingang leisten? Ihr dürft nicht vergessen, dass wir Gäste in diesem Land sind.“
„Aber genau dann ist es doch unsere Pflicht zu unterstützen“, wandte Thorsten ein.
„Es bedeutet aber auch zu akzeptieren, wenn die Hilfe nicht erwünscht ist“, erinnerte ihn Carlotta.
Thorsten winkte ab und ging.
Als er seine Kabine betrat, fand er an der Tür einen sogenannten Kabinenbrief, in dem sich die Osloer Beamten für das Unterstützungsangebot bedankten. Dann teilten sie mit, dass ihr Vorgesetzter entschieden hatte, sie nicht nur von Bord abzuziehen, sondern auch auf die angekündigten Zeugenvernehmungen der begleitenden Kolleginnen zu verzichten. Es seien keine weiteren ermittlungsfördernden Hinweise zu erwarten. Mit den typischen oberflächlichen Höflichkeitsfloskeln wünschten sie den deutschen Kollegen eine angenehme Weiterreise.
Thorsten kochte vor Wut, versuchte aber, wieder in einen Reisemodus umzuschalten und sich vor seinem Team nichts anmerken zu lassen. Wie so oft in solchen Momenten, schnappte er sich seine Nikon und machte einen Spaziergang über das Außendeck. Er wäre nicht Thorsten Büthe, wenn er seine Motive nicht auf ältere Damen fokussiert hätte, die er sich in der Kabine auf seinem Laptop weiter heranzoomte und konzentriert betrachtete. Vielleicht hatte er sich wirklich verrannt, und die Frau mit dem Rollator hatte nie das Schiff betreten. Er duschte seine Zweifel ab und begab sich zu den anderen ins Theatrium, um vor dem Abendessen die Vorstellung der Attraktionen von Bergen zu genießen, zumindest soweit es ihm aufgrund seiner Gemütslage möglich war.
Kapitel VII
Bergen sehen und sterben
Die wunderschönen Bilder der alten Stadt Bergen versöhnten Thorsten Büthe mit den Erlebnissen des Tages. Endlich konnte er abschalten und sich wieder auf die Reise konzentrieren. Manchmal war es besser, Dinge einfach hinzunehmen, die man nicht ändern konnte. Gedanklich ließ er sich von den Erzählungen des Lektors treiben. Er verfolgte die Geschichte der Stadt und bewunderte die bunten Holzhäuser von Bryggen, die einmal Handelseinrichtungen der Hanse gewesen waren. Nicht nur Thorsten staunte über die traumhafte Aussicht vom Fløyen aus, die Teile von Bergen sowie den Byfjord zeigte. Auch seine Kollegen waren fasziniert.
Im Anschluss an die Vorstellung der Attraktionen in und um Bergen entschloss sich das gesamte Team für eine Fahrt mit der Fløibahn. Sie führte zur Aussichtsplattform und dem Aufenthalt auf einem der sieben Berge der Stadt. Nach der Abfahrt ins Tal würden sie dann genug Zeit haben, sich die Flaniermeile Bergens anzuschauen und ihren Ausflug mit einem Einkaufsbummel sowie dem Besuch des Fischmarktes zu verbinden. Die Profiler wollten die Zeit von der Ankunft um 8 Uhr bis zum Auslaufen um 18 Uhr komplett nutzen. Thorsten Büthe freute sich schon auf einen frühen, aber fototechnisch interessanten Morgen mit einem heißen Kaffee an Deck, währenddessen er das Einlaufen in den Hafen von Bergen in Ruhe genießen wollte. Für Nina hingegen war 8 Uhr noch mitten in der Nacht. Sie bat um rechtzeitiges Wecken, aber erst wenn sie angelegt hatten und wirklich nur kurz vor Beginn des Ausflugs.
Während des Fotografierens beobachtete Thorsten das Anlegemanöver und schoss einige Bilder vom Treiben an der Pier mit seinem Telezoom. Nachdem die Gangway freigegeben worden war, verließen die beiden Politibetjents als Erste das Schiff, um ihre Mordermittlungen in Oslo fortzusetzen. Sie hofften, dass sie dabei erfolgreicher sein würden.
Als Thorsten im Frühstücksrestaurant eintraf, saß sein Team fast vollzählig am gedeckten Tisch und genoss die Leckereien vom Buffet. Nina hatte sich noch nicht aufraffen können mit dabei zu sein, wobei Kristin versicherte, dass sie ins Bad gegangen sei, als sie die Kabine verlassen hatte.
Wegen des geplanten Ausflugs standen sie nicht unter Druck. Die Fløibahn fuhr in den Sommermonaten ganztägig von 7:30 bis 23 Uhr, Reservierungen waren nicht erforderlich.
Sie hatten sich über ihre Bord-App in die Liste des Neun-Uhr-Shuttles eingetragen und waren endlich als Team komplett, als Nina mit einem Croissant und einem coffee to go dazustieß. Bei strahlendem Sonnenschein konnten sie schon vom Anleger aus den Gipfel des Fløybergs sehen. Sie wurden in den Shuttlebus sechs eingewiesen, der sie nach kurzer Fahrt im Zentrum Bergens direkt an der Bahnstation in Sichtweite des Fischmarktes absetzte.
So früh gehörten sie zu den wenigen, die den Panoramablick auf die Stadt, die reizvolle Umgebung und die „Norwave“ bei milden Temperaturen erleben wollten. Gut gelaunt erreichte das Team die Talstation der Bahn. Die Schlange vor dem alten, weißen Gebäude, das 1918 erbaut worden war, blieb überschaubar. Ihre Tickets hatten sie bereits an Bord gebucht. Das war ein toller Service des Schiffs und verhinderte Wartezeiten. Daher dauerte es auch nicht lange, bis sie die Gondel erreicht hatten. Trotzdem wurde Thorsten Büthe beim Einsteigen mehrfach unsanft angerempelt. Er schüttelte den Kopf. Manche Menschen benahmen sich so, als ob sie allein auf der Welt wären. Samt Kollegen stand er nun in einer Gondel, die sie mit weiteren Ausflüglern in nur sechs Minuten über eine Streckenlänge von 850 Metern und 300 Höhenmetern zur Bergstation bringen würde.
Der Fløyen liegt nur 320 Meter oberhalb des Meeresspiegels, wobei die Aussicht auf die Stadt, die Hafeneinfahrt, die Fjorde und die umliegenden Berge tatsächlich faszinierend ist. Thorsten hatte seinen Fotorucksack umgeschnallt. Hier war neben seiner riesigen Nikon auch seine Fujiausrüstung untergebracht, um für alle interessanten Motive gewappnet zu sein. Er ließ die Fujikamera, die er mit einem extremen Weitwinkelzoom bestückt hatte, glühen und nutzte das klare Morgenlicht.
Das Team war sportlich gekleidet und hatte sich als Ausgleich zu den üppigen kulinarischen Verführungen an Bord vorgenommen, die Proportionen des Körpers durch gemäßigte Bewegung nicht völlig entgleiten zu lassen.
Sie starteten ihre Wanderung auf dem etwa drei Kilometer langen Rundweg, der touristengerecht an einem Restaurant, Café und mehreren Souvenirläden samt Spielplätzen vorbeiführte.
Thorsten Büthe steckte den Objektivschutzdeckel in seine Jackentasche und bemerkte dann, dass sich darin ein Stück Papier befand, das er dort nicht hineingesteckt hatte. Es handelte sich um ein mehrfach geknicktes DIN-A4-Blatt mit einer Zeichnung. Sie zeigte eine große Trollfigur über einem darunter liegenden Strichmännchen, um dessen gelbe Haare rote Tropfen gemalt waren. Rundherum waren Bäume und Felsen skizziert.
„Wollt ihr mich zu einer Schnitzeljagd animieren?“, fragte Thorsten sein Team und hielt das Papierstück hoch.
Er blickte in irritierte Gesichter.
„Jemand hat mir diesen Zettel in die Jackentasche gesteckt. War das wer von euch?“, hakte der Teamleiter mit ernstem Unterton nach.
Er faltete den DIN-A4-Zettel auseinander und zeigte die Skizze in die Runde.
Kristin prustete: „Nicht dein Ernst! Du glaubst jetzt nicht an eine Tatortskizze oder willst uns hier dienstlich beschäftigen? Wir sind doch im Urlaub, oder?“
Thomas Schulte konnte es nicht lassen: „Huh, eine geheimnisvolle Karte. Was bekommt derjenige, der den Ort als Erster findet? Ich finde Schnitzeljagden cool.“
Thorsten blieb ernst. „Ich denke immer noch an den Mord in Oslo. Was ist, wenn es doch kein Zufall war? Was ist, wenn die Frau mit dem Rollator doch mit an Bord gekommen ist? Ich kann nicht sagen, wo mir jemand diesen Zettel zugesteckt hat. Vielleicht schon an Bord ...“
Nina griff im ironischen Analysemodus ein: „Wenn hier ein Mord skizziert worden ist, müsste die Phantom-Omi vor uns allen eine der ersten Fløibahnen genutzt haben und das samt Rollator. Dann hat sie hier oben irgendwo einen Mord begangen und muss in Windeseile diese Skizze gezeichnet haben, um sie dir auf dem Weg vom Schiff bis auf die Aussichtsplattform zuzustecken. Das ist mal etwas Besonderes für das Guinnessbuch.“
Die Psychologin, Carlotta, versuchte zu beschwichtigen: „Was haltet ihr davon, wenn wir den Rundweg wie geplant gehen, im Restaurant einkehren und ein paar Souvenirs kaufen? Sollten wir dann auf dem Weg eine Leiche finden, können wir wenigstens gestärkt direkt in eine Fallanalyse einsteigen. Was meint ihr dazu?“
Thorsten gab sich geschlagen, behielt die Skizze aber in der Hand. Die Urlauber orientierten sich an einem Wegweiser, der den Panoramaweg aufzeigte, aber auch einen Hinweis auf „Trollskogen“, den Wald der Trolle, der in einem Pfad nur leicht hinter einem großen Spielplatz vom Rundweg abzweigte. Dieser Umstand allein ließ Thorsten nicht stutzen, aber über dem Hinweisschild zum Trollwald hing ein roter Stringtanga, der wie eine Fahne im Wind wehte.
Maik Holzner hatte sich bislang zurückgehalten, nun kommentierte er dieses skurrile Bild aber: „Uuih, ein neuer Hinweis. Was das wohl für Trolle sind, die mit roten Stringtangas werben?“
Thorsten war genervt. „Okay, Leute, bleibt ihr auf dem Hauptweg, ich schaue mir den Trollwald mal näher an und komme euch dann wieder entgegen.“
„Na, Chef, ob du das alles in der Zeit schaffst? Wer weiß, was dich dort erwartet. Aber keine Angst, wir petzen nicht“, frotzelte Thomas Schulte mit einem Augenzwinkern.
Thorsten schoss ein Foto von dem Wegweiser samt Tanga und ging zielstrebig in Richtung Trollskogen. Die Psychologin hatte Mitleid und schloss sich ihm an.
Das Quartett der anderen Profiler flötete: „Bis nachher, viel Erfolg!“, und folgte dem Hauptweg.
Carlotta und Thorsten passierten den Spielplatz, auf dem meist junge Eltern und Großeltern mit ihren Kindern und Enkeln beschäftigt waren. Zum Trollwald führte ein felsiger Weg durch einen Birkenwald. Der hügelige Boden war mit Moos bedeckt. Es roch muffig, und der Resttau zog zu einem nebligen Dunst auf. Ein echter Zauberwald. An einer Birke war ein Trollkopf befestigt, über dem ein Pfeil weiter in den Wald zeigte. An diesem Wegweiser hing völlig deplatziert ein roter BH. Während Thorsten wieder zur Kamera griff und mehrfach auslöste, wurde es der Psychologin doch mulmig, denn hier waren sie allein. In der Ferne nahmen sie dunkle Schatten auf den schmalen Wegen wahr. Carlotta hoffte, es waren andere Touristen und keine Trolle, die sie langsam einkreisten. Hier hätte man sofort die Szene eines Harry Potter Films drehen können, ohne etwas zu verändern. Einzig der BH störte dieses Bild.
Thorsten klappte die Zeichnung auseinander. Sie schauten auf einen Baumstamm, auf den der Oberkörper eines weiblichen Trolls mit Brustansätzen gezeichnet war. Sie hörten von Ferne das lachende Schreien eines Kindes, das wohl gejagt wurde. Hoffentlich nur zum Spaß von seinem Vater oder Opa.
Durch den Dunst entdeckten sie abseits des Weges in den Felsen schemenhaft einen etwa drei Meter hohen Stamm, der nach oben nicht dünner, sondern dicker wurde. Nur allmählich konnte man den schmalen Bereich als Hüfte, den darüber als Brust und darauf den überdimensionierten Kopf mit den riesigen Ohren erkennen. Das war der Troll von der Skizze.
Sie gingen vorsichtig weiter. Der Dunst löste sich mehr und mehr auf, je näher sie der Gestalt kamen. Erst jetzt konnten die Psychologin und der Profiler erahnen, dass sich etwas Helles an den Stamm anlehnte. Beim Näherkommen erkannten sie den nackten Leichnam einer jungen Frau mit langen, blondlockigen Haaren. Der gesamte blasse Körper war aufgrund von Kopf- und Halswunden blutüberströmt, wobei sich eine große Blutlache am Boden zwischen den weit gespreizten Beinen gebildet hatte. Thorsten verharrte und stoppte Carlotta, die näher an den toten Körper herantreten wollte.
„Bleib bitte hier. Wir können nichts mehr für sie tun und wollen die gesamten Spuren nicht zerstören. Rufst du bitte das Team an? Sie sollen sich an den Hinweisschildern aufstellen und den BH und Stringtanga so lange sichern, bis die Kollegen aus Bergen übernehmen. Ich versuche, die beiden Kollegen aus Oslo zu erreichen. Es ist jetzt sicher angebracht, dass sie in Bergen bleiben.“
Der OFA-Leiter hatte sich die Mobilfunknummer von Politibetjent 1 Larsen geben lassen und konnte sie noch in der Polizeidienststelle in Bergen erreichen.
„Hallo, Frau Larsen, auch wenn Sie es mir nicht sagen dürfen. Ist es richtig, dass die skalpierte Frau im Botanischen Garten in Oslo erstochen und nackt aufgefunden worden ist?“, fragte er die Ermittlerin direkt.
Larsen wollte eigentlich ausweichen, fühlte sich anhand der Stimme des deutschen Profilers allerdings veranlasst, ehrlich mit einem kurzen „Ja!“ zu antworten.
„Dann sollten Sie Ihren Heimweg abbrechen und mit vollem Programm in den Trollskogen kommen. Wir haben soeben eine nackte Frauenleiche gefunden, und das sind mir ein paar Zufälle zu viel“, forderte er unmissverständlich.
„Thooooorsten!“, schrie Carlotta plötzlich. „Da war jemand im Gebüsch und hat uns beobachtet!“ Sie zeigte auf eine kleine Schonung, etwa 100 Meter oberhalb des Leichenfundortes. Thorsten konnte noch einen Schatten wahrnehmen, der schnell durch das Unterholz rannte und versuchte, den Berg hinaufzusprinten. Er selbst schleppte den großen Profirucksack mit der gesamten Fotoausrüstung immer noch auf dem Rücken. Der war so befestigt, dass er bei Exkursionen nicht aus seiner Position rutschte, was sich nun rächte. Ein kurzes Abstreifen des etwa 15 Kilogramm schweren Equipments gelang ihm während des Sprints bergauf nicht. Thorsten fluchte über das üppige Frühstück und die Leckereien der ersten Tage auf See und musste die Verfolgung schwer atmend abbrechen. Dann alarmierte er umgehend sein Team.
„Achtet auf eine Person, die von uns aus auf euch in Richtung Bergstation zukommt und vielleicht Blut am Körper und der Kleidung hat. Hier ist gerade wer vom Tatort geflüchtet.“
Kristin erfragte eine Beschreibung. Geschlecht, Größe, Statur, Bekleidung? „Sorry, die Person war zu weit weg“, bedauerte Thorsten, was seine Kollegin nur mit „Klasse! Wir halten die Augen auf“ beantwortete. Es klang resigniert.
Thorsten untersuchte den Bereich um den Ort der ersten Sichtung und war nicht erstaunt, als er im Unterholz weitere Bekleidung mit deutlichen Blutantragungen fand.
Das Viererteam hatte sich aufgeteilt. Nina und Kristin sicherten die beiden Wegweiser mit der Unterwäsche. Die Jungs beobachteten die Rückkehrer zur Bergstation, wobei Thomas mit seinem Handy versuchte, möglichst viele Personen zu videografieren, die später als Zeugen oder auch Tatverdächtige ermittelt werden konnten.
Über einen Versorgungsweg zum Restaurant erreichten ein Notarzt und mehrere Einsatzfahrzeuge der Polizei den Bereich der Aussichtsplattform. Maik Holzner begrüßte umgehend Ingrid Larsen und Magnus Andersen, die aus einem Fahrzeug der Spurensicherung stiegen.
„Hallo, Herr Holzner, wo liegt die Frau?“, fragte sie hektisch.
„Irgendwo oben im Trollwald. Wir waren auch noch nicht da. Herr Büthe hat gerade eben noch eine verdächtige Person verfolgt. Sie sollten sämtliche Leute überprüfen, bevor Sie zurück ins Tal fahren. Wir haben die Rückkehrer bislang nur videografieren können. Frau Bäumer und Frau Bachmann sichern einen BH und einen Stringtanga an zwei Hinweisschildern zum Trollwald. Vielleicht kann die Unterwäsche dem Opfer zugeordnet werden und diente als Wegweiser zum Tatort“, vermutete Maik Holzner.
„Okay, Maik, ich werde alles veranlassen. Wir müssen jetzt erst mal zum Tatort. Bis gleich“, verabschiedete sich die junge Ermittlerin.
Nach einem weiteren Telefonat mit den Politibetjents aus Oslo rückten nach und nach Ermittler aus Bergen, Kriminaltechniker und ein Rechtsmediziner an. Der alarmierte Notarzt zog sich nach einem Blick auf den Leichnam schon von Weitem zurück. Hier war für ihn nichts mehr zu veranlassen.
Der Tatort wurde mit rot-weißem Flatterband abgesperrt. An der Trollfigur und dem unmittelbaren Leichenfundort wurde ein heller Pavillon aufgestellt, in dem die Rechtsmediziner und Kriminaltechniker ungestört mit ihren eigenen Lichtquellen arbeiten konnten. Weitere Spezialisten der Spurensicherung dokumentierten die Ablage und den Fundort der aufgefundenen Opferbekleidung in der Schonung oberhalb der Trollstatue. Dort waren eine Jeans, eine Bluse und eine leichte Windjacke sowie ein paar blaue Sneakers abgelegt worden, an denen großflächige Blutantragungen vorhanden waren. Unterwäsche oder eine Tasche mit persönlichen Gegenständen fanden sich hier und im weiteren Umfeld nicht.
Während die Spezialisten vom Hordaland Politidistrikt Thorsten Büthe und die Beamten des LKA Niedersachsen vor Ort zu ihren Beobachtungen befragten, hörten sie einen lauten Aufschrei aus dem Tatortzelt: „Jævla dritt!!“, und alle schreckten auf.
„Was haben sie da gerade gerufen?“, fragte der OFA-Leiter seinen Kollegen aus Oslo, Magnus Andersen.
„Das heißt auf Deutsch in etwa ‚verdammte Scheiße‘. Ich geh mal nachsehen.“
Der Leichnam lehnte sitzend mit dem Rücken an dem Stamm der Trollfigur, beide Beine des nackten Körpers waren weit gespreizt und der rasierte Vaginalbereich des Opfers war frei einsehbar.
Die Rechtsmediziner konnten eine massive Schnittverletzung am Hals des Opfers feststellen. Vermutlich waren die Halsvenen und -arterien, Luft- und Speiseröhre durchtrennt worden, was die starke Blutung verursacht haben dürfte. Als die Experten den Leichnam auf dem Rücken untersuchten und den Körper nach vorn ziehen wollten, stockte selbst den erfahrenen Medizinern und Kriminaltechnikern der Atem. So etwas hatten selbst sie noch nicht gesehen.
Durch die Lageveränderung blieb der lange blonde Haarschopf an dem Stamm des Trolls zurück und auf dem Kopf des Leichnams offenbarte sich eine großflächige blutige Wunde. Dem Opfer war die Kopfhaut samt Haaren entfernt und der abgetrennte Skalp mit einem großen Fahrtenmesser in das Holz der Statue gerammt worden.
Ingrid Larsen und Magnus Andersen blickten sich fassungslos an. Diese Tötungsart kam ihnen aus Oslo sehr bekannt vor. Sie stimmten sich kurz ab, wiesen telefonisch ihren Vorgesetzten, Inger Olsen, in die neue Lage ein und traten auf den deutschen Profiler zu.
„Gilt das Angebot einer Kooperation noch? Wir würden es jetzt gern annehmen.“
Maik und Thomas hatten sich von ihrem Beobachtungsposten zurückgezogen, als die Polizei aus Bergen mit den Überprüfungen der Personen begann, die ins Tal abfuhren.
In Höhe des Spielplatzes stieß Thomas Maik mit seinem Ellenbogen in die Seite.
„Guck dir den mal an“, sagte er und blickte zu einem jungen Mann, der fast wie ein Troll gekleidet war und am Sandkasten auf und ab stolzierte, als würde er über einen Laufsteg bei Germany’s next Topmodel flanieren. Dabei präsentierte er eine schrill-bunte Handtasche, die vor seinem Bauch wie ein Fremdkörper hin und her wippte.
„Die Tasche muss lebbben! Weißt du noch, Tommi?“, ulkte Maik.
Der Troll war fast zwei Meter groß, wirkte nicht gerade sportlich, aber sehr kräftig. Er sang einen lauten melodischen Song in norwegischer Sprache und zog nicht nur amüsierte Blicke der Touristen auf sich. Eltern nahmen ihre kleinen Kinder auf den Arm und waren unsicher, ob von dem Troll nicht auch eine Gefahr ausging.