Kitabı oku: «Charles Dickens», sayfa 14
Seitdem hätte der Mann oft mit ihm gesprochen und ihn gefragt, ob er in der Nacht schlafen könnte, wie er Kälte und Hunger vertrüge und ob er sich den Tod wünsche, und ähnliche seltsame Fragen. Und manchmal hätte er im Vorbeigehen zu ihm gesagt: »Ich bin heute so arm wie du, Jo.« Wenn er aber Geld gehabt, habe er immer welches gegeben – und sehr gern. (Wie der Knabe fest überzeugt sei.)
»Er war sehr gut gegen mich.« Jo wischt sich mit dem zerlumpten Ärmel die Augen. »Wann i n so als a Toter daliegen siech, möcht i, er könnts hören. Er war immer so gut gegen mich.«
Wie er die Treppe hinunterschlottert, drückt ihm Mr. Snagsby, der im Hinterhalt auf ihn wartet, eine halbe Krone in die Hand.
»Wenn ich einmal mit meiner kleinen Frau – ich meine mit einer Dame – an deinem Straßenübergang vorbeikomme«, sagt Mr. Snagsby, den Finger an der Nase, »dann kennst du mich nicht, hörst du!«
Die Geschworenen bleiben noch eine Zeitlang in ernstem Gespräch in der Nähe der »Sonne«. Später findet man ein halbes Dutzend von ihnen in eine Wolke von Tabakqualm gehüllt, die das Gastzimmer der »Sonne« durchräuchert; zwei trollen nach Hampstead und vier kommen überein, da halber Preis ist, ins Theater zu gehen und den Abend mit Austern zu beschließen. Der kleine Swills wird allerseits traktiert. Gefragt, was er von der Verhandlung halte, nennt er sie einen »krumpen Start« – er ist berühmt wegen seines Witzes. Der Wirt der »Sonne« empfiehlt den kleinen Swills, als er sieht, wie populär er ist, höchlichst den Geschworenen und dem Publikum und beteuert, daß er in charakteristischen Liedern nicht seinesgleichen habe und für seine Charaktergarderobe einen ganzen Wagen brauche.
So verschmilzt allmählich die »Sonne« in die schattige Nacht und strahlt gewaltig im Gaslicht. Die Stunde der Harmonischen Gesellschaft naht. Der Gentleman mit dem hohen künstlerischen Ruf setzt sich in den Präsidentenstuhl vis à vis dem kleinen Swills mit dem roten Gesicht; seine Freunde scharen sich um sie und unterstützen das Talent ersten Ranges. Im Zenit des Abends sagt der kleine Swills:
»Gentlemen, wenn Sie mir erlauben, will ich eine kurze Beschreibung einer wirklichen Szene aus dem Löben, deren Zeuge ich heute war, versuchön.« Großer Beifall und Ermunterung werden ihm. Er verläßt das Zimmer als Swills und kommt als Totenbeschauer wieder herein und sieht ihm nicht im geringsten ähnlich; er beschreibt die Totenschau mit Zwischenspiel auf dem Pianoforte mit dem Refrain: Tippy toi li doll, tippy toi lo doll, tippy toi li doll, Dee! den er dem Totenbeschauer in den Mund legt.
Das Klaviergeklimper schweigt endlich, und die harmonischen Freunde sinken in ihre Kissen.
Ruhe herrscht um den Einsamen, der jetzt in seiner letzten irdischen Behausung liegt, bewacht während der paar stillen Nachtstunden von den riesigen Augen der Fensterläden. Wenn die Mutter, an deren Busen der Verlassene einst als Kind geruht, die Augen empor zu ihr gerichtet und das weiche Händchen, kaum wissend, wie es den Nacken, zu dem es emporstrebte, umfassen sollte, ihn mit prophetischem Blick hier hätte liegen sehen können, wie unmöglich wäre ihr die Vision erschienen.
Wenn in schöneren Tagen das jetzt erloschene Feuer in seiner toten Brust einst für ein Weib glühte, das sein Bild im Herzen trug, wo ist dieses Herz in dieser Stunde, wo seine Asche die letzte Nacht über der Erde weilt?
Bei Mr. Snagsby in Cook's Court herrscht heute nacht keine Ruhe. Dort mordet Guster den Schlaf, indem sie, wie Mr. Snagsby selbst zugibt – um nicht durch die Blume zu sprechen –, nicht ein Mal, sondern zwanzig Mal in Krämpfe fällt. Die Ursache ist, daß Guster ein empfindsames Herz und ein empfängliches Etwas im Busen trägt, das ohne Tooting und ihren Schutzheiligen vielleicht zur Einbildungskraft ausgewachsen wäre. Sei dem, wie es wolle, Mr. Snagsbys Bericht über die Totenschau hat zur Teezeit einen so überwältigenden Eindruck auf sie gemacht, daß sie um die Stunde des Abendessens, einen fliegenden holländischen Käse voraussendend, in die Küche stürzt und einen Anfall von ungewöhnlicher Dauer bekommt, der nur aufhört, um sogleich wieder von neuem anzufangen, wobei sie die kurzen Zwischenräume dazu benützt, Mrs. Snagsby in rührendem Tone zu bitten, ihr nicht zu kündigen, wenn sie wieder zu sich käme, und mit Aufforderungen an das ganze Haus ausfüllt, sie auf die Steinfliesen zu legen und ruhig zu Bett zu gehen. Und Mr. Snagsby sagt, als er endlich den Hahn in der kleinen Milchwirtschaft in Cursitor Street in seine selbstlose Ekstase über das Erscheinen des Tageslichts ausbrechen hört, mit einem langen Atemzuge, obgleich er sonst der geduldigste aller Menschen ist:
»Mistviech, ich hoffte schon, du seist tot.«
Warum der enthusiastische Vogel sich in so unerhörter Weise anstrengt, über etwas zu krähen, was für ihn nicht von der mindesten Bedeutung sein kann, ist schließlich seine Sache. Krähen doch auch Menschen bei verschiedenen öffentlichen Triumphgelegenheiten, ohne daß es sie etwas angeht. Jedenfalls, und das genügt, der Tag bricht an, der Morgen und der Mittag kommen.
Der Emsige und Erfahrene, der in dieser Eigenschaft richtig in der Morgenzeitung gestanden hat, erscheint mit seinem Gefolge von Armenhausbewohnern bei Mr. Krook und geleitet die Leiche unsres dahingeschiedenen lieben Bruders auf einen rings von Häusern umgebenen, pesthauchenden und leichenüberfüllten Kirchhof, wo den Leibern unsrer noch nicht dahingeschiedenen geliebten Brüder und Schwestern bösartige Krankheiten mitgeteilt werden, dieweil unsre andern gewissen geliebten Brüder und Schwestern, die sich auf Amtshintertreppen herumtreiben und leider noch nicht von uns geschieden sind, es sich sehr wohl sein lassen.
In ein abscheuliches Stück Boden, der einen Türken mit Grauen erfüllen, über den ein Kaffer schaudern würde, bringen sie unsern dahingeschiedenen lieben Bruder, auf daß er ein christliches Begräbnis empfange.
Wo Häuser von allen Seiten herabsehen, außer wo ein kleiner Tunnel von einem Hofe aus nach dem eisernen Gitter seinen Schlund öffnet, wo jede Verkommenheit des Lebens dicht neben den Toten und jedes giftige Element des Todes dicht neben dem Leben sich die Hand reichen, da versenken sie unsern lieben Bruder einen oder zwei Fuß tief in die Erde. Hier säen sie ihn in Fäulnis, damit er in Fäulnis wieder auferstehe als rächendes Gespenst am Krankenbett; ein beschämendes Zeugnis für künftige Zeiten, wie Zivilisation und Barbarei auf dieser prahlerischen Insel Arm in Arm gingen.
Komm, Nacht! Komm, Finsternis! Ihr könnt auf einem solchen Platz wie diesem nicht zu bald kommen und nicht lange genug bleiben! Kommt, ihr flackernden Lichter in den Fenstern scheußlicher Häuser und ihr Missetäter dahinter! Recht so, Gasflamme, daß du so trag über dem Eisengitter brennst, auf das die vergiftete Luft ihre schlüpfrige Hexensalbe niederschlägt! Ganz gut, daß du jedem Vorübergehenden zurufst: Sieh her!
Bei Einbruch der Dunkelheit kommt schlotternden Ganges eine Gestalt in den Tunnelhof geschlichen, an die Außenseite des eisernen Gittertors. Sie faßt das Tor mit den Händen und schaut zwischen den Stäben hindurch und bleibt so stehen eine kleine Weile lang.
Mit einem alten Besen, den sie auf der Schulter trägt, kehrt sie die Stufe und fegt den Torweg rein. Sie tut das sehr geschäftig und geschickt, blickt wieder eine kleine Weile hinein und geht dann.
Jo, bist du's? Gut, gut! Wenn du auch ein zurückgewiesener Zeuge bist, der »nicht genau sagen kann«, was mit ihm eine mächtigere Hand als die der Menschen vorhat, steckst du doch nicht ganz in irdischer Finsternis. Es ist etwas wie ein ferner Lichtstrahl in der Begründung, die du murmelnd dafür angibst:
»Er is immer so gut gegen mich gwesen.«
12. Kapitel
Auf der Lauer
Endlich hat es aufgehört zu regnen in Lincolnshire, und Chesney Wold hat sich wieder ein Herz gefaßt. Mrs. Rouncewells Kopf steckt voll wirtschaftlicher Sorgen, denn Sir Leicester und Mylady kommen von Paris nach Hause. Die »Fashionable« hat es entdeckt und teilt die frohe Botschaft dem umnachteten England mit. Sie hat auch entdeckt, daß sie einen neuen glänzenden und auserwählten Kreis der élite der beau monde (die fashionablen Zeitungen sind schwach im Englischen und riesenstark im Französischen) auf dem historischen und gastlichen Familiensitz in Lincolnshire um sich sehen werden.
Zu Ehren der glänzenden und vornehmen Gesellschaft und nebenbei auch Chesney Wolds wegen ist der eingestürzte Brückenbogen im Park ausgebessert, und das Wasser, das sich jetzt in die gebührenden Schranken zurückgezogen hat und wieder anmutig überbrückt wird, macht sich in der Aussicht von dem Hause aus recht hübsch. Der klare, kalte Sonnenschein glitzert im raschelnden Wald und sieht billigend zu, wie der scharfe Wind die Blätter verstreut und das Moos trocknet. Er gleitet hinter dem Schatten der Wolken über den Wald hin und jagt sie den ganzen Tag lang und kann sie doch nicht erhaschen. Er sieht zu den Fenstern herein und bringt auf den Ahnenbildern Streifen und Flecken von Licht an, von denen die Maler sich nie haben träumen lassen. Querüber das Bild von Mylady über dem Prachtkamin malt er einen breiten Lichtschrägbalken, der von links hinab in den Herd fährt und ihn zu zerspalten scheint.
Durch denselben kalten Sonnenschein und denselben scharfen Wind fahren Mylady und Sir Leicester in ihrem Reisewagen heimwärts; Myladys Kammerzofe und Sir Leicesters Lakai sitzen in zärtlicher Gemeinschaft hinten. Unter beträchtlichem Geklingel und Peitschenknallen und zahlreichem Sichaufbäumen von zwei sattellosen Pferden und zwei Zentauren mit glasierten Hüten, Stulpenstiefeln und fliegenden Mähnen und Schweifen rasseln sie aus dem Hofe des Hotels Bristol auf den Place Vendôme hervor und traben zwischen der Sonnenschein- und schattenwechselnden Kolonnade der Rue de Rivoli und dem Garten des verhängnisreichen Palastes eines kopflosen Königspaars über den Place de la Concorde und die Elysäischen Felder durch das Sternentor aus Paris hinaus.
Um nur die Wahrheit zu sagen, sie können gar nicht schnell genug abreisen, denn selbst hier hat sich Lady Dedlock zu Tode gelangweilt. Konzert, Matinees, Oper, Theater, Spazierfahrt, nichts ist Mylady neu unter dieser abgenutzten Sonne. Erst vorigen Sonntag, wo arme Teufel fröhlich waren innerhalb der Stadt und in dem Palastgarten unter verschnittenen Bäumen und den Statuen mit ihren Kindern spielten oder auf den Elysäischen Feldern, noch elysäischer geworden durch künstliche Hunde und hölzerne Pferde, in Gassenbreite spazieren gingen oder draußen vor dem Tor um ganz Paris einen Kreis zogen von Tanzen, Liebelei, Weintrinken, Tabakrauchen, Gräberbesuchen, Billard-, Karten- und Dominospielen und unter Quacksalbern und anderm toten und lebendigen Abschaum, – erst vorigen Sonntag hätte Mylady in der Einsamkeit der Langweile und in den Klauen des Riesen Verzweiflung beinahe ihre eigne Zofe wegen deren guter Laune gehaßt.
Daher kann sie Paris jetzt nicht schnell genug verlassen. Seelische Ermüdung liegt vor ihr und hinter ihr – ihr Ariel hat einen Gürtel davon um die ganze Erde gelegt, den niemand lösen kann. Aber das einzige, wenn auch unzulängliche Heilmittel ist, immer von dem letzten Ort an einen andern zu fliehen. Also weg mit Paris! Man vertausche es mit endlosen Alleen und Queralleen winterlicher Bäume. Und wenn man wieder zum Vorschein kommt, so sei es einige Meilen weiter, wo das Sternentor nur mehr ein weißer, sonnenglänzender Fleck ist und die Stadt eine formlose, dunkle Masse in der Ebene, aus der sich zwei dunkle, viereckige Türme erheben, auf denen Licht und Schatten auf- und abwärts steigen wie die Engel in Jakobs Traum.
Sir Leicester ist zumeist in ruhevoller, selbstgefälliger Gemütsverfassung und langweilt sich selten. Wenn er sonst nichts andres zu tun hat, kann er immer seine eigne Größe betrachten. Es bedeutet eine große Annehmlichkeit für einen Mann, ein so unerschöpfliches Gebiet zu haben. Nachdem er seine Briefe gelesen hat, legt er sich in eine Wagenecke zurück und stellt Betrachtungen über seine Wichtigkeit in der »Gesellschaft« an.
»Sie haben diesen Morgen ungewöhnlich viel Briefe bekommen«, sagt Mylady nach einer langen Pause. Sie ist müde vom Lesen. Sie hat während der letzten zwanzig Meilen beinahe eine ganze Seite gelesen.
– Es steht aber nichts drin. Überhaupt nichts. –
»Ich glaube vorhin einen von Mr. Tulkinghorns langen Ergüssen gesehen zu haben.«
»Mylady sehen alles«, sagt Sir Leicester voll Bewunderung.
»Ach«, seufzt Mylady. »Er ist der langweiligste aller Menschen.«
»Er sendet mir – ich muß Mylady wirklich um Verzeihung bitten – eine Botschaft für Sie«, sagt Sir Leicester, sucht den Brief aus den übrigen heraus und öffnet ihn.
»Wir machten gerade Halt, um die Pferde zu wechseln, als ich an sein Postskript kam, und deswegen vergaß ich. Ich bitte um Entschuldigung.
Er schreibt...« Sir Leicester braucht so lange, sein Augenglas herauszunehmen und sich damit zurechtzufinden, daß Mylady eine etwas gereizte Miene annimmt. »Er schreibt hinsichtlich des Wegerechts... Ich bitte um Verzeihung, das war es nicht. Er schreibt... Ja! Hier ist's. Er schreibt: 'Ich bitte, mich Mylady, der, wie ich hoffe, die Luftveränderung wohlgetan hat, hochachtungsvoll zu empfehlen. Wollen Sie mir die Gunst erweisen, ihr zu sagen, da es vielleicht von Interesse für sie ist, daß ich ihr bei ihrer Rückkunft etwas in bezug auf die Person mitzuteilen habe, die das Affidavit in dem Kanzleiprozeß, das ihre Aufmerksamkeit so sehr erregte, kopiert hat. Ich habe sie gesehen.'«
– Mylady, vorwärts gebeugt, blickt zum Fenster hinaus. –
»So lautet die Nachricht«, schließt Sir Leicester.
»Ich möchte ein wenig zu Fuß gehen«, sagt Mylady plötzlich und blickt immer noch zum Fenster hinaus.
»Zu Fuß gehen?« wiederholt Sir Leicester in einem Ton des Erstaunens.
»Ich möchte ein wenig zu Fuß gehen«, wiederholt Mylady mit nicht mißzuverstehender Deutlichkeit. »Bitte, den Wagen halten zu lassen.«
Der Wagen hält. Der zärtliche Bediente springt vom Rücksitz, öffnet den Schlag und klappt den Wagentritt herunter, einer ungeduldigen Handbewegung Myladys gehorsam. Mylady steigt so rasch aus und geht so schnell, daß Sir Leicester trotz peinlichster Höflichkeit außerstande ist, ihr den Arm zu reichen, und zurückbleibt. Eine oder zwei Minuten verstreichen, ehe er sie einholt. Sie lächelt, sieht sehr schön aus, nimmt seinen Arm, geht ein paar hundert Schritt, ist sehr gelangweilt und nimmt ihren Sitz im Wagen wieder ein.
Das Gerassel und Geklapper wird den größten Teil von drei Tagen unter mehr oder weniger Schellengeklingel und Peitschenknallen, mehr oder weniger Aufbäumen der Zentauren und sattellosen Pferde fortgesetzt.
Die altadlige Höflichkeit, mit der sich das Ehepaar behandelt, bildet in den Hotels, in denen es absteigt, den Gegenstand allgemeiner Bewunderung.
»Wenn auch Mylord ein wenig alt für Mylady ist«, sagt Madame, die Wirtin zum »Goldenen Affen«, »und eigentlich ihr zärtlicher Vater sein könnte, so sieht man doch auf den ersten Blick, daß sie sich lieben.«
Man sieht, wie Mylord in seinem weißen Haar, den Hut in der Hand, Mylady aus dem Wagen und in den Wagen hilft. Man sieht, wie Mylady Sir Dedlocks Höflichkeit anerkennend hinnimmt, indem sie ihr anmutiges Haupt neigt und ihm die Fingerspitzen ihrer so vornehmen Hand überläßt! Es ist hinreißend!
Das Meer weiß große Männer nicht zu würdigen und schüttelt sie herum wie unbedeutende Plebejer. Es pflegt stets hart auf Sir Leicester einzuwirken und auf seinem Gesicht grüne Flecken wie auf Salbeikäse hervorzubringen und in seiner aristokratischen Konstitution erschreckliche Revolutionen zu verursachen. Das Meer bedeutet für ihn das Radikale in der Natur. Doch endlich, nach einer kurzen Rast der Erholung, bändigt seine Würde auch den Ozean, und er reist mit Mylady weiter nach Chesney Wold und übernachtet nur einmal in London auf dem Wege nach Lincolnshire.
Durch denselben kalten Sonnenschein, der immer kälter wird, je mehr sich der Tag neigt, und durch denselben scharfen Wind, der immer schärfer wird, wie die einzelnen Schatten der kahlen Bäume im Wald zusammenfließen und der Geisterweg an seiner westlichen Ecke von einer Feuersäule am Himmel erhellt wird und sich auf die kommende Nacht gefaßt macht – fahren sie in den Park ein.
Die Krähen in ihren luftigen Häusern in der Ulmenallee scheinen die Frage zu besprechen, wer in dem unten dahinrollenden Wagen sitzt; einige scheinen ganz einverstanden, daß Sir Leicester und Mylady angekommen sind, andre streiten mit den Unzufriedenen, die es nicht zugeben wollen; dann sind alle einig, die Frage als erledigt zu betrachten, plötzlich brechen sie aber wieder in heftigen Streit aus, aufgereizt durch einen hartnäckigen, verschlafenen Vogelkameraden, der noch ein letztes widerspruchsvolles Krächzen hören ließ.
Der Reisewagen kümmert sich nicht darum und rollt auf das Haus zu, wo durch die Fenster warme Feuer scheinen, aber nicht genug an Zahl und nicht so hell, um der dunkeln Masse der Front den Anstrich des Bewohntseins zu geben. Aber der glänzende und auserwählte Kreis wird das bald ändern.
Mrs. Rouncewell steht bereit und erwidert Sir Leicesters gewohnten Händedruck mit einem tiefen Knicks.
»Wie geht's Ihnen, Mrs. Rouncewell? Es freut mich, Sie zu sehen.«
»Ich hoffe, ich habe die Ehre, Sie in bester Gesundheit bewillkommnen zu dürfen, Sir Leicester.«
»In bestem Wohlbefinden, Mrs. Rouncewell.«
»Mylady sieht ausgezeichnet wohl aus«, sagt Mrs. Rouncewell mit einem zweiten Knicks.
Mylady gibt, ohne viel Worte zu verschwenden, zu verstehen, daß sie sich so langweilig wohl befinde, wie sie nur hoffen kann.
Rosa steht im Hintergrund hinter der Wirtschafterin, und Mylady, die eine schnelle Beobachtungsgabe nicht verlernt hat, was sie auch sonst alles überwunden haben mag, fragt:
»Wer ist das Mädchen?«
»Eine junge Schülerin von mir, Mylady – Rosa.«
»Kommen Sie her, Rosa!« Lady Dedlock winkt ihr fast mit einem Schein von Interesse. »Wissen Sie, wie hübsch Sie sind, mein Kind?« fragt sie und berührt die Schulter des Mädchens mit zwei Fingern.
Sehr beschämt sagt Rosa: »Nein, wenn Sie erlauben, Mylady!« und blickt empor und blickt wieder zu Boden, weiß nicht, wohin schauen, und sieht dadurch noch hübscher aus.
»Wie alt sind Sie?«
»Neunzehn, Mylady.«
»Neunzehn«, wiederholt Mylady gedankenvoll. »Nehmen Sie sich in acht, daß man Ihnen nicht mit Schmeicheleien den Kopf verdreht.«
»Ja, Mylady.«
Mylady berührt das Grübchen in der Wange des Mädchens mit ihren zarten behandschuhten Fingern und geht weiter bis an den Fuß der Treppenflucht, wo Sir Leicester ritterlich ihrer harrt. Ein alter Dedlock stiert aus einem Bilde, so groß wie im Leben und ebenso schläfrig, ratlos herunter, als ob er nicht wüßte, was er sich denken sollte... Wahrscheinlich ist das sein gewöhnlicher Geisteszustand gewesen schon in den Tagen der Königin Elisabeth.
Den ganzen Abend weiß Rosa in dem Zimmer der Wirtschafterin weiter nichts zu tun als das Lob Lady Dedlocks zu singen. Sie sei so leutselig, so anmutig, so schön, so elegant, habe eine so süße Stimme, und ihre Berührung durchzucke einen, daß man das Gefühl gar nicht los werden könne. Mrs. Rouncewell bestätigt das alles nicht ohne Stolz und ist nur hinsichtlich des Punktes Leutseligkeit nicht so ganz derselben Meinung. Mrs. Rouncewell weiß das nicht so ganz gewiß. Gott behüte, daß sie nur eine Silbe zum Nachteil irgend eines Mitglieds dieser hervorragenden Familie sagen sollte, und vor allem nicht über Mylady, der die ganze Welt zu Füßen liegt, aber wenn Mylady nur ein wenig freier sein wollte, nicht gar so kalt und zurückhaltend, meint Mrs. Rouncewell, würde sie leutseliger sein.
»Es ist fast schade«, setzt Mrs. Rouncewell hinzu, – fast, denn es würde an Gottlosigkeit grenzen, zu denken, es könnte in einer so ausdrücklich von der Vorsehung geschaffenen Einrichtung wie den Dedlocks etwas besser sein, als es ist – »daß Mylady keine Familie hat. Wenn sie eine Tochter hätte, eine erwachsene junge Dame, für die sie Interesse fühlte, so glaube ich, besäße sie die einzige Eigenschaft, die ihr zur Vollkommenheit noch fehlt.«
»Wäre dann vielleicht ihr Stolz nicht noch größer, Großmutter?« fragt Watt, der inzwischen zu Hause gewesen, aber gleich wieder zurückgekehrt ist, ein so guter Enkel ist er.
»Größer und am größten, mein Lieber«, verweist ihn die Haushälterin mit Würde, »sind Worte, die ich mir auf Mylady anzuwenden nicht erlauben darf, nicht einmal angewendet hören will.«
»Ich bitte um Entschuldigung, Großmutter. Aber sie ist doch stolz, nicht wahr?«
»Wenn sie stolz ist, so hat sie allen Grund dazu. Die Familie Dedlock hat stets Grund dazu.«
»Nun, so hoffe ich«, sagt Watt, »daß sie aus ihrem Gebetbuch eine gewisse Stelle, die wohl nur die gewöhnlichen Leute angeht, über Stolz und Hoffart ausstreicht. Entschuldige, Großmutter! Es war nur ein Spaß.«
»Sir Leicester und Lady Dedlock, mein Lieber, sind keine passenden Zielscheiben für Spaße.«
»An Sir Leicester ist jedenfalls nichts Spaßiges«, sagt Watt. »Er ist kein Springinsfeld, und ich bitte ihn demütig um Verzeihung. Ich hoffe, Großmutter, daß die Anwesenheit der Familie und ihrer Gäste für mich kein Hindernis bildet, noch ein paar Tage wie jeder andre Reisende im Gasthof zu bleiben.«
»Natürlich, nicht im mindesten.«
»Das freut mich, weil ich – weil ich ein unwiderstehliches Verlangen fühle, meine Bekanntschaft mit dieser schönen Nachbarschaft zu erweitern.«
Er sieht dabei zufällig Rosa an, die deshalb die Augen senkt und wirklich sehr verlegen ist.
Aber nach dem alten Aberglauben sollten Rosas Ohren brennen und nicht ihre frischen Wangen, denn Myladys Kammerzofe hält in diesem Augenblick mit erstaunlicher Energie eine lange Rede über sie.
Myladys Kammerzofe ist eine Französin von zweiunddreißig Jahren aus den südlichen Provinzen zwischen Avignon und Marseille; ein großäugiges, braunes Frauenzimmer mit schwarzem Haar, die ganz hübsch wäre ohne einen gewissen katzenhaften Zug um die Lippen und eine gewisse unangenehme Gespanntheit des Gesichtes, die den Mund zu gierig erscheinen und die Stirn zu sehr hervortreten läßt. Ihr Körperbau hat etwas unbeschreiblich Scharfes und Hageres und sie selbst eine eigne Art, lauernd aus den Augenwinkeln zu schielen, ohne den Kopf zu drehen, die sie sich besser schenken könnte, besonders, wenn sie bei übler Laune und in der Nähe von Messern ist. Trotz des guten Geschmacks in ihrer Kleidung und sonstigen Toilette stechen diese Eigenschaften so hervor, daß sie wie eine zwar sehr saubere, aber doch nicht vollständig gezähmte Wölfin herumzugehen scheint.
Sie ist in allen für ihre Stellung nötigen Kenntnissen wohl bewandert und spricht überdies die englische Sprache fast wie eine Engländerin, und es fehlt ihr daher nicht an Worten, um ihrem Zorn darüber, daß Rosa Myladys Aufmerksamkeit erregt hat, ausgiebig Luft machen zu können, und sie entströmen ihr während des Essens mit so ingrimmigem Hohn, daß der zärtliche Bediente, der ihr Gesellschaft leistet, sich geradezu erleichtert fühlt, als sie bei der Mehlspeise das Messer weglegt und wieder zum Löffel greift.
Hahaha! Sie, Hortense, ist seit fünf Jahren in Myladys Diensten, und diese hat sie sich immer zehn Schritt vom Leibe gehalten; aber die Puppe wird geliebkost!... Jawohl, geliebkost!... Kaum, daß Mylady angekommen ist! Hahaha! »Und wissen Sie, wie hübsch Sie sind mein Kind?« – »Nein, Mylady!« – Da hat sie Recht! »Und wie alt sind Sie, mein Kind?« »Und nehmen Sie sich in acht, daß man Ihnen nicht mit Schmeicheleienden Kopf verdreht.« O wie drollig! Es ist wirklich überwältigend.
Kurz, Mademoiselle Hortense kann es nicht verwinden, gibt sich tagelang bei Tisch selbst unter ihren Landsleuten und den Zofen, die mit der Schar von Gästen kommen, dem stillen Genuß dieses scherzhaften Themas hin – einem Genuß, der sich in der ihr eigentümlichen gemütvollen Weise durch eine noch größere Gespanntheit des Gesichts, noch schärfer zusammengepreßte Lippen und schielenden Blick ausdrückt. Ihre Vorliebe für solche Art Humor reflektiert sich häufig in Myladys Spiegeln, wenn Mylady nicht zugegen ist.
Sämtliche Spiegel im Hause sind übrigens jetzt in Tätigkeit. Viele von ihnen nach langer Ruhe. Es sehen aus ihnen schöne Gesichter hervor, albern lächelnde Gesichter, junge Gesichter, Gesichter von siebzig Jahren, die durchaus nicht alt sein wollen, die ganze Gesellschaft von Gesichtern, die ein oder zwei Januarwochen in Chesney Wold zubringen wollen und denen die fashionable Zeitung, dieser gewaltige Nimrod vor dem Herrn, mit Adlerblick von dem Tage an, wo sie in St. James in Sicht kommen, bis zu dem, wo sie der Tod niederhetzt, auf den Fersen ist.
Der Edelsitz in Lincolnshire ist lauter Leben. Bei Tage hört man Schüsse und Stimmen in den Wäldern, Reiter und Wagen beleben die Parkwege, Lakaien und Diener füllen das Dorf und das Wirtshaus. Des Nachts sehen die Fensterreihen, wenn man sie von fernen Waldlichtungen in dem langen Salon, wo Myladys Bild über dem großen Prachtkamin hängt, erblickt, aus wie eine Reihe Juwelen in schwarzer Fassung. Sonntags wird die kleine, kalte Kirche fast erwärmt von so viel hoher Gesellschaft, und der dumpfige Geruch des Dedlockstaubes geht ganz in zartem Parfüm unter.
Der glänzende und vornehme Kreis umfaßt nicht wenig Aufwand an Erziehung, Verstand, Mut, Ehre, Schönheit und Tugend, aber dennoch leidet er an einem kleinen Mangel – trotz seiner unermeßlichen Vorzüge. Was kann das sein?
Etwa Dandytum? Es ist kein König Georg IV. mehr da – wie schade –, um in der Dandymode den Ton anzugeben. Die steifgestärkten weißen Halsbinden, die Röcke mit kurzen Taillen, die falschen Waden, die Schnürleiber sind verschwunden. Es gibt keine Karikaturen solch weiblicher Exquisiten mehr, die in der Opernloge im Übermaß von Entzücken in Ohnmacht fallen und von andern zeremoniösen Geschöpfen vermittelst langhalsiger Riechfläschchen wieder zum Leben erweckt werden, kein Beau ist mehr da, der vier Männer braucht, die ihn in seine Buckskins schütteln, der zu allen Hinrichtungen geht, aber von Selbstvorwürfen gepeinigt wird, wenn er einmal eine ganze Erbse gegessen hat.
Aber ist vielleicht doch Dandytum in dem glänzenden und vornehmen Kreise vorhanden? Dandytum von einer schädlicheren Art als das von der Oberfläche verschwundene und mit weniger harmlosen Dingen beschäftigt, als mit gestärkten weißen Halstüchern wundervolle Knoten zu schürzen und die eigne Verdauung einzuschränken, Dinge, die einen vernünftigen Menschen eigentlich nichts angehen.
Jawohl, es ist nicht zu leugnen. Es sind in Chesney Wold in dieser Januarwoche einige Damen und Herren da von der neuesten Mode – in der Religion zum Beispiel –, eine Gesellschaft, die in geziert ergriffener Sehnsucht nach Gemütsbewegung im Verlauf einer kleinen oberflächlichen Plauderei ein für allemal festgestellt hat, daß es dem gemeinen Volk an Glauben überhaupt fehle.
Es gibt auch Damen und Herren hier von einer andern Mode, die nicht so neu, aber sehr elegant ist, und die überein gekommen sind, einen glatten Firnis über die Welt zu streichen, damit die rauhe Wirklichkeit nicht so in die Augen steche. Für sie muß alles nett sein und unaufdringlich. Sie haben herausgefunden, wo es beständig fehlt. Sie dürfen über nichts weinen und über nichts lachen. Sie dürfen sich nicht durch Ideen stören lassen – sogar die schönen Künste müssen ihnen in Puder und rückwärtsschreitend wie der Lordkammerherr aufwarten –, müssen die Putzmacher- und Schneidermodelle früherer Jahrhunderte anziehen und ganz besonders Sorge tragen, daß sie sich nicht von dem lebendigen Geist der Zeit beeinflussen lassen.
Da ist zum Beispiel Lord Boodle, der bei seiner Partei großen Ruf genießt, der erfaßt hat, was Staatsdienst heißt, und Sir Leicester Dedlock nach dem Diner ernsthaft versichert, er wisse wirklich nicht, wo die gegenwärtige Zeit hinaus wolle. Eine Debatte sei nicht mehr, was sie in früherer Zeit gewesen; das Unterhaus sei nicht mehr, was es früher gewesen. Selbst ein Kabinett sei jetzt ganz anders als früher. Er nehme mit Erstaunen wahr, daß, im Fall das gegenwärtige Ministerium gestürzt werden sollte, die Krone bei der Bildung eines neuen Kabinetts in ihrer Wahl auf Lord Coodle und Sir Thomas Doodle beschränkt sei – vorausgesetzt, daß der Herzog von Foodle nicht in einem Kabinett mit Goodle sitzen könne, was man nach dem Bruch infolge der Affäre Hoodle annehmen müsse. Wenn man nun das Ministerium des Innern und die Führung des Oberhauses Joodle überlasse, die Schatzkammer Koodle, die Kolonien Loodle und das Auswärtige Amt Moodle, was bleibe dann für Noodle? Den Vorsitz im Ministerrat könne man ihm nicht anbieten, der sei für Poodle reserviert. Die Domänen und Liegenschaften könne man ihm nicht anvertrauen, die langten kaum für Quoodle. Was folge daraus? Daß das Vaterland zugrunde geht. Und das leuchtet dem Patriotismus Sir Leicester Dedlocks ein, weil man keine Stelle für Doodle hat.
In andrer Hinsicht beweist Hochwohlgeboren William Buffy, Parlamentsmitglied, einem ihm gegenüber Sitzenden, daß der Untergang des Vaterlandes – über die Tatsache ist gewiß kein Zweifel, es handelt sich nur um die Form – Cuffy zuzuschreiben ist. Wenn man Cuffy, als er zuerst ins Parlament gewählt wurde, gebührend behandelt und ihn verhindert hätte, zu Duffy überzugehen, so würde man ihn mit Fuffy haben alliieren können, hätte die gewichtige Unterstützung eines so gewiegten Redners wie Guffy sich gesichert, wäre bei den Wahlen durch den großen Einfluß und Reichtum Huffys unterstützt worden, hätte für drei Grafschaften Juffy, Kuffy und Luffy ins Parlament gebracht und das Kabinett durch die Amtserfahrung und das geschäftliche Talent Muffys gekräftigt. Das wäre alles geschehen, anstatt daß man jetzt von der bloßen Laune Cuffys abhinge.