Kitabı oku: «Oliver Twist», sayfa 7
12 – Oliver findet eine bessere Pflege als je zuvor, und unsere Geschichte kehrt wieder zu dem menschenfreundlichen Mr. Fagin und seinen jungen Schützlingen zurück.
Der Wagen rasselte davon, fast auf demselben Weg, den Oliver durchwandert hatte, als er in der Gesellschaft des Baldowerers zum ersten Mal London betreten, erreichte dann den »Engel« in Islington und hielt schließlich vor einem hübschen saubern Haus in einer stillen schattigen Straße in der Nähe von Pentonville. Hier brachte Mr. Brownlow seinen jungen Schützling sofort zu Bett und ließ ihm eine Pflege und Behandlung angedeihen, – so liebvoll, wie dieser sie noch nie im Leben gehabt hatte.
Eine ganze Woche verging, und immer noch lag Oliver fiebernd und fantasierend auf seinem Lager. Schwach, abgemagert und bleich erwachte er endlich aus einem Schlaf, der ein langer quälender Traum gewesen zu sein schien. Matt erhob er sich in seinem Bett und sah sich ängstlich um.
»Wo bin ich? Wo hat man mich hingebracht?« fragte er. »Das ist doch nicht der Ort, wo ich umgefallen bin.«
Eilig wurde der Vorhang am Kopfende des Bettes zurückgezogen, und eine mütterlich aussehende alte Dame stand auf und beugte sich über ihn.
»Still, still, Kind«, flüsterte sie. »Du musst dich ruhig verhalten, sonst wirst du wieder krank. Du warst schon nahe am Tode, denk bloß. Leg dich nur wieder hin – komm, sei ein liebes Kind.«
Mit diesen Worten legte die alte Dame Olivers Kopf zurück, strich ihm das Haar aus der Stirn und sah ihm so menschenfreundlich ins Gesicht, dass er seine abgezehrte Hand in die ihre legen und ihren Arm um seinen Hals schlingen musste.
»O du lieber Himmel«, rief die alte Dame mit tränenden Augen, »was das für ein dankbares kleines Wesen ist. Was würde wohl seine Mutter fühlen, wenn sie so neben ihm säße, wie ich jetzt, und ihn sehen könnte.«
»Vielleicht sieht sie mich«, hauchte Oliver die Hände faltend. »Vielleicht hat sie bei mir gesessen die ganze Zeit über. Ich glaube wirklich, es war so.«
»Du hast gefiebert, Kind«, sagte die alte Dame milde.
»Ich glaube auch, ich habe gefiebert«, antwortete Oliver. »Der Himmel ist doch so weit weg, und sie sind so glücklich dort, – viel zu glücklich, um an das Bett eines armen Jungen zu kommen. Aber wenn sie gewusst hat, dass ich krank war, so muss es ihr sehr nahe gegangen sein, denn sie war ja auch sehr krank, ehe sie starb. Aber sie kann doch nicht gut etwas von mir wissen«, setzte er nach einer Weile hinzu. »Hätte sie gesehen, was man mir angetan hat, so wäre sie betrübt darüber gewesen. Und sie hat doch so glücklich ausgesehen, so oft ich von ihr träumte.«
Die alte Dame gab keine Antwort, wischte sich nur die Augen und dann die Brille ab, die sie auf die Bettdecke gelegt hatte – ganz so, als ob die Brille und ihre Augen unbedingt zusammengehörten -, dann brachte sie Oliver ein beruhigendes Getränk, tätschelte ihm die Wange und sagte ihm, er müsse sehr ruhig liegen, damit er nicht wieder krank werde.
Oliver gehorchte sofort, teils, weil er um alles in der Welt die gute alte Dame nicht gekränkt hätte, und dann auch, weil ihn die wenigen Worte, die er gesprochen, wirklich vollständig erschöpft hatten. Er verfiel bald in eine Art Halbschlummer, aus dem er erst durch den Schein einer Kerze geweckt wurde, die ihm, in die Nähe des Bettes gebracht, einen Herrn zeigte, der in der einen Hand eine Uhr hielt und mit der anderen seinen Puls befühlte und dann behauptete, dass es ihm schon weit besser ginge.
»Es geht dir doch auch besser, nicht wahr, Kind?« fragte der Herr.
»Ja, ich danke, Sir«, erwiderte Oliver.
»Natürlich, ich weiß doch, dass es dir besser geht«, sagte der Doktor. »Du bist auch selbstverständlich hungrig.«
»Nein, Sir«, antwortete Oliver.
»Hm«, flüsterte der Arzt. »Nein? Natürlich ja; ich weiß doch, dass du gar nicht hungrig bist. Er ist nicht hungrig, Mrs. Bedwin«, sagte er dann und legte seine Stirn in tiefe Weisheitsfalten.
Die alte Dame machte eine achtungsvolle Verbeugung, die besagen sollte, dass sie den Doktor für einen ungemein gescheiten Herrn halte. Der Doktor schien von sich selbstverständlich die gleiche Ansicht zu haben.
»Du bist also schläfrig, nicht wahr, Kind?« fragte er weiter.
»Nein«, antwortete Oliver.
»Nein«, sagte der Doktor mit pfiffiger Miene, »du bist nicht schläfrig. Auch nicht durstig natürlich, wie?«
»Doch, Sir, ziemlich durstig«, antwortete Oliver.
»Ganz wie ich erwartete, Mrs. Bedwin«, sagte der Arzt, »selbstverständlich muss er durstig sein. Sie können ihm ein wenig Tee geben, liebe Mrs. Bedwin, und etwas trocknes Brot, aber ja keine Butter. Halten Sie ihn nicht zu warm, Mrs. Bedwin, geben Sie aber auch acht, dass er nicht friert. Werden Sie sich das alles merken?«
Die Dame knixte. Der Arzt kostete das kühlende Getränk, sprach seine Billigung darüber aus und schritt von dannen. Seine Stiefel knarrten, wie er die Treppe hinunterstieg, sehr laut und verrieten, was für eine hochwichtige Person in ihnen stack.
Oliver schlummerte wieder ein, und als er erwachte, war es beinahe zwölf Uhr. Zärtlich sagte ihm die alte Dame Gute Nacht und übergab ihn der Obhut einer dicken alten Frau, die eben eingetreten war mit einem kleinen Bündel und darin einem dünnen Gebetbuch und einer bauschigen Nachtmütze. Als sie letztere auf den Kopf gesetzt und ersteres neben sich auf den Tisch gelegt, erzählte sie Oliver, sie sei hergekommen, um bei ihm zu wachen. Dann zog sie ihren Stuhl an den Kamin und schlief ein. Wachte auch nicht mehr auf, höchstens für eine Sekunde, wenn sie vor Schnarchen beinahe erstickte. Aber jedes Mal rieb sie sich dann tüchtig die Nase und schien weiter keinen Schaden genommen zu haben.
So verging langsam die Nacht. Eine Zeit lag Oliver wach, dann fing er an, die kleinen Lichtkreise zu zählen die der Lampenschirm auf die Decke warf, oder verfolgte mit müdem Blick das verworrene Tapetenmuster. Bei dem Düster und der feierlichen Stille, die in der Stube herrschten, drängten sich ihm die Gedanken auf, wie viel Tage und Nächte der Tod hier gespuckt haben mochte, und dass er vielleicht jetzt noch das Zimmer mit der ganzen Schwermut seiner furchtbaren Gegenwart erfülle. Und er drückte sein Gesicht in die Kissen und betete inbrünstig zu Gott.
Allmählich verfiel er in einen tiefen ruhigen Schlummer, den nur das Gefühl, schweres Leid hinter sich zu haben, verleiht; – jene friedliche Ruhe, aus der zu erwachen Schmerz bedeutet. Wäre sie der Tod, wer würde gern daraus wiedererwachen zu all den Kämpfen und Mühsalen des Lebens und zu der Bangigkeit vor der Zukunft, zu all den trüben Erinnerungen, die aus der Vergangenheit wieder auferstehen!
Es war schon lange heller Tag, als Oliver die Augen aufschlug, und er fühlte sich froh und zufrieden, war doch die Krisis glücklich überstanden, und er gehörte wieder der Welt an.
Nach drei Tagen war er wieder fähig, in einem Lehnstuhl zu sitzen, den man ihm gut mit Kissen ausgestopft hatte und den Mrs. Bedwin selbst die Treppen hinunterschleppte in das kleine Haushälterinnenstübchen, das sie bewohnte. Dort saß nun Oliver neben dem Ofen, und die gute alte Dame setzte sich zu ihm und fing vor Freude, ihn wieder so wohl zu sehen, laut an zu weinen.

»Achte nicht auf mich, liebes Kind«, sagte sie, »ich weine mich nur gern von Zeit zu Zeit ein bisschen aus; jetzt ist es schon vorüber, und ich bin wieder ganz froh und vergnügt.«
»Sie sind so freundlich gegen mich«, sagte Oliver.
»Denke nicht darüber nach, mein Kind«, wehrte ihm die alte Dame. »Denke lieber an deine Suppe, denn es ist höchste Zeit, dass du wieder einmal etwas isst. Der Herr Doktor hat gesagt, Mr. Brownlow könne heute früh vorsprechen und dich besuchen, und da musst du ihm ein glückliches und zufriedenes Gesicht zeigen, damit er sich darüber freut.« Dann wärmte die alte Dame in einem Kessel ein wenig Fleischbrühe, die nach Olivers Ansichten an Kraft für mindestens dreihundertfünfzig Armenhäusler – gering geschätzt – ausgereicht hätte.
»Siehst du gerne Bilder, mein Kind?« fragte die alte Dame, als sie sah, wie Oliver gespannt auf ein Porträt blickte, das ihm gegenüber an der Wand hing.
»Ich weiß es nicht, Mrs. Bedwin«, sagte Oliver, ohne die Augen von dem Bild wegzuwenden. »Ich habe so wenig gesehen, dass ich es kaum zu sagen weiß. Was für ein schönes freundliches Gesicht die Dame dort hat.«
»Ach«, seufzte die alte Frau, »die Maler machen doch die Damen immer viel hübscher, als sie wirklich sind. Na ja, sonst würde sich auch niemand malen lassen, mein Kind. Der Mann, der den Apparat erfunden hat, mit dem man jede Ähnlichkeit hervorbringt, hätte wissen müssen, dass er damit kein Geschäft machen kann. Es ist ein viel zu ehrliches Handwerk. Viel zu ehrlich«, wiederholte die alte Dame und lachte herzlich über ihren Scharfsinn.
»Ist das – das Bild ähnlich, Mrs. Bedwin?« fragte Oliver.
»Ja«, sagte die alte Dame und blickte einen Augenblick von der Suppe auf. »Es ist doch ein Porträt.«
»Von wem?«
»Das kann ich dir wirklich nicht sagen, Kind«, antwortete die alte Dame gut gelaunt. »Es hat wohl mit niemand Ähnlichkeit, den ich oder du kennen. Es scheint dich zu interessieren, Kleiner?«
»Es ist so wunderschön.«
»Du fürchtest dich doch nicht am Ende davor?« fragte die alte Dame, als sie bemerkte, dass etwas wie Leid oder Schmerz im Blick Olivers lag.
»O, nein, nein«, beteuerte Oliver rasch. »Aber ihre Augen sehen so betrübt drein, und wo immer ich hinschaue, immer scheinen sie auf mich gerichtet zu sein. Das Herz schlägt mir dabei«, setzte er mit leiser Stimme hinzu. »Gerade, als ob die Dame noch am Leben wäre und mit mir sprechen wollte, aber nicht könnte.«
»Gott im Himmel«, rief die alte Dame erstaunt, »was sprichst du denn da, Kind? Du bist noch sehr angegriffen von deiner Krankheit. Ich will dir den Stuhl auf die andere Seite rollen, dann siehst du es nicht immer. – So«, sagte sie und ließ ihren Worten die Tat folgen, »jetzt kannst dus nicht mehr sehen.«
Aber immer noch sah Oliver im Geiste das Bild vor sich, schwieg jedoch darüber, um der alten Dame keinen Kummer zu bereiten, sondern machte ein freundliches glückliches Gesicht. Mrs. Bedwin, die sich darüber sehr freute, schüttete in die Suppe Salz, brockte geröstete Semmelschnitten hinein und reichte sie dann Oliver, der sie heißhungrig verschlang. Er hatte kaum den letzten Löffel geschlürft, als es leise an die Türe klopfte und Mr. Brownlow eintrat.
Wie gewöhnlich hatte der alte Herr die Brille auf die Stirn geschoben und die Hände in den Schößen seines Schlafrockes verborgen. Er warf jetzt einen bedächtigen langen Blick auf Oliver und machte sofort ein höchst bestürztes Gesicht, denn Oliver sah eher aus wie ein Schatten, als wie ein lebender Junge, und bei seinem Versuch, seinen Wohltäter zu begrüßen, sank er vor Schwäche wieder in seinen Stuhl zurück. Mr. Brownlow, dessen Herz so weit war, dass es für mindestens sechs alte philanthropisch gesinnte Herren ausgereicht hätte, traten sofort die Tränen in die Augen.
»Armer Junge, armer Junge«, murmelte er und räusperte sich, um seine Rührung zu verbergen. »Ich bin wieder schrecklich heiser heute Morgen, Mrs. Bedwin. Ich fürchte, ich habe mich erkältet.«
»Ich will doch nicht hoffen, Sir«, sagte Mrs. Bedwin. »Ich habe mich selbst überzeugt, dass Ihre Kleider, bevor Sie sie anzogen, ganz trocken waren.«
»Ich weiß, ich weiß, Mrs. Bedwin«, beschwichtigte Mr. Brownlow. »Aber ich fürchte, die Serviette gestern Mittag muss ein wenig feucht gewesen. Doch lassen wir das. Wie geht es dir, Kleiner?«
»O, ich bin so glücklich, Sir«, antwortete Oliver, »und bin Ihnen so von Herzen dankbar für all das Gute, das Sie mir erwiesen haben, Sir.«
»Braver Junge«, sagte Mr. Brownlow stolz und würdig. »Haben Sie ihm denn auch etwas Gutes zu essen gegeben, Mrs. Bedwin? Doch nicht etwa Wassersuppe?«
»Soeben einen Teller schöne kräftige Fleischbrühe, Sir«, antwortete Mrs. Bedwin ein wenig gekränkt, dass man ihr zumutete, sie werde dem Patienten Wassersuppe reichen.
»Brrrr«, sagte Mr. Brownlow mit einem leichten Schauder, »ein paar Gläser Portwein wären noch viel besser gewesen, was meinst du, Tom White?«
»Ich heiße Oliver, Sir«, antwortete der kleine Patient und sah Mr. Brownlow erstaunt an.
»Oliver?« wiederholte Mr. Brownlow. »Oliver? Oliver White also.«
»Nein, Sir. Twist, Oliver Twist.«
»Kurioser Name«, rief der alte Herr. »Weshalb hast du denn dem Kommissär gesagt, du hießest White?«
»Das habe ich ihm nicht gesagt, Sir«, antwortete Oliver erstaunt.
Das klang so offenkundig wie eine Lüge, dass der alte Herr Oliver erstaunt anblickte, aber das Gesicht des kleinen Patienten trug so offen den Stempel der Wahrheit, dass Mr. Brownlow sofort jeden Zweifel fallen ließ.
»Also ein Irrtum«, brummte er. Dann plötzlich sah er den Kleinen wieder starr an, der Gedanke an eine Ähnlichkeit mit einem Gesicht, das er irgendwo gesehen, drängte sich ihm übermächtig auf.
»Sie sind doch nicht böse auf mich, Sir?« fragte Oliver schüchtern?
»Nein, nein«, rief der alte Herr schnell. »Gott, was sehe ich«, setzte er schnell hinzu. »Bedwin, schauen Sie doch nur!«
Dabei deutete er hastig auf das Porträt, das über Olivers Kopf hing, dann auf dessen Gesicht. Eins war die Kopie des anderen: Augen, Kopf, Mund, kurz jeder Zug: derselbe. Die Ähnlichkeit war so frappant, dass man wirklich verdutzt sein musste.
Oliver konnte sich den Grund der plötzlichen Erregung des alten Herrn nicht erklären, es brauste ihm vor den Ohren, alles drehte sich um ihn, und schwach, wie er von der überstandenen Krankheit war, sank er plötzlich in Ohnmacht.
*
Als der Baldowerer und Master Charley Bates sich unter dem Ruf »Haltet den Dieb« sich der Hetzjagd angeschlossen, bogen sie plötzlich in ein Gewirr von engen Gassen und Höfen ab und blieben schließlich atemlos in einer niedrigen finsteren Torflur stehen. Dann platzte Charley Bates mit einem brüllenden Gelächter heraus, ließ sich auf eine Türstufe fallen und wälzte sich außer sich vor Vergnügen hin und her.
»So hör doch schon auf, dummes Luder«, brummte der Baldowerer und blickte sich scheu um.
»Ich kann mich nicht halten, hohoho«, brüllte Charley. »Wie er so dahingesaust ist und alle Augenblicke angeprallt ist gegen einen Laternenpfahl, grad als ob er auch aus Eisen wär – hohoho – und ich mit dem Riegerlappen im Sack – hohoho -« und wieder wälzte sich Master Bates vor Lachen auf der Türschwelle.
»Was meinst du wohl, was wird Fagin sagen?« fragte der Baldowerer.
»Na, was soll er denn sagen?«
»Ja eben, das ists doch.«
»Meinst du, er wird was sagen?« fragte Master Charley und hielt in seiner Heiterkeit plötzlich inne, denn das Benehmen seines Kollegen wirkte beängstigend auf ihn.
Mr. Dawkins pfiff ein paar Sekunden durch die Zähne, dann nahm er den Hut vom Schädel, kratzte sich und nickte bedenklich.
»Na, so sag, was du meinst«, drängte Master Charley.
»Ach was, kann mir schließlich auch wurst sein«, brummte der Baldowerer, und ein flüchtiges Grinsen überflog sein listiges Gesicht. Dann nahm er die Schöße seines langen Rocks unter dem Arm zusammen, schlug sich ein paarmal bedeutungsvoll auf die Nase, drehte sich auf dem Absatz um und schlich, von Charley Bates gefolgt, stumm durch den Hof davon. Nicht lange darauf schritten beide die knarrenden Stufen zu dem alten Philanthropen empor, der gerade über seinen Herd gebeugt, ein kleines Stück Brot und ein Würstchen in der Linken und ein Taschenmesser in der Rechten, vor sich auf einem Schemel einen zinnernen Krug dasaß, während ein schurkiges Lächeln sein fahles Gesicht überzog. Gespannt horchte er bei dem Geräusch auf und zog seine dichten roten Augenbrauen zusammen.
»Hallo, was ist das«, murmelte er und wurde totenblass. »Nur zwei? Was soll das heißen? Soll da was faul sein?«
Die Fußtritte kamen immer näher, erreichten die Schwelle, die Türe ging leise auf, und der Baldowerer und Charley Bates traten ein.
13 – Einige neue Personen werden vorgestellt.
»Wo ist Oliver?« rief der Jude und stand mit drohender Miene auf. »Wo ist der Lausbub?«
Die beiden jungen Taschendiebe blickten ihren Lehrmeister betreten an, warfen sich dann einen unsichern Blick zu und schwiegen.
»Also, was is geworden aus dem Jüngel?« fragte der Jude und packte den Baldowerer wütend beim Kragen. »Eraus damit oder ich erdrossel euch.«
Es schien ihm mit seiner Drohung fürchterlich ernst zu sein, und Charley Bates reterierte an die Wand, sank dann in die Knie und erhob ein lautes langandauerndes Geheul.
»Also eraus damit«, kreischte der Jude und schüttelte den armen Baldowerer derart, dass er fast aus seinem Rock herausgeschleudert wurde.
»No, zum Teufel, erwischt haben sie ihn halt«, sagte der Baldowerer mürrisch. »Aber jetzt lassen Sie mich endlich los.« Dabei riss er sich mit einem Ruck aus seinem weiten Kittel, den der Jude in den Händen behielt, erfasste die Röstgabel und machte einen heftigen Ausfall auf die Weste des alten Philanthropen, der, wenn er nicht glücklicherweise daneben gegangen wäre, böse Folgen hätte nach sich ziehen können.
Mit einer Behändigkeit, die man ihm nicht zugetraut haben würde, fuhr der alte Jude zurück, packte einen Krug und wollte ihn gerade dem Baldowerer an den Kopf werfen, als eine tiefe Stimme rief:
»Ja, Himmel Herrgott Donnerwetter, was ist denn heut hier los! Wer schmeißt denn da nach mir?« – der Krug hatte nämlich einen vierschrötigen, ungefähr fünfunddreißig Jahre alten Mann in einem Samtrock mit weiten grauen Hosen, halblangen Schnürstiefeln und grauen Baumwollstrümpfen, der eben hereingetreten war, vor die Brust getroffen. Der Mann besaß ein paar wuchtige Beine, die den unbestimmten Eindruck auf den unbefangenen Zuschauer machten, als fehlte irgendein Schmuck daran, vielleicht eine Art Garnitur von Gefängnisketten oder Zuchthausfesseln. Auf dem Kopf trug er einen braunen Hut und um den Hals ein schmutziges buntseidenes Tuch, mit dessen langen ausgefransten Zipfeln er sich während seiner Worte das Bier, das aus dem Krug ihm ins Gesicht gespritzt war, abwischte. Als er damit fertig war, kam ein breites plumpes Gesicht zum Vorschein mit ein paar wilden Augen, von denen das eine wahrscheinlich von einem jüngst erlittenen Schlag gelb und blau war.
»Herein mit dir, verdammte Bestie«, brummte dieser liebenswürdige Gentleman über die Schulter, und gleich darauf schlich sich ein weißer zottiger Köter mit Bissnarben am ganzen Körper in die Stube. »Bischen dalli, ja? verdammtes Vieh; wirst wohl langsam zu stolz, um deinen Herrn zu respektieren? Kusch dir.«
Der Befehl wurde von einem Fußtritt begleitet, der den Hund bis ans andere Stubeneck beförderte, woraus sich dieser aber sich nicht viel zu machen schien, denn er zwickerte nur grimmig mit seinen bös dreinblickenden Augen und fing an, das Zimmer zu beschnuffeln.
»Also, was ist mit dir los? Behandelst wohl deine Jungens schlecht, alter Filz?« brummte der Mann und setzte sich bedachtsam nieder. »Wundert mir bloß, dass sie dir nicht längst totjeschlagen haben. Ick an ihrer Stelle hätt es längst jetan. Allerdings, verkaufen hätte ich deine schäbigen Überbleibsel nich können, höchstens dass se dir uf der Anatomie deiner Schönheit wegen in Spiritus jesetzt hätten.«
»Still, still, Mr. Sikes«, sagte der Jude zitternd, »sprechen Sie nicht so laut.«
»Ach was ›Mr.‹ – hier wird nicht gemistert«, knurrte der Strolch. »Du hast immer ne besondere Jemeinheit vor, wenn du anfängst, den Menschen zu bemistern. Du kennst doch meinen Namen; also keine langen Schmonzes.«
»Na, also gut: Bill Sikes«, sagte der Jude demütig, »Sie scheinen heite nicht gut gelaunt zu sein, Bill.«
»Kommt mir auch so vor«, brummte Sikes. »Sie scheinen übrigens auch nicht bester Laune zu sein; wenigstens wüsste ich nicht, weshalb da sonst hier Bierkrüge rumfliegen. Sie tun ja rein, als ob schon alles ans Licht gekommen wäre.«
»Sind Sie toll!« fuhr der Jude auf, packte Sikes am Ärmel und deutete auf die beiden Jungen.
Der Strolch begnügte sich damit, sich pantomimisch einen Strick um den Hals zu legen – ein Gebärdenspiel, das der Jude genau zu verstehen schien -, und verlangte dann höchst nachdrücklich in unverständlicher Gaunersprache, man solle ihm ein Glas Schnaps kredenzen.
»Aber gefälligst kein Gift einschütten«, setzte er hinzu und legte seinen Hut auf den Tisch.
Er schien im Scherz gesprochen zu haben; hätte er aber den bösen Blick gesehen, den der Jude ihm zuwarf, wie er sich an seinem Schranke umdrehte, würde er seine Warnung gewiss nicht für ganz unnötig gehalten haben. Nachdem er sodann ein paar Gläser Schnaps in der Eile hinter die Binde gegossen, fing er an, von den beiden junge Gentlemen näher Notiz zu nehmen, und ließ sich von ihnen den Verlauf von Olivers Verhaftung umständlich erklären.
»Ich fürchte«, jammerte der Jude, »er wird da Sachen erausplauschen, die uns in das größte Schlammassel bringen können.«
»Sie scheinen ja eine Mordsangst zu haben«, höhnte Sikes mit boshaftem Grinsen. »Sie sind ja schon halb tot vor Angst, Fagin.«
»Sehen Sie, ich wieder nicht«, erwiderte der Jude, »ich fürcht bloß, dass noch ganz andere Leinte als ich in den Saft ereinkommen, lieber Freind.«
Der Strolch stutzte und fuhr auf. Der alte Herr hatte jedoch seine Schultern bis zu den Ohren heraufgeschoben, spielte sich auf den Zerstreuten und blickte nur starr an die Wand.
Es trat eine lange Pause ein. Jeder einzelne saß tief in Betrachtungen versunken – sogar der Hund, der sich boshaft, seine Schnauzhaare leckend, nachzugrübeln schien, wem er wohl zuerst an die Beine fahren dürfte. »Wir müssen erausbaldowern, was bei der Polizei vorgegangen ist«, sagte Mr. Sikes viel leiser, als er bisher gesprochen.
Der Jude nickte beistimmend. »Wenn er nicht geschwätzt hat und eingesperrt ist, ists weiter nicht gefährlich, bis er wieder draußen ist«, sagte Mr. Sikes, »aber dann müssen wir ihn sofort zu packen kriegen. So oder so.«
Der Jude nickte.
Der Rat war offenbar gut, nur die Ausführung schien schwierig, da sie alle vier eine unüberwindliche Abneigung an den Tag legten, sich in die Nähe der Polizeiwachstube zu begeben. Verlegen blickten sie einander an, da traten die beiden jungen Damen ein, deren Bekanntschaft Oliver vor einigen Tagen gemacht hatte. »Nu also da hamersch ja«, sagte der Jude. »Betsey wird hingehn. Was meinen Sie dazu, Betsey?«
»Wo denn hin?« fragte die junge Dame.
»Ihnen gesagt, bloß ä bissel auf der Polizei«, schmeichelte der Jude.
Die junge Dame war zu feinfühlend, um die Bitte direkt abzuschlagen, sondern brummte nur, sie wolle lieber verdammt sein, als so einen Blödsinn zu begehen.
Der Jude ließ den Kopf hängen, dann wendete er sich zu der anderen jungen Dame, die sehr flott, um nicht zu sagen auffällig angezogen war und einen roten Rock und grüne Stiefel, sowie gelbe falsche Locken trug.
»Nancyleben«, sagte er eindringlich, »nu was is, was meinen Sie dazu?«
»Es jeht einfach nich, es ist dummes Zeug; wozu lange rumquatschen, Fagin«, antwortet Nancy.
»Was soll das heißen«, fragte Mr. Sikes und blickte mürrisch auf.
»Genau was ich sage, Bill«, erwiderte die junge Dame gefasst.
»Gerade du könntest so was am besten machen«, hielt ihr Mr. Sikes vor, »gerade hier im Distrikt kennt dich kein Mensch.«
»Gerade deswegen, weil mir niemand kennt, hab ik keene Lust, mir durchsichtig zu machen«, antwortete Nancy charakterstark. »Wenn ik mal sage: ›ne‹, kannst de dir drauf verlassen, dass ik bei dieser Meinung bleibe, Bill.«
»Sie wird gehen, Fagin«, sagte Mr. Sikes kühn.
»Ne – wird se nich, Fagin«, sagte Nancy.
»Jawohl, sie wird gehen, Fagin«, beharrte Sikes auf seiner Ansicht.
Und Mr. Sikes behielt recht. Durch Drohungen, allerlei Versprechungen und Geld wurde schließlich die junge Dame überredet, den Auftrag zu übernehmen; allerdings lief sie weniger Gefahr als ihre liebreizende Kollegin, denn sie war erst vor kurzem nach der ein wenig abgelegnen, aber nichtsdestoweniger vornehmen Vorstadt Ratcliffe in der Nähe von Field Lane übersiedelt und brauchte daher nicht zu befürchten, irgendeinem unliebsamen Bekannten zu begegnen.
Nachdem sie sich eine weiße Schürze über ihr Kleid gebunden und die falschen Locken unter einem Strohhut glücklich verstaut hatte – zwei Garderobestücke, mit denen sie sich aus der unerschöpflichen Schatzkammer des Juden versorgte -, traf sie Anstalten, den übernommenen Auftrag auszuführen.
»Warten Se noch e bissel«, sagte der Jude und brachte einen kleinen Deckelkorb herbeigeschleppt, »tragen se das da in der Hand, es sieht anständiger aus, mein Kind.«
»Einen Hausschlüssel könnten Sie ihr auch noch geben, – den kann sie in der anderen Hand halten«, riet Sikes, »so was macht sich ungemein solid.«
»Ich soll so leben«, rief der Jude entzückt und hing der jungen Dame rasch einen Hausschlüssel an den Zeigefinger. »Gott, wie Ihnen das fein steht, mein Kind«, jubelte er und rieb sich begeistert die Hände.
»O Gott, o Gott, mein armer süßer kleiner Bruder«, rief Nancy, brach sofort in Tränen aus und umkrampfte den kleinen Deckelkorb und den Hausschlüssel mit den Händen. »Wo ist er nur hingekommen, wo haben Sie ihn hingebracht, ach, haben Sie doch Mitleid und sagen Sie mir, Euer Gnaden, was Sie mit dem armen Jungen gemacht haben, bitte, bitte.«
Nachdem Nancy zum größten Entzücken den Anwesenden diese Rolle tiefsten inneren Wehs vorgemimt, nickte sie den Herren lächelnd zu und lief hinaus.
»Hihihi«, lachte der Jude, »is das e gescheite Schickse.« Dann wendete er sich seinen jungen Freunden zu, schüttelte gewichtig das Haupt und ermahnte sie stumm, dieses leuchtenden Beispiels eingedenk zu sein.
»Sie ist eine Ehre ihres Geschlechtes«, sagte Mr. Sikes, füllte sein Glas und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Auf ihr Wohl. Ich wollte, sie wären alle so wie die.«
Inzwischen hatte die junge Dame bereits ein hübsches Stück Wegs zum Polizeiamt zurückgelegt und langte bald darauf, allerdings mit einer gewissen natürlichen Befangenheit, die sich aus dem Umstande erklärte, dass sie allein und schutzlos durch die Straßen gegangen, an ihrem Ziele an. Durch das Hintertor eintretend, klopfte sie leise mit ihrem Hausschlüssel an eine Zellentür und horchte. Als sich nichts hören ließ, hüstelte sie und lauschte dann wieder. Da immer noch keine Antwort erfolgte, rief sie endlich:
»Nolly, lieber Klener, Nolly, hörst de nich?«
Es war aber niemand drin als ein armer Strolch ohne Schuhe, den man verhaftet hatte, weil er öffentlich die Flöte geblasen und jetzt von Mr. Fang wegen dieses Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung zu einem vierwöchentlichen Aufenthalt in der Besserungsanstalt gewonnen worden war. Der Treffliche hatte bei Fällung des Urteilsspruches den belehrenden Ausspruch getan, der Kerl könne, wenn er so viel Atem habe, seine Kräfte am besten in der Tretmühle verwenden. Der Strolch war jetzt innerlich damit beschäftigt, den Verlust seiner Flöte zu beklagen, die man zugunsten des Kriminalmuseums mit Beschlag belegt hatte. Nancy ging zur nächsten Zelle und klopfte dort.
»Ja? Was ist?« rief eine schwache Stimme.
»Is ’n klener Junge drin?« fragte Nancy mit einem einleitenden Seufzer.
»I wo«, antwortete die Stimme, »Jott bewahre.«
Sie gehörte einem Landstreicher von ungefähr fünfundvierzig Jahren an, den man ins Gefängnis gesteckt hatte, wahrscheinlich, weil er nicht die Flöte geblasen und überhaupt alles versäumt hatte, was zur Erwerbung seines Lebensunterhalts von Vorteil gewesen wäre. In der Zelle nebenan saß wieder ein Mensch, der ebenfalls eingesperrt werden sollte, weil er ohne Hausierschein mit Blechpfannen hausiert hatte, also doch etwas zur Erwerbung seines Lebensunterhaltes getan hatte, allerdings ohne die Steuerbehörde dabei genügend zu berücksichtigen.
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