Kitabı oku: «Charles Dickens», sayfa 15
Über diesen Punkt und einige untergeordnete Fragen herrschen Meinungsverschiedenheiten. Aber es ist dem glänzenden und vornehmen Kreis vollkommen klar, daß es sich nur um Boodle und seinen Anhang und um Buffy und seinen Anhang handeln kann. Das sind die großen Schauspieler, für die allein die Bühne da ist. Allerdings ist auch noch das Volk da – eine gewisse große Menge von Überzähligen, die gelegentlich angeredet werden und für die Vivats und Hochs und den Chor wie auf der Theaterbühne reserviert sind –, aber Boodle und Buffy, ihre Anhänger und Familien, ihre Erben, Exekutoren, Administratoren und Kuratoren sind die gebornen ersten Helden, Direktoren und Regisseure, und sonst darf niemand auf den Brettern erscheinen.
Auch darin liegt vielleicht mehr Dandytum in Chesney Wold, als dem glänzenden vornehmen Kreis auf die Dauer guttun wird. Es ist bei den ruhigsten und höflichsten Kreisen genau so wie mit dem Kreise, den der Nekromant um sich zieht – man sieht sehr seltsame Erscheinungen sich außerhalb desselben bewegen. Aber mit dem Unterschied, daß Wirklichkeiten leichter als Phantome den Kreis durchbrechen können.
Chesney Wold ist jedenfalls übervoll; so voll, daß im Busen der schlechter untergebrachten Kammerzofen ein brennendes Gefühl der Zurücksetzung glimmt, das nicht auszulöschen ist.
Nur ein Zimmer steht leer. Es ist ein Turmzimmer der dritten Verdienstklasse, einfach aber behaglich ausgestattet, von altmodischem geschäftsmäßigem Aussehen. Es ist Mr. Tulkinghorns Zimmer, das niemals einem andern eingeräumt wird, da er zu jeder Zeit kommen kann.
Vorläufig ist er noch nicht da. In seiner stillen Art pflegt er bei schönem Wetter von dem Dorfe her durch den Park zu gehen, in diesem Zimmer zu erscheinen, als wenn er es nie verlassen hätte, einen Diener zu beauftragen, Sir Leicester seine Ankunft zu melden, falls man seiner bedürfen sollte, und zehn Minuten vor dem Diner im Schatten der Bibliothekstür aufzutauchen. Er schläft in seinem Turm mit dem klagenden Flaggenstock über denn Haupte, und vor seinem Fenster dehnt sich ein flaches, bleigedecktes Dach, wo man bei schönem Morgenwetter vor dem Frühstück seine schwarze Gestalt herumspazieren sehen kann wie eine gigantische Krähe.
Jeden Tag vor dem Diner sieht sich Mylady nach ihm in der Dämmerung der Bibliothek um. Aber er ist nicht da. Jeden Tag beim Diner wirft Mylady einen Blick nach dem untern Ende der Tafel und sucht den leeren Platz, der ihn erwarten würde, wenn er schon angekommen wäre; aber es ist kein leerer Platz da. Jeden Abend fragt Mylady gelegentlich ihre Zofe:
»Ist Mr. Tulkinghorn angekommen?«
Jeden Abend lautet die Antwort:
»Nein, Mylady, noch nicht.«
Eines Abends, während sich Mylady das Haar aufbinden läßt, versinkt sie nach dieser Antwort in tiefes Grübeln, bis sie im Spiegel neben ihrem sinnenden Gesicht ein paar scharf beobachtende dunkle Augen erblickt.
»Wollen Sie sich gefälligst um Ihre Obliegenheiten kümmern«, sagt Mylady zu dem Spiegelbild Hortenses. »Sie können ihre Schönheit bei einer andern Gelegenheit bewundern.«
»Pardon! Ich bewundere Myladys Schönheit.«
»Die brauchen Sie gar nicht zu bewundern«, sagt Mylady verweisend.
Endlich, eines Nachmittags, kurz vor Sonnenuntergang, als die bunten Gruppen, die während der letzten paar Stunden den Geisterweg belebten, sich zerstreut haben und nur Sir Leicester und Mylady noch auf der Terrasse verweilen, erscheint Mr. Tulkinghorn. Er nähert sich mit seinem gewohnten gemessenen Schritt, der niemals schneller und niemals langsamer wird. Er trägt seine übliche ausdruckslose Maske und verbirgt Familiengeheimnisse in jedem Glied seines Körpers und jeder Falte seines Anzugs. Ob wirklich seine ganze Seele den Großen der Erde gewidmet ist oder sich nur auf die Dienstleistungen, die er sich bezahlen läßt, beschränkt, ist sein persönliches Geheimnis. Er bewahrt es, wie er die Geheimnisse seiner Klienten bewahrt; er ist in dieser Sache sein eigner Klient und wird sich nie verraten.
»Wie geht es Ihnen, Mr. Tulkinghorn?« fragt Sir Leicester und streckt seine Hand aus.
Mr. Tulkinghorn befindet sich vollkommen wohl.
Sir Leicester und Mylady befinden sich ebenfalls sehr wohl. Alles höchst zufriedenstellend. Der Advokat geht, die Hände auf dem Rücken, neben Sir Leicester auf der Terrasse auf und ab. Mylady auf der andern Seite.
»Wir erwarteten Sie schon früher«, sagt Sir Leicester. Eine sehr gnädige Bemerkung. Das heißt soviel wie: Mr. Tulkinghorn, wir denken an Sie, selbst wenn Sie nicht hier sind und uns durch Ihre Anwesenheit an Ihre Existenz erinnern. Sie sehen, Sir, wir widmen Ihnen einen Teil unsrer Gedanken.
Mr. Tulkinghorn weiß das; er neigt das Haupt und sagt, er fühle sich außerordentlich verbunden.
»Ich wäre eher gekommen, wenn mich nicht die Prozesse zwischen Ihnen und Boythorn so sehr in Anspruch genommen hätten.«
»Ein sehr zügelloser Charakter«, bemerkt Sir Leicester mit Strenge. »Ein außerordentlich gefährlicher Mann für die menschliche Gesellschaft. Ein Mann von sehr niedriger Denkungsweise.«
»Er ist starrköpfig«, bestätigt Mr. Tulkinghorn.
»Ganz natürlich ist ein solcher Mensch starrköpfig«, sagt Sir Leicester und macht ein entsprechendes Gesicht. »Das wundert mich gar nicht.«
»Die einzige Frage ist nun«, fährt der Advokat fort, »ob Sie in einer Hinsicht nachgeben wollen.«
»Nein, Sir. Ausgeschlossen. Ich, nachgeben?«
»Ich meine keinen Punkt von Wichtigkeit. Natürlich würden Sie darin nicht nachgeben. Ich meine in einem nebensächlicheren Punkt.«
»Mr. Tulkinghorn«, erwidert Sir Leicester, »es kann zwischen mir und Mr. Boythorn keinen nebensächlichen Punkt geben. Wenn ich noch weiter gehe und sage, daß ich nicht begreife, wie irgendeins meiner Rechte ein nebensächlicher Punkt sein kann, so spreche ich nicht von mir allein, sondern in Bezug auf die Familientradition, die aufrecht zu erhalten mir obliegt.«
Mr. Tulkinghorn neigt wieder das Haupt.
»Ich bin jetzt instruiert«, sagt er. »Mr. Boythorn wird uns viel Ungelegenheiten machen.«
»Es liegt in der Natur eines solchen Charakters, Mr. Tulkinghorn, Unannehmlichkeiten zu bereiten. Ein ausnehmend übeldenkender, rebellischer Mensch. Ein Mensch, der vor fünfzig Jahren wahrscheinlich in Old-Bailey wegen demagogischer Umtriebe vor Gericht gestellt und streng bestraft worden wäre... Wenn man ihn nicht«, fügt Sir Leicester nach einer kurzen Pause hinzu, »gehenkt und gevierteilt hätte.«
– Sir Leicester scheint seine stolze Brust von einer Last zu befreien, indem er dies Todesurteil ausspricht. Das Aussprechen scheint ihm nach der wirklichen Vollstreckung des strengen Spruchs noch das beste zu sein. –
»Aber es wird Abend«, sagt er, »und Mylady könnte sich erkälten. Wollen wir vielleicht hineingehen?«
Als sie sich der Türe der Halle zuwenden, redet Lady Dedlock Mr. Tulkinghorn an:
»Sie ließen mir etwas über die Person sagen, nach deren Handschrift ich mich gelegentlich erkundigt habe. Es sieht Ihnen sehr ähnlich, daß Sie die Sache im Gedächtnis behielten; ich hatte sie schon ganz vergessen. Ihr Brief erinnerte mich wieder daran. Ich weiß nicht mehr, welche Ideenassoziation ich mit der Handschrift verbunden haben mag. Aber jedenfalls hatte ich eine dabei.«
»Wirklich?«
»O ja«, sagt Mylady leichthin. »Ich glaube, es muß irgendein Gedanke damit verbunden gewesen sein. Und Sie haben sich also wirklich die Mühe gegeben, den Schreiber dieses Dinges ausfindig zu machen...
Was war es gleich... Des Affidavits?«
»Ja.«
»Wie komisch!«
Sie treten in ein düsteres Frühstückszimmer im Erdgeschoß, das während des Tages von zwei tiefnischigen Fenstern erhellt wird. Es ist jetzt Zwielicht. Das Feuer glänzt hell an der getäfelten Wand und blaß auf den Fensterscheiben, hinter denen durch sein kaltes Spiegelbild die noch kältere Landschaft im Winde draußen zittert und ein grauer Nebel langsam einherkriecht: Der einzige Wanderer außer dem Wolkenheer.
Mylady ist in einem großen Lehnstuhl in der Kaminecke hingegossen, und Sir Leicester nimmt in einem andern großen Sessel ihr gegenüber Platz. Der Advokat steht vor dem Feuer und hält die Hand auf Armlänge vor, um sein Gesicht zu beschatten. Er blickt über den Arm auf Mylady.
»Ja«, sagt er, »ich erkundigte mich nach dem Mann und fand ihn. Und was das Seltsamste ist, ich fand –«
»– daß er durchaus keine ungewöhnliche Person ist, fürchte ich«, unterbricht ihn Lady Dedlock schmachtend.
»Ich fand ihn tot!«
»O Gott«, wehrt Sir Leicester Dedlock ab. Nicht so sehr von der Tatsache erschüttert als darüber, daß dergleichen hier erwähnt wird.
»Man wies mich nach seiner Wohnung – einem elenden, armseligen Ort –, und ich fand ihn tot.«
»Sie werden entschuldigen, Mr. Tulkinghorn«, bemerkt Sir Leicester, »ich glaube, je weniger von so etwas gesprochen wird –«
»Bitte, Sir Leicester, lassen Sie mich die Geschichte zu Ende hören«, unterbricht ihn Mylady. »Die Geschichte paßt vortrefflich für die Dämmerstunde. Wie schrecklich! Tot?«
Mr. Tulkinghorn bestätigt es abermals durch ein Kopfnicken. »Ob durch eigne Hand –«
»Auf Ehre!« ruft Sir Leicester. »Wahrhaftig –«
»Bitte lassen Sie mich die Sache zu Ende hören«, sagt Mylady.
»Wie Sie wünschen, Mylady, aber ich muß sagen –«
»Nein, Sie dürfen nichts sagen... Fahren Sie fort, Mr. Tulkinghorn.«
Sir Leicester gibt in seiner Galanterie nach, obgleich er innerlich fühlt, daß solche Unsauberkeiten den obern Klassen vorzusetzen – wahrhaftig –
»Ich wollte sagen«, fängt der Advokat mit unerschütterlicher Ruhe wieder an, »daß ich außerstande bin, Ihnen zu berichten, ob er durch eigne Hand gestorben ist oder nicht. Eigentlich müßte ich einen andern Ausdruck gebrauchen, denn er ist unzweifelhaft durch eigne Hand gestorben, wenn es sich auch nicht aufklären ließe, ob er vorsätzlich oder unabsichtlich gehandelt hat. Die Totenschau sprach sich dahin aus, daß er sich zufällig vergiftet habe.«
»Und was für eine Art Mensch war der Beklagenswerte?« fragt Mylady.
»Das ist sehr schwer zu sagen«, gibt der Advokat kopfschüttelnd zur Antwort. »Er hatte in so herabgekommenen Verhältnissen gelebt und sah mit seiner zigeunerhaften Gesichtsfarbe und seinem wirren schwarzen Haar und Bart so vernachlässigt aus, daß man ihn für den Gemeinsten der Gemeinen hätte halten mögen. Der Arzt jedoch war der Meinung, daß er früher etwas Besseres gewesen sein müßte.«
»Wie hieß der Unglückliche?«
»Er hieß so, wie er sich selbst nannte, aber niemand wußte seinen wirklichen Namen.«
»Auch keiner von denen, die ihn gepflegt haben?«
»Es hat ihn niemand gepflegt. Man fand ihn tot. Vielmehr ich fand ihn tot.«
»Gab es keinen Anhaltspunkt, etwas über ihn zu erfahren?«
»Nein; es war«, sagt der Advokat nachdenklich, »ein alter Mantelsack da, aber... Nein, es fanden sich keine Papiere vor.«
Während dieses ganz kurzen Zwiegesprächs sehen sich Lady Dedlock und Mr. Tulkinghorn ohne die geringste Veränderung in ihrem gewöhnlichen Verhalten zueinander unverwandt an – wie es vielleicht bei der Besprechung eines so ungewöhnlichen Themas natürlich ist. Sir Leicester hat mit dem typischen Ausdruck des Dedlocks auf der Treppe ins Feuer gestarrt. Als die Geschichte zu Ende ist, protestiert er wieder vornehm und betont, da es ganz klar sei, daß der arme Teufel in Myladys Seele unmöglich Erinnerungen erwecken könne – wenn er nicht etwa Bettelbriefe geschrieben habe –, er hoffe nichts mehr von einem Thema zu hören, das Myladys Stellung so fern liege.
»Allerdings eine Schauergeschichte«, sagt Mylady und sammelt ihre Mäntel und Pelze um sich, »aber man fühlt für einen Augenblick ein Interesse dafür. Haben Sie die Güte, Mr. Tulkinghorn, mir die Türe zu öffnen.«
Mr. Tulkinghorn gehorcht ehrerbietig und hält sie offen, während Mylady hinausgeht. Sie geht mit ihrer gewöhnlichen abgespannten Miene und gleichgültigen Grazie dicht an ihm vorüber. Sie sehen sich wieder beim Diner – auch am nächsten Tag – und später Tag für Tag. Lady Dedlock ist immer dieselbe erschöpfte Göttin, umgeben von Anbetern und der furchtbaren Gefahr ausgesetzt, zu Tode gelangweilt zu werden, selbst, wenn sie auf ihrem eignen Altar thront.
Mr. Tulkinghorn ist immer noch dieselbe stumme Schublade für hochadlige Vertrauensmitteilungen, so gar nicht an seinem Platz und doch so vollkommen zu Hause. Sie scheinen so wenig Rücksicht aufeinander zu nehmen, wie nur zwei Leute, die in ein und demselben Haus wohnen, aufeinander nehmen können; aber ob jeder den andern beobachtet, belauert und im Verdacht hat, daß er einen wichtigen, geheimen Gedanken verberge; ob jeder immer gerüstet ist, sich nie vom andern überrumpeln zu lassen, was jeder darum geben würde, um zu wissen, wieviel der andre weiß, – alles das liegt in ihrem tiefsten Herzen verborgen.
13. Kapitel
Esthers Erzählung
Wir berieten viel, was Richard werden sollte; zuerst ohne Mr. Jarndyce, wie er gewünscht hatte, und dann mit ihm; aber es dauerte sehr lange, ehe wir nur einigermaßen vorwärts gekommen waren.
Richard sagte, er sei zu allem bereit. Wenn Mr. Jarndyce fürchtete, er könne für den Flottendienst schon ein bißchen zu alt sein, sagte Richard, er habe sich das auch schon gedacht und es sei leicht möglich. Wenn Mr. Jarndyce ihn fragte, was er von der Armee halte, sagte Richard, er habe auch schon daran gedacht und es sei keine üble Idee. Wenn Mr. Jarndyce ihm den Rat gab, sich selbst einmal ernstlich die Frage vorzulegen, ob seine alte Vorliebe für die See nur eine gewöhnliche knabenhafte Neigung oder ein echter, innerer Impuls sei, so gab Richard zur Antwort, er habe sich die Frage schon oft vorgelegt, könne darüber aber nicht ins reine kommen.
»Wieviel an dieser Unschlüssigkeit in seinem Charakter«, sagte Mr. Jarndyce zu mir, »die unglaubliche Häufung von Ungewißheit und Indielängeziehen, mit der er von seiner Geburt an zu tun hatte, die Schuld trägt, wage ich nicht zu sagen, aber daß der Kanzleiprozeß außer seinen übrigen Sünden auch für einen Teil dafür verantwortlich ist, sehe ich deutlich. Es hat in ihm eine Gewohnheit erzeugt oder genährt, alles hinauszuschieben und sich auf Zufälle aller Art zu verlassen oder alles halbfertig und verwirrt liegen zu lassen. Selbst der Charakter älterer und gesetzterer Personen kann durch Verhältnisse und Umgebung Veränderungen erleiden. Es hieße übers Ziel schießen, wenn man von einem Jüngling, dessen Charakter noch in der Ausbildung begriffen ist, das Gegenteil verlangen wollte.«
Ich fühlte, wie richtig das war, obgleich es mir innerlich beklagenswert schien, daß Richards Erziehung diesen Einflüssen nicht entgegengewirkt und nicht mehr für die Ausbildung seines Charakters getan hatte. Er war acht Jahre in die Schule gegangen und konnte lateinische Verse aller Art auf die bewunderungswürdigste Weise machen. Aber niemals schien sich jemand die geringste Mühe gegeben zu haben, zu erfahren, zu welchem Beruf er am meisten hinneige, welcher Art seine Schwächen seien oder welche Wissenschaft am besten für ihn passe. Ich dachte mir, es würde Richard mehr genützt haben, wenn jemand ihn etwas fleißiger studiert hätte, anstatt ihn die Fähigkeit, Verse so außerordentlich gründlich zu drechseln, zu lehren.
Allerdings verstand ich nichts von der Sache und weiß auch bis heute noch nicht, ob die jungen Herren des klassischen Rom oder Griechenland auch solche Massenverse gemacht haben – oder ob es die Lieblingsbeschäftigung der jungen Herrn irgend eines andern Landes jemals gewesen ist.
»Ich habe nicht die leiseste Idee«, sagte Richard gelegentlich eines Gesprächs nachdenklich eines Tages, »was ich eigentlich werden möchte. Außer, daß ich ganz genau weiß, daß ich nicht Geistlicher werden will, ist es mir übrigens einerlei.«
»Du hast wohl keine Neigung für Mr. Kenges Beruf?« fragte Mr. Jarndyce.
»Das weiß ich nun eben nicht«, antwortete Richard. »Ich rudere sehr gern, und Jurisstudenten betreiben viel Wassersport. Es wäre vielleicht ein ganz kapitaler Beruf.«
»Chirurg –?« schlug Mr. Jarndyce vor.
»Ja, das ist das Wahre!« rief Richard begeistert aus.
– Ich glaube kaum, daß er vorher ein einziges Mal daran gedacht hat. –
»Das ist das Richtige. Jetzt haben wir's: M. R. C. S.«
Er ließ sich durch unser Lachen nicht davon abbringen, obgleich er selbst herzlich mitlachen mußte.
Er sagte, er habe jetzt seinen Beruf gewählt, und je mehr er darüber nachdenke, desto mehr fühle er, daß die Heilkunst sein wahrer Beruf sei.
Ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, daß er nur deshalb zu diesem Entschluß gekommen war, weil er, innerlich froh, der unangenehmen Mühe des Nachdenkens enthoben zu sein, immer Geschmack an dem neuesten Einfall fand, und fragte mich, ob das Studium der lateinischen Verse häufig so ende oder ob Richard nur ein vereinzelter Fall sei.
Mr. Jarndyce gab sich große Mühe, mit ihm die Sache ernst durchzusprechen und ihm die Wichtigkeit eines so entscheidenden Entschlusses vor Augen zu führen. Richard war nach solchen Unterredungen immer etwas ernster als gewöhnlich, sagte aber stets Ada und mir, die Sache sei in schönster Ordnung, und fing von etwas anderm an zu sprechen.
»Bei Gott!« rief Mr. Boythorn, der sich für die Angelegenheit natürlich sehr stark interessierte, denn er tat nichts halb. »Es freut mich, daß ein junger Mann von Herz und Verstand sich diesem edlen Berufe widmet. Mit je mehr Geist er betrieben wird, desto besser für die Menschheit und desto schlimmer für die feilen Handwerker und Schwindler, die sich ein Vergnügen daraus machen, diese hohe Kunst der Welt in schlechtem Lichte zu zeigen. Bei allem, was niedrig und abscheulich ist, die Behandlung der Chirurgen bei der Marine ist derart, daß ich jedem Mitglied der Admiralität einen doppelten Knochenbruch an beiden Beinen beibringen lassen und es zu einem mit Deportation zu bestrafenden Verbrechen stempeln möchte, sie wieder einzurichten, wenn die Sache nicht in achtundvierzig Stunden anders würde.«
»Würdest du ihnen nicht wenigstens eine Woche Frist einräumen?« fragte Mr. Jarndyce.
»Nein, unter keinen Umständen! Achtundvierzig Stunden. Und was Korporationen, Kirchspielbehörden, Gemeinderatssitzungen und ähnliche Zusammenkünfte von Dickschädeln betrifft, die sich nur versammeln, um zu faseln, so sollten sie, bei Gott, verurteilt werden, sich den schäbigen Rest ihres elenden Lebens in Quecksilberbergwerken zu schinden, geschähe es auch nur, um zu verhindern, daß ihr greuliches Englisch irgendeine schöne Sprache, die im Sonnenlicht gesprochen wird, beflecke. Was diese Kerle betrifft, die die Selbstlosigkeit anständiger Gentlemen, die sich den Wissenschaften zuwenden, gemein ausnützen, indem sie die unschätzbaren Leistungen der besten Lebensjahre, die langen Studien und die kostspielige Erziehung mit einem Lumpengeld, zu klein für einen Kopierjungen, bezahlen, so sollte man jedem von ihnen den Hals umdrehen und ihre Schädel im chirurgischen Saal zur Erbauung der ganzen Hörerschaft aufstellen lassen, damit die Jüngern Studenten schon früh im Leben durch direkte Messung lernen, wie dick Schädel überhaupt werden können.«
Nach diesem heftigen Gefühlserguß sah sich Mr. Boythorn mit höchst liebenswürdigem Lächeln im Kreise um und fing plötzlich an zu donnern: »Hahaha!« und konnte sich kaum beruhigen.
Da Richard auch nach längerer Bedenkzeit immer noch der Ansicht war, seine Wahl stehe fest, und in derselben entschiedenen Weise Ada und mir immer wieder versicherte, es sei daran nicht zu rütteln, so wurde es notwendig, Mr. Kenge zu Rate zu ziehen.
So kam denn Mr. Kenge eines Tags zum Mittagessen, lehnte sich in seinen Stuhl zurück, drehte sein Augenglas zwischen den Fingern, redete mit sonorer Stimme und benahm sich genau so, wie ich mich erinnerte, ihn als kleines Mädchen gesehen zu haben.
»Wahrhaftig«, sagte er. »Ja. Hm. Ein sehr guter Beruf, Mr. Jarndyce, wirklich, ein sehr guter Beruf.«
»Das praktische und theoretische Studium verlangt anhaltenden Fleiß«, bemerkte mein Vormund mit einem Blick auf Richard.
»Ohne Zweifel«, nickte Mr. Kenge. »Großen Fleiß.«
»Aber da dies schließlich mehr oder weniger bei allen Berufsarten, die in Betracht kommen, der Fall ist, so ist das ein Punkt, den man auch bei jeder andern Berufswahl berücksichtigen müßte.«
»Sehr wahr«, bestätigte Mr. Kenge. »Und Mr. Richard Carstone, der sich so ausgezeichnet hat – darf ich sagen, unter dem Himmel des klassischen Altertums, unter dem er seine Jugend verlebt hat? –, wird ohne Zweifel die erworbene Fertigkeit, wenn auch nicht die Prinzipien und die Praxis des Versemachens in einer Sprache, in der, wie es heißt, ein Dichter geboren und nicht gemacht wird, auf den wesentlich praktischeren Wirkungskreis, in den er jetzt eintritt, anwenden.«
»Sie können sich darauf verlassen«, fiel Richard in seiner leichtherzigen Weise ein, »daß ich es ordentlich angehen und mein Bestes tun werde.«
»Sehr gut, Mr. Jarndyce.« Mr. Kenge nickte milde. »Wirklich, wenn uns Mr. Richard versichert, er wolle es angehen und sein Bestes tun«, – er nickte wieder milde und voll Gefühl – »so möchte ich Ihnen nahe legen, daß wir uns nur nach der besten Art, ihm das Ziel seines Ehrgeizes näher zu rücken, umzusehen haben. Wir haben also weiter nichts zu tun, als Mr. Richard bei einem möglichst berühmten Chirurgen unterzubringen. Hat man schon jemand im Auge?«
»Ich wüßte nicht, Rick.«
»Ich auch nicht, Sir.«
»Also gut«, bemerkte Mr. Kenge. »Also zur Sache. Haben Sie diesbezüglich besondere Wünsche?«
»N-nein«, antwortete Richard.
»Also gut.«
»Ich hätte nur gern ein wenig Abwechslung, ich meine, genügend Gelegenheit, Erfahrungen zu sammeln.«
»Allerdings sehr wünschenswert«, stimmte Mr. Kenge zu. »Ich glaube, dies ließe sich leicht machen, Mr. Jarndyce? Wir haben vor allen Dingen einen geeigneten Chirurgen ausfindig zu machen, und wenn wir darauf hingewiesen haben, daß wir eine gewisse Summe als Lehrgeld zu zahlen bereit sind - nicht wahr, Mr. Jarndyce? –, wird unsre einzige Schwierigkeit sein, eine entsprechende Auswahl zu treffen. Dann bleiben uns nur noch die kleinen Formalitäten zu beobachten übrig, die durch unser Alter und den Umstand, daß wir unter der Vormundschaft des Kanzleigerichts stehen, bedingt sind. Wir werden bald – wenn ich mich Mr. Richards eigner leichtherziger Worte bedienen darf – die Sache angehen, und unser Herzenswunsch ist befriedigt... Es ist ein merkwürdiger Zufall«, fügte Mr. Kenge mit einem Anflug von Melancholie hinzu, »einer jener Zufälle, die unsre irdischen, so beschränkten menschlichen Fähigkeiten nicht erklären können, daß ich selbst einen Vetter habe, der Mediziner ist. Vielleicht paßt er für Sie und ist geneigt, auf Ihren Vorschlag einzugehen. Ich kann für ihn so wenig stehen wie für Sie, aber vielleicht ist er der richtige.«
Da dadurch die Sache in greifbare Nähe rückte, kam man überein, Mr. Kenge solle mit seinem Vetter reden.
Mr. Jarndyce hatte uns schon früher vorgeschlagen, auf ein paar Wochen nach London zu gehen, und so wurde am nächsten Tag beschlossen, die Reise so bald wie möglich anzutreten.
Mr. Boythorn verließ uns innerhalb der nächsten acht Tage, und wir schlugen unser Quartier in einer reizenden Wohnung in der Nähe von Oxfordstreet über dem Laden eines Möbelhändlers auf.
London erschien uns wie ein großes Wunder, und wir waren jeden Tag stundenlang unterwegs, um uns die Sehenswürdigkeiten zu besichtigen, die weniger leicht zu erschöpfen waren als wir selbst. Wir machten auch mit großem Genuß durch alle größeren Theater und sehenswerten Stücke die Runde. Ich erwähne es, weil es im Theater war, wo Mr. Guppy mich wieder zu belästigen anfing.
Ich saß eines Abends mit Ada vorn in einer Loge, und Richard hatte, wie er es gerne tat, sich hinter sie gesetzt, als ich zufällig unten im Parterre Mr. Guppy erkannte, der, das Haar in die Stirn gebürstet, mit einer Miene unsäglichen Leides zu mir emporblickte.
Ich fühlte das ganze Stück hindurch, daß er immer nur auf mich statt auf die Schauspieler sah, und zwar beständig mit einem offenbar sorgfältig einstudierten Ausdruck tiefsten Schmerzes und äußerster Niedergeschlagenheit.
Der Vorfall verdarb mir für den Abend die ganze Freude, da er mich natürlich in Verlegenheit setzte und gar so lächerlich war; aber nicht genug daran, von diesem Tag an konnten wir nie mehr ins Theater gehen, ohne daß nicht Mr. Guppy im Parterre auftauchte, immer mit zerrauftem Haar, aufgeschlagnem Kragen und deutlich zur Schau getragner Hinfälligkeit. Wenn er bei unserm Eintreten noch nicht da war und ich bereits zu hoffen anfing, er werde dies Mal nicht kommen, und mich für kurze Zeit ganz der Darstellung zuwendete, konnte ich sicher sein, seinen schmachtenden Augen zu begegnen, wo ich es am wenigsten erwartete, und sie von der Zeit an den ganzen Abend nicht mehr los zu werden.
Ich kann gar nicht sagen, wie mich das verstimmte. Wenn er sich nur das Haar melancholisch gekämmt oder den Kragen aufgeschlagen hätte, so wäre es schon schlimm genug gewesen, aber das Bewußtsein, daß dieser lächerliche Mensch mich immer anstarrte und stets mit einer gewissen theatralischen Verzweiflung, machte mich derart beklommen, daß ich mich gar nicht mehr getraute, über das Stück zu lachen oder mich ergriffen zu fühlen, darüber zu sprechen –, mich auch nur zu bewegen.
Ich verlor förmlich die Fähigkeit, mich natürlich zu benehmen. Ich hätte mich vor Mr. Guppy retten können, wenn ich mich in den Hintergrund der Loge gesetzt hätte, aber dazu konnte ich mich nicht entschließen, weil ich wußte, wie sehr es Ada und Richard in ihrer Unterhaltung gestört haben würde, wenn ein Fremder neben ihnen zu sitzen gekommen wäre.
So saß ich denn da und wußte nicht, wohin schauen – denn wohin ich immer blickte, ich fühlte, daß mir Mr. Guppys Augen folgten –, und war nur mit dem Gedanken beschäftigt, welche schrecklichen Ausgaben der junge Mann sich meinetwegen machte.
Manchmal dachte ich daran, es Mr. Jarndyce zu sagen. Dann fürchtete ich wieder, es könne den jungen Mann seine Stelle kosten. Und es Richard anzuvertrauen, hielt mich wieder der Gedanke an die Möglichkeit ab, er könne mit Mr. Guppy einen Streit anfangen und ihm ein blaues Auge schlagen. Soll ich, wenn er mich ansieht, die Stirn runzeln und mit dem Kopf schütteln? dachte ich mir. Nein, sah ich ein, das am allerwenigsten.
Ich überlegte mir, ob ich nicht an seine Mutter schreiben sollte, kam aber bald zur Überzeugung, daß ein Briefwechsel die Sache nur verschlimmern würde. Und immer wieder kam ich zu dem Schluß, daß ich rein gar nichts tun könnte.
Mr. Guppys Ausdauer ließ ihn nicht nur regelmäßig in jedem Theater, das wir besuchten, erscheinen, er zeigte sich auch im Gedränge, wenn wir hinausgingen, und zuweilen kam es vor, daß er sich hinten auf unsern Wagen stellte, wo ich ihn des öftern im Kampf mit den Wagenspeichen erblickte.
Waren wir zu Hause angekommen, pflegte er in solchen Fällen unsrer Wohnung gegenüber an einem Pfeiler Posten zu fassen. Da das Haus des Möbelhändlers das Eck zweier Straßen bildete und mein Schlafzimmer nach vorne ging, so fürchtete ich mich jedes Mal, ans Fenster zu treten, wenn ich oben war, um ihn nicht, wie es einmal in einer Mondnacht geschehen, an den Pfeiler gelehnt, klappernd vor Kälte stehen zu sehen.
Wenn er nicht zum Glück den ganzen Tag über beschäftigt gewesen wäre, ich glaube, ich hätte überhaupt keine Ruhe mehr vor ihm gehabt.
Während wir unsern Zerstreuungen nachgingen, an denen Mr. Guppy in so außerordentlich intensiver Weise teilnahm, wurde die Angelegenheit, derentwegen wir in die Stadt gekommen waren, nicht vernachlässigt.
Mr. Kenges Vetter war ein gewisser Mr. Bayham Badger, der eine große Praxis in Chelsea hatte und außerdem noch einer großen öffentlichen Anstalt vorstand. Er erklärte sich gern bereit, Richard in sein Haus aufzunehmen und dessen Studien zu beaufsichtigen. Und da diese, wie es schien, in seinem Haus erfolgreich betrieben werden konnten und er Gefallen an Richard fand und Richard sagte, auch er »passe ihm soweit«, so wurde ein Kontrakt gemacht, des Lordkanzlers Zustimmung eingeholt, und bald war alles in schönster Ordnung.
Am Tage der Kontraktunterzeichnung lud uns Mrs. Badger zum Essen ein. Es sollte nur ein Familienessen sein, wie ihres Gatten Brief besagte; und außer uns und der Hausfrau waren keine Damen zugegen.
Mrs. Badger erwartete uns im Salon, von verschiedenen Dingen umgeben, die verrieten, daß sie ein wenig male, ein wenig Klavier spiele, ein wenig Gitarre und ein wenig Harfe, ein wenig singe, ein wenig sticke und lese, ein wenig dichte und ein wenig botanisiere. Sie war, wie ich schätzte, ungefähr fünfzig Jahre alt, jugendlich gekleidet und hatte einen schönen Teint. Wenn ich zu dem kleinen Verzeichnis ihrer Kunstfertigkeiten noch hinzusetze, daß sie sich auch ein wenig schminkte, so will ich ihr damit nichts Böses nachgesagt haben.
Mr. Bayham Badger war ein roter, lebhaft gefärbter, geschniegelt aussehender Herr mit einer dünnen Stimme, weißen Zähnen, blondem Haar und verwundert dreinschauenden Augen. Er schien ein paar Jahre jünger zu sein als Mrs. Bayham Badger. Er bewunderte seine Gattin ausnehmend, aber merkwürdigerweise hauptsächlich deswegen, weil sie drei Männer gehabt hatte. Schon nach den ersten Begrüßungsworten sagte er triumphierend zu Mr. Jarndyce:
»Sie würden gewiß nicht glauben, daß ich Mrs. Bayham Badgers dritter bin.«
»In der Tat?«
»Ihr Dritter, jawohl. Mrs. Bayham Badger, glauben Sie nicht auch, Miß Summerson, sieht nicht wie eine Dame aus, die schon zwei Mal verheiratet war?«
»O, durchaus nicht.«