Kitabı oku: «Oliver Twist», sayfa 2
»Mach’ den Herrn Vorständen deine Verbeugung«, befahl Mr. Bumble.
Oliver wischte sich die Tränen aus den Augen und, da er nicht recht begriff, wer von den Anwesenden die Herren Vorstände sein könnten, machte er instinktiv und aufs Geratewohl einen Kratzfuß.
»Wie heißt du, Junge?« fragte der Herr auf dem hohen Stuhl.
Oliver zitterte am ganzen Leib, denn der Anblick so vieler Gentlemen brachte ihn gänzlich außer Fassung. Mr. Bumble versuchte ihn durch eine kräftige Berührung mit seinem Kirchspieldienerstab zu belehren, und das hatte zur Folge, dass er wiederum anfing zu weinen. Er antwortete daher mit leiser und zaghafter Stimme, und das veranlasste einen Herrn in einer weißen Weste auszurufen, er wäre ein dummer Junge – das beste Mittel, ihm Mut einzuflößen.
»Junge«, begann der Herr in dem hohen Stuhl abermals, »höre jetzt, was ich dir zu sagen habe. Du weißt doch, dass du ein Waisenkind bist?«
»Was ist das, Sir?« fragte der unglückliche Oliver.
»Er ist wirklich ein dummer Junge, ich hab’ mir’s gleich gedacht«, sagte der Herr mit der weißen Weste.
»Du weißt doch«, nahm der erste Herr wieder das Wort, »dass du weder Vater noch Mutter hast und vom Kirchspiel erzogen wirst?«
»Ja«, antwortete Oliver unter Tränen.
»Warum heulst du?« fragte der Herr mit der weißen Weste, denn es war doch höchst auffallend, dass Oliver weinte. Welchen Grund konnte er nur haben?
»Ich hoffe, du betest doch jeden Abend«, fragte ein anderer Gentleman in barschem Ton, »und betest für die, die dir zu essen geben und für dich sorgen, so wie es einem Christenmenschen geziemt.«
»Ja, Sir«, hauchte Oliver. In Wirklichkeit hatte er jedoch nie gebetet, weil es ihn niemand gelehrt hatte.
»Man hat dich hierhergerufen«, fuhr der Präsident fort, »um dich erziehen zu lassen, und damit du ein nützliches Handwerk lernst.« – »Du wirst also morgen früh um sechs Uhr anfangen Werg zu zupfen«, setzte der mürrische Gentleman mit der weißen Weste hinzu.
Zum Dank für die Ankündigung dieser beiden Wohltaten machte Oliver unter Nachhilfe des Kirchspieldieners einen tiefen Kratzfuß vor den »Herren Vorständen« und wurde dann in einen großen Saal gesteckt, wo er sich auf einem harten rauen Bett in den Schlaf weinen durfte.
Der arme Oliver ahnte nicht, wie er so dalag und schlief, dass die Herren Vorstände noch am selben Tage zu einem Entschluss gelangten, der von größtem Einfluss auf sein künftiges Geschick sein sollte.
Die Herren Vorstandsmitglieder waren äußerst kluge Männer von tiefer philosophischer Einsicht, und kaum hatten sie ihre Tätigkeit dem Arbeitshause und was damit zusammenhing zugewendet, so fanden sie auch sofort heraus, was ein gewöhnlicher Sterblicher kaum jemals entdeckt hätte, nämlich: dass es darin den Armen ganz über Gebühr gut gehe. Als wäre das Arbeitshaus nichts als ein öffentliches Vergnügungslokal für die ärmeren Klassen, eine Kneipe, in der man nichts zu bezahlen brauche, ein Ort, an dem man auf Kosten der Gemeinde Frühstück, Mittagessen, Tee und Abendbrot einnehmen könne – ein Elysium aus Ziegelsteinen und Mörtel, in dem gescherzt und gespielt, in Wirklichkeit aber nicht gearbeitet würde. Wir sind die richtigen Männer, um hier Ordnung zu schaffen, sagte sich die Vorstandschaft. Und so ordneten sie denn an, dass alle armen Leute die Wahl haben sollten – von Zwang könne natürlich keine Rede sein -, entweder langsam und nach und nach im Arbeitshaus zu verhungern, oder schnell und plötzlich außerhalb. Von diesem Gesichtspunkte aus schlossen sie mit den Wasserwerken einen Vertrag über Lieferung einer unbegrenzten Menge Trinkwassers und mit einem Getreidehändler einen ebensolchen, was die jeweilige Lieferung von kleinen Quantitäten Hafermehl anbelangte, und gaben täglich drei Portionen Haferschleim aus und außerdem zweimal wöchentlich eine Zwiebel dazu pro Mahlzeit und Sonntags eine halbe Semmel.
Im ersten Halbjahr nach Olivers Ankunft war das System bereits in vollem Gange. Der Raum, in dem die Knaben ihr Essen bekamen, war eine Art Küche, und der Koch, von ein paar Frauenzimmern unterstützt, teilte ihnen aus einem Kupferkessel ihre drei Portionen Hafer zu – einen Napf voll und nicht mehr, ausgenommen, wie gesagt, die Sonn- und Feiertage, wo ein nicht allzu großes Stückchen Brot dazukam. Die Näpfe auszuwaschen war überflüssig, da die Jungen mit ihren Löffeln sowieso so lange darin herumkratzten, bis alles wieder glänzend war. Und wenn sie mit ihrer Tätigkeit fertig waren, was nie allzu lange Zeit in Anspruch nahm, da die Löffel beinahe so groß waren wie die Näpfe selber, – saßen sie da und starrten auf den Kupferkessel mit so gierigen Augen, als ob sie am liebsten sogar die Ziegelsteine, aus denen der Herd aufgebaut war, verschlungen hätten, und saugten dabei an ihren Fingern in der Hoffnung, dort vielleicht noch irgendwo ein verirrtes Tröpfchen Haferschleim aufzulecken. Kinder pflegen nämlich einen vortrefflichen Appetit zu haben.
Drei Monate lang hatten Oliver und seine Kameraden die Qualen langsamen Hungertodes durchgemacht und waren kaum mehr imstande, diesen Zustand länger zu ertragen. Ein für sein Alter sehr großer Junge, dessen Vater Koch gewesen war, gab eines Tages seinen Gefährten zu verstehen, wenn er nicht bald eine Schüssel Haferschleim pro Tag mehr bekomme, so würde er sich nicht helfen können und müsse höchst wahrscheinlich eines Nachts seinen Schlafnachbar auffressen. Dieser Vielfraß hatte ein wildes hungriges Auge, und seine Reden riefen große Angst unter seinen Kameraden hervor. So beratschlagten sie untereinander, und es wurde gelost, wer von ihnen nach dem Abendessen zum Speisemeister gehen und noch um einen Napf bitten solle. Das Los fiel auf Oliver.
Der Abend kam, und die Jungen nahmen ihre Plätze ein. Der Speisemeister stellte sich in seiner weißen Kochschürze an den Kessel, der Haferbrei wurde ausgeteilt und ein langes Tischgebet gesprochen. Als die Mahlzeit vorüber war, flüsterten die Jungen untereinander, gaben Oliver Winke, und die ihm Zunächstsitzenden stießen ihn mit den Ellbogen an. Der Hunger machte ihn alle Rücksichten vergessen. Er stand auf, trat mit Napf und Löffel vor den Koch hin und sagte mit bebender Stimme:
»Ich bitte um Verzeihung, Sir, ich möchte noch um ein wenig bitten.«
Der Koch, ein feister rotbackiger Mann, wurde blass wie der Kalk an der Wand. In maßlosem Staunen starrte er einige Sekunden den kleinen Rebellen an und musste sich am Kessel festhalten, um nicht umzufallen. Die beiden Frauenzimmer waren geradezu gelähmt vor Entsetzen, und auch die Jungen konnten vor Furcht kein Wort hervorbringen.
»Was?« fragte der Koch endlich mit schwacher Stimme.
»Ich bitte, Herr«, wiederholte Oliver, »ich möchte noch etwas haben.«

Der Koch gab ihm eins mit dem Löffel über den Kopf, fasste ihn dann am Arm und schrie laut nach dem Kirchspieldiener.
Die Herren Vorstände saßen gerade zusammen bei einer Beratung, als Mr. Bumble in höchster Erregung ins Zimmer stürzte und dem Herren auf dem hohen Stuhl meldete:
»Mr. Limbkins, ich bitte um Verzeihung, Sir, Oliver Twist hat mehr zu essen verlangt.«
Alles fuhr auf. Entsetzen malte sich auf allen Gesichtern.
»Mehr?« rief Mr. Limbkins. »Kommen Sie zu sich, Bumble! Antworten Sie mir klar und deutlich. Verstehe ich recht? Er hat mehr gefordert als die ihm von der Vorstandschaft festgesetzte Ration?«
»Jawohl, Sir.«
»Der Bursche kommt noch an den Galgen«, ächzte der Gentleman mit der weißen Weste. »Denken Sie an mich, der Bursche kommt noch an den Galgen.«
Niemand widersprach, und es entspann sich eine lebhafte Diskussion. Auf Befehl der Vorstandschaft wurde Oliver augenblicklich eingesperrt, und am nächsten Morgen hing ein Anschlagzettel an der Außenseite des Tores des Arbeitshauses, auf dem eine Belohnung von fünf Pfund ausgesetzt war für jeden, der die Gemeinde der weiteren Fürsorge für Oliver Twist enthöbe; mit anderen Worten: es wurden fünf Pfund jedermann angeboten, der Oliver Twist als Lehrling oder Laufburschen zu sich nähme.
»In meinem ganzen Leben war ich noch von nichts so fest überzeugt«, sagte der Gentleman mit der weißen Weste, als er am nächsten Morgen an das Tor klopfte und den Zettel las, »wie ich jetzt davon überzeugt bin, dass der Bursche noch einmal an den Galgen kommen wird.«
3 – Berichtet, wie Oliver Twist beinahe eine Anstellung bekommen hätte, die nichts weniger als eine Sinekure1 gewesen wäre.
Eine Woche lang blieb Oliver nach seiner Missetat in dem finstern Raum, in den ihn die Herren Vorstände hatten sperren lassen, in Haft. Hätte er den gehörigen Respekt vor der Prophezeiung des Gentlemans mit der weißen Weste gehabt, würde er sich zweifellos vermittels eines Taschentuches an einem Haken in der Mauer aufgehängt haben. Aber dazu fehlte ihm vor allem ein Taschentuch – ein solcher Luxus war strenge verpönt -, und zweitens war er noch zu sehr Kind. Er weinte daher nur Tag und Nacht und bedeckte sich mit seinen kleinen Händen die Augen, um nicht in die Finsternis starren zu müssen, oder er kroch in einen Winkel und versuchte zu schlafen. Aber jedes Mal fuhr er wieder vor Angst und Entsetzen aus seinem unruhigen Schlummer auf und drückte sich noch dichter an die Mauer, als böte ihm selbst ihre harte kalte Fläche noch ein wenig Schutz gegen die Finsternis und Einsamkeit, die ihn rings umgab.
Um gerecht zu sein, dürfen wir nicht verschweigen, dass es ihm andererseits an Bewegung und geistlichem Zuspruch nicht fehlte. Was die Leibesübungen betraf, wurde ihm angesichts des kalten Wetters, das gerade herrschte, die Vergünstigung zuteil, sich jeden Morgen unter der Pumpe in einem gepflasterten Hof waschen zu dürfen, und zwar in Gegenwart Mr. Bumbles, der durch wiederholte Anwendung seines Amtstabes eventuellen Erkältungen vorbeugte und bewirkte, dass von Zeit zu Zeit ein prickelndes Gefühl Olivers Körper durchdrang. Was die Anregung anbelangte, wurde er jeden zweiten Tag in den Saal geführt, wo die Zöglinge ihr Mittagessen verzehrten, und vor ihren Augen als warnendes Beispiel öffentlich ausgepeitscht. Hinsichtlich religiösen Zuspruchs wurde er Abend für Abend zur Gebetstunde mit Fußtritten in denselben Raum befördert und durfte dort zuhören, wie die anderen beteten, dass Gott sie bewahren möge, so sündhaft zu werden wie ein gewisser Oliver Twist. So standen die Sachen.
Da begab es sich eines Morgens, dass der Schornsteinfegermeister Mr. Gamfield auf der Landstraße langsam seines Weges zog. Tief in Gedanken, woher er sich seine Hausmiete, derentwegen er bereits wiederholte Male gemahnt worden, sich beschaffen solle. So sehr sich Mr. Gamfield auch den Kopf zerbrach, immer wieder war das Resultat, dass ihm fünf Pfund fehlten, um die dringende Schuld begleichen zu können. In diesem Augenblick bemerkte er den Zettel, der am Tor des Arbeitshauses hing.
»Höhhh – brrr« – rief Mr. Gamfield seinem Esel zu.
Der Esel war jedoch ebenso wie sein Herr tief in Gedanken versunken und wahrscheinlich mit der Berechnung beschäftigt, ob er einen oder zwei Kohlstrünke bekommen würde, wenn er die beiden Säcke Ruß, mit denen der Karren beladen war, an Ort und Stelle gebracht haben würde, und so trottete er daher, den Zuruf seines Herrn missachtend, weiter.
Mr. Gamfield widmete ihm einen schweren Fluch, rannte hinter ihm her und gab ihm einen Schlag auf den Schädel, wie ihn eben nur ein Eselskopf auszuhalten vermag, führte ihn dann durch einen heftigen Riss am Zügel, der ihm fast den Unterkiefer ausrenkte, zu Gemüt, dass hier niemand andres zu befehlen habe als Mr. Gamfield, und gab ihm schließlich einen zweiten Hieb auf den Kopf zum Zweck, um ihn bis zu seiner Rückkehr in der nötigen Betäubung zu erhalten. Nachdem er diese Vorsichtsmaßregeln getroffen, schritt er auf das Tor zu, um den Anschlagzettel zu lesen. Der Gentleman mit der weißen Weste stand gerade, die Hände auf dem Rücken, vor dem Tor. Er hatte das Zerwürfnis und seine Folgen zwischen Mr. Gamfield und dem Esel beobachtet und lächelte höchst vergnügt, als der Mann nähertrat, um den Zettel zu lesen. Auf den ersten Blick erkannte er, dass Mr. Gamfield der richtige Gebieter für Oliver Twist war. Auch Mr. Gamfield lächelte, als er den Anschlag las, denn fünf Pfund waren gerade die Summe, die er brauchte. Was den Lehrburschen anbetraf, so war Mr. Gamfield hinsichtlich der Beköstigung im Arbeitshaus zu genau unterrichtet, um nicht sofort einzusehen, dass ein Waisenzögling die entsprechend schmächtige Statur haben müsse, die ein Schornsteinfegerjunge braucht. Er buchstabierte den Zettel noch einmal von A bis Z durch, berührte den Rand seiner Pelzmütze und wandte sich an den Gentleman mit der weißen Weste.
»Ist da der Lehrbub herinnen, den wo das Arbeitshaus abzugeben hat?« begann er.
»Wünschen Sie etwas von ihm?« forschte der Gentleman mit der weißen Weste.
»Wenn’s der Gemeinde recht wär, dass er a leichts angenehms Handwerk lernt, dös Schornsteinfegerhandwerk nämlich, so brauchet i’ gerad an Lehrling und könnt ihn glei’ mitnehmen.«
»Treten Sie näher«, rief der Gentleman mit der weißen Weste.
Mr. Gamfield lief zuvörderst noch einmal zurück, um dem Esel einen dritten Schlag auf den Kopf zu geben und ihn am Zügel zu reißen, auf dass er es sich nicht beifallen ließe, in der Abwesenheit seines Herrn durchzugehen. Dann folgte er dem Gentleman mit der weißen Weste in das Zimmer, das Oliver zum ersten Mal betreten hatte.
»Es ist ein etwas schmutziges Handwerk«, sagte Mr. Limbkins, als Mr. Gamfield seinen Wunsch noch einmal wiederholt hatte.
»Es soll schon hie und da ein Junge im Schornstein erstickt sein«, wendete ein anderer Gentleman ein.
»Jetzt dös kummt bloß daderher«, erklärte Mr. Gamfield, »weil ’s a so üblich is, nasses Stroh im Kamin anzuzünden, damit die Buabn runterkommen. Dös gibt mehr Rauch als wie a Flamm. Aber i halt nix von der Method; der Rauch macht nur, dass die Buabn alleweil einschlafen. I zünd lieber glei a frischs Feuer an; dös is des beste Mittel, um ihna auf die Bein zu helfen. Da müassens arbeiten aus Leibeskräften, sunst verbrennens iahna die Haxen.«
Dem Gentleman in der weißen Weste schien diese Schilderung großes Vergnügen zu bereiten, aber seine Heiterkeit wurde durch den strafenden Blick, den ihm Mr. Limbkins zuwarf, im Keim erstickt. Ein paar Minuten berieten die Herren Vorstände miteinander, jedoch in so leisem Ton, dass nur hin und wieder ein paar Worte wie: »Ersparnis« oder »guter Eindruck bei der Abrechnung« hörbar wurden. Endlich stockte die im Flüsterton geführte Unterhaltung und Mr. Limbkins begann, nachdem die Herren mit feierlicher Miene ihre Plätze wieder eingenommen hatten:
»Wir haben Ihren Vorschlag in Erwägung gezogen, können aber nicht darauf eingehen.«
»Unter keinen Umständen«, bekräftigte der Herr in der weißen Weste.
»Nein, unter keinen Umständen«, erklärten die übrigen Herren Vorstände.
Mr. Gamfield war sich bewusst, dass er bei Gericht in Verdacht stand, drei oder vier Lehrjungen im Kamin fahrlässigerweise haben ersticken lassen, und kam daher auf die Vermutung, das Vorstandskollegium könne möglicherweise in ganz unbegreiflicher Laune ein Haar in der Suppe gefunden haben. Da er das alberne Gerücht nicht weiter breitgetreten zu sehen wünschte, drehte er nur wortlos seine Mütze in den Händen und ging langsam zur Türe.
»Sie wolln ihn also net bei mir eintreten lassen?« fragte er, die Hand auf der Klinke.
»Nein«, erwiderte Mr. Limbkins fest. »Zum mindesten müssten Sie mit einer geringeren als der ausgesetzten Summe zufrieden sein, da das Schornsteinfegergewerbe denn doch ein bisschen schmutzig ist.«
Mr. Gamfields Gesicht hellte sich auf. Schnell trat er wieder an den Tisch heran und fragte:
»Also, was wollens denn geben, meine Herrn? Seins doch net so hart gegen an armen Gewerbtreibenden.«
»Ich sollte meinen, drei Pfund zehn Schilling wären mehr als genug«, gab Mr. Limbkins zur Antwort.
»Da sind noch zehn Schillinge zu viel«, warf der Gentleman in der weißen Weste hin.
»Na also«, versetzte Mr. Gamfield, »sagen mer also vier Pfund, meine Herren, und Sie sin ihm los und die Sach is in Ordnung.«
»Drei Pfund zehn Schillinge«, wiederholte Mr. Limbkins fest.
»Kommen S’, teiln mer die Differenz, meine Herrn«, drängte Mr. Gamfield. »Drei Pfund fünfzehn Schillinge.«
»Nicht einen Penny mehr«, war die Antwort.
»Sie sin verdammt hart zu mir, meine Herrn«, sagte Gamfield niedergeschlagen.
»Ach was, Unsinn«, erwiderte der Herr in der weißen Weste. »Sie machen noch ein gutes Geschäft, auch wenn Sie gar kein Geld für ihn bekämen. Seien Sie nicht dumm und nehmen Sie ihn, er ist gerade der Junge, den Sie brauchen. Geben Sie ihm hie und da den Stock zu kosten, das wird ihm nur gut tun; und die Erhaltung wird sich auch nicht sehr teuer stellen. Er ist hier nicht besonders verwöhnt worden – hahaha!«
Mr. Gamfield warf einen scharfen Blick auf die Herren ringsum, und da er sie alle lächeln sah, hellten sich langsam seine Züge auf. Der Handel wurde geschlossen und Mr. Bumble sogleich angewiesen, noch am selben Nachmittag Oliver Twist behufs amtlicher Bestätigung des Lehrvertrags vorzuführen.
Demgemäß wurde Oliver zu seinem größten Erstaunen plötzlich aus der Haft entlassen und bekam den Befehl, ein frisches Hemd anzuziehen. Kaum hatte er diese seltene gymnastische Übung hinter sich, als Mr. Bumble ihm eigenhändig einen Napf Hafergrütze nebst dem sonntäglichen Stück Brot brachte. Bei diesem fürchterlichen Anblick brach Oliver sofort in ein schreckliches Geheul aus, denn er dachte, die Herren Vorstände hätten den Beschluss gefasst, ihn zu irgendeinem gemeinnützigen Zweck schlachten zu lassen. Denn weshalb hätten sie sonst plötzlich angefangen, ihm eine Mastkur angedeihen zu lassen.
»Heul dir nicht die Augen rot, Oliver, sondern iss deine Suppe und sei dankbar«, ermahnte Mr. Bumble in würdevollem Ton. »Du kommst jetzt in die Lehre.«
»In die Lehre?« fragte der Kleine zitternd.
»Jawohl, Oliver. Die gütigen Herrn, von denen dir jeder einzelne deine Eltern ersetzt, da du keine hast, wollen dich in die Lehre geben, damit du einst im Leben auf eigenen Füßen stehen kannst; und sie wollen einen Mann aus dir machen, obgleich es der Gemeinde drei Pfund und zehn Schillinge kostet. – Oliver! Drei Pfund und zehn Schillinge! – Siebzig Schillinge hundertvierzig Sixpence! Und das alles für einen nichtsnutzigen Waisenbuben, den kein Mensch leiden kann.«
Mr. Bumble hielt einen Augenblick in seiner Rede inne, um Atem zu holen. Dem armem Oliver rollten die Tränen über die Wangen, und er schluchzte bitterlich.
»Ist schon gut, lass nur«, sagte Mr. Bumble, ein bisschen weniger würdevoll, denn die Wirkung, die seine Rede hervorgebracht, befriedigte ihn. »Komm, Oliver, wisch dir die Träne mit dem Ärmel ab und heul dir nicht in die Suppe; das ist eine große Dummheit.« Und das stimmte, denn Wasser war sowieso genug in der Hafergrütze.
Auf dem Weg zum Friedensrichter schärfte Mr. Bumble Oliver aufs dringlichste ein, er müsse sich vor allen Dingen bemühen, recht glücklich auszusehen, und wenn der alte Herr ihn frage, ob er in die Lehre gehen wolle, habe er zu antworten, er freue sich ungemein darauf. Oliver versprach sein Bestes zu tun, umso mehr, als Bumble ihm androhte, dass es ihm sonst schlecht ergehen würde.
Auf dem Amt angelangt, wurde Oliver in ein kleines Zimmer eingesperrt, und Mr. Bumble sagte ihm, er solle hier bleiben, bis er wiederkäme und ihn abholte. Eine ganze halbe Stunde blieb das arme Waisenkind mit klopfendem Herzen allein. Dann steckte Mr. Bumble seinen Kopf herein und sagte laut: »Nun, Oliver, mein Kind, komm jetzt zu dem Herrn.«
Dabei warf er Oliver einen drohenden Blick zu und fügte leise hinzu: »Vergiss nicht, was ich dir gesagt hab, infamer Lausbub.«
Oliver machte bei dieser widerspruchsvollen Anrede ein ziemlich dummes Gesicht. Aber Mr. Bumble kam jeder Frage zuvor und schleppte ihn ohne weitere Umstände ins Amtszimmer. Es war ein ziemlich geräumiges Zimmer mit einem großen Fenster. Hinter einem Pult saßen zwei alte Herren mit gepuderten Perücken, und der eine von ihnen las in der Zeitung, während der andere mit Hilfe einer Schildpattbrille ein kleines Pergamentschriftstück durchstudierte. Mr. Limbkins stand neben dem Pult und Mr. Gamfield, dessen Gesicht stellenweise reingewaschen war, in einiger Entfernung neben ihm, während zwei bis drei roh aussehende Männer in Stulpenstiefeln im Hintergrund warteten.
Der alte Herr mit der Brille nickte langsam über dem Schriftstück ein, und es verstrich eine ziemliche Weile, nachdem Oliver von Mr. Bumble vor das Pult geführt worden war.
»Dies ist der Junge, Euer Gnaden«, sagte Mr. Bumble.
Der alte Herr, der die Zeitung las, hob eine Sekunde den Kopf und zupfte den anderen alten Herrn am Rockärmel, worauf dieser erwachte.
»So, so, das ist der Junge«, murmelte der alte Herr.
»Jawohl, zu dienen, Euer Gnaden«, erwiderte Mr. Bumble. »Mach dem Herrn Friedensrichter eine Verbeugung, mein Kind.«
Oliver gehorchte und machte seinen schönsten Kratzfuß, da ihm die Herren mit den gepuderten Perücken mächtig imponierten.
»Der Junge wünscht also Schornsteinfeger zu werden«, fragte der alte Herr.
»Ja, es ist sein Herzenswunsch«, erklärte Mr. Bumble. »Er würde bestimmt morgen wieder davonlaufen, wenn wir ihn heute in ein andres Geschäft gäben.«
Der Friedensrichter wendete sich an den Schornsteinfegermeister: »Und Sie versprechen, ihn gut zu behandeln, ordentlich zu nähren und zu kleiden usw. usw.«
»Was i amal sag, dös halt i a«, erwiderte Gamfield mürrisch.
»Sie haben eine etwas ungeschliffene Redeweise, lieber Freund, scheinen aber sonst ein ehrlicher gutherziger Mann zu sein«, sagte der alte Herr und richtete seine Brille auf den Schornsteinfegermeister, auf dessen schurkischem Gesicht die Brutalität deutlich zu lesen war. Der alte Herr war halb blind und schon ganz kindisch, und man konnte von ihm daher nicht erwarten, dass er erkenne, was anderen auf den ersten Blick auffallen musste.
»Dös will i hoffen, Herr von Vorstand«, sagte Gamfield grinsend.
»Ich setze nicht den mindesten Zweifel in Ihre Worte, mein Freund«, erwiderte der alte Herr, drückte sich die Brille fester auf die Nase und fahndete nach dem Tintenfass.
Es war ein kritischer Augenblick in Olivers Schicksal: hätte das Tintenfass dort gestanden, wo es der alte Herr vermutete, so würde dieser seine Feder eingetaucht und den Vertrag unterfertigt haben, und Oliver wäre ein für allemal »versorgt« gewesen. Da sich das Tintenfass jedoch dicht vor der Nase des alten Herrn befand, übersah es dieser natürlich, suchte überall auf dem Pult herum, ohne es zu finden, und dabei fiel sein Blick auf das bleiche verstörte Gesicht Oliver Twist’s, der trotz aller Ermahnungen und Püffe Mr. Bumbles das Äußere seines zukünftigen Lehrherren mit einem aus Grauen und Furcht gemischten Ausdruck betrachtete.
Der alte Herr hielt sofort inne, legte die Feder aus der Hand und blickte von Oliver zu Mr. Limbkins, der mit unbefangener heiterer Miene eine Priese Schnupftabak zu nehmen versuchte.
»Liebes Kind!« sagte der alte Herr und lehnte sich über das Pult. Oliver fuhr beim Klang seiner Stimme zusammen, denn die Worte waren in so freundlichem Tone gesprochen, dass sie ihn befremden mussten. Er zitterte heftig und brach in Tränen aus.
»Aber Kind«, rief der alte Herr. »Du siehst ja ganz bleich und verstört aus? Was ist dir denn?«
»Treten Sie ein wenig von ihm weg«, sagte der andere alte Herr, legte sein Schriftstück aus der Hand und beugte sich mit einem Ausdruck tiefer Teilnahme vor.
»Also, mein Kind, sag uns, was dir fehlt. Hab keine Furcht.«
Oliver fiel auf die Knie, erhob seine gefalteten Hände und flehte schluchzend, man möge ihn lieber wieder in das dunkle Zimmer zurückbringen und ihn verhungern lassen, ihn schlagen, ihn totschlagen, alles, nur ihn nicht jenem schrecklichen Mann übergeben.

»Ha«, rief Mr. Bumble, hob feierlich die Hände empor und blickte zur Decke auf. »Von allen verstockten niederträchtigen Waisenjungen, die mir je untergekommen sind, ist dieser der verworfenste von allen.«
»Halten Sie den Mund, Kirchspieldiener«, rief der zweite alte Herr, als Mr. Bumble in seiner Rede innehielt.
»Ich bitte Euer Gnaden um Entschuldigung«, stotterte Bumble, der seinen Ohren nicht traute. »Haben Euer Gnaden zu mir gesprochen?«
»Jawohl! Halten Sie den Mund!«
Mr. Bumble war sprachlos vor Entsetzen. Einem Kirchspieldiener zu befehlen, den Mund zu halten! Das hieß ja aller menschlichen Moral ins Gesicht schlagen!
Der alte Herr mit der Schildpattbrille blickte seinen Kollegen an und nickte bezeichnend.
»Wir verweigern, diesen Kontrakt zu bestätigen«, sagte er dann und schob das Papier zur Seite.
»Ich will doch nicht hoffen«, stammelte Mr. Limbkins, »ich will doch nicht hoffen, dass der hohe Gerichtshof der Meinung ist, der löbliche Arbeitsvorstand könne auf das Zeugnis dieses Kindes hin irgendeiner tadelnswerten Handlung bezichtigt werden?«
»Ich sehe mich als Friedensrichter nicht berufen, darüber irgendeine Meinung abzugeben«, erwiderte der alte Herr. »Nehmen Sie den Knaben wieder mit heim und behandeln Sie ihn gut. Er scheint es sehr nötig zu haben.«
Am selben Abend noch gab der Gentleman mit der weißen Weste nicht nur die positive Versicherung ab, Oliver würde bestimmt noch einmal an den Galgen kommen, sondern er fügte sogar die Prophezeiung hinzu, man werde ihn vorher noch schinden und vierteilen. Auch Mr. Bumble schüttelte geheimnisvoll den Kopf und äußerte den Wunsch, Oliver werde sich dereinst im Leben noch bessern, während Mr. Gamfield bedauerte, ihn nicht in seine Klauen bekommen zu haben. Am nächsten Morgen wurde abermals durch einen Anschlagzettel kundgegeben, dass Oliver Twist »zu haben sei«, und dass jeder, der ihn nehmen wolle, dafür fünf Pfund bekäme.
1 Sinekure (verkürzt zu lateinisch sine cura animarum »ohne Sorge für die Seelen«, d. h. ohne Verpflichtung zur Seelsorge) bezeichnet ein Amt, mit dem Einkünfte, aber keine Amtspflichten verbunden sind. <<<