Kitabı oku: «Oliver Twist», sayfa 3
4 – Oliver erhält eine Stelle und tritt ins öffentliche Leben ein.
Die Herren Vorstände hatten Mr. Bumble beauftragt, sich zu erkundigen, ob nicht vielleicht ein Stromschiffer einen Lehrjungen brauche. Es war im Allgemeinen üblich, Waisenkinder oder solche, die man gern loswerden wollte, zur See zu schicken. Als der Kirchspieldiener zurückkehrte, traf er vor dem Tore zufällig Mr. Sowerberry, den Leichenbestatter des Kirchspiels. Mr. Sowerberry war ein großer hagerer knochiger Mann in einem schwarzen fadenscheinigen Anzug, mit schäbigen Baumwollstrümpfen gleicher Farbe und dementsprechendem Schuhzeug angetan. Schon von Natur aus trugen seine Züge nicht gerade einen lächelnden Ausdruck, aber zufällig befand er sich heute in der heitern Laune, die sein Gewerbe mit sich brachte. Sein Schritt war elastisch, und sein Antlitz zeugte von innerem Frohsinn, wie er so auf Mr. Bumble zuschritt und ihm herzlich die Hand schüttelte.
»Ich habe den beiden Frauen Maß genommen, die wo gestern Nacht gestorben sin, Mr. Bumble«, sagte er.
»Sie werden noch mal ein reicher Mann werden, Mr. Sowerberry«, bemerkte Mr. Bumble und steckte Daumen und Zeigefinger in die hingereichte Schnupftabaksdose des Leichenbestatters, die sinnig ein kleines Modell eines Sarges darstellte. »Ich sags immer, Sie werden noch einmal ein reicher Mann, Mr. Sowerberry«, wiederholte Mr. Bumble und klopfte dem Leichenbestatter vertraulich auf die Schulter.
»Glauben Sie?« fragte der Leichenbestatter in einem Ton, halb zustimmend, halb ablehnend. »Die Kosten, die wo mir die Herren Vorstände bewillichen, sin sehr niedrich.«
»Ihre Särge aber auch«, erwiderte der Kirchspieldiener und verzog sein Gesicht zu einem Lächeln, das seiner hohen Stellung angemessen war.
Mr. Sowerberry fühlte sich durch diese Herablassung nicht wenig geschmeichelt und lachte eine Weile geziemend.
»Nun ja, Mr. Bumble«, sagte er schließlich. »Zu leuchnen ist freilich nich, dass seit Einführung des neuen Systems die Särge niedricher und kürzer geworden sind, als sie sonst waren, aber schließlich muss man sie doch haben, Mr. Bumble. Gutes trocknes Holz ist nich billich und die Beschläge beziehe ich direkt aus den Eisenfabriken in Burmingham.«
»Jawohl, jawohl, ich weiß, ich weiß«, sagte Mr. Bumble. »Jedes Geschäft hat so seine kleinen Kniffe, und das nimmt man auch nicht übel.«
»Natürlich nich, natürlich nich«, stimmte der Leichenbestatter ein. »Wenn auch bei meinem Artikel nich viel zu verdienen is, so muss ich eben schauen, es anderswo wieder hereinzubringen – hihihi.«
»Sehr richtig«, sagte Mr. Bumble. »Übrigens so nebenbei: wissen Sie nicht jemanden, der einen Lehrjungen brauchen könnte; einen Jungen aus dem Arbeitshaus, einen, der uns nicht vom Hals geht, und den wir am Bein haben wie eine Kette. Feine Bedingungen, Mr. Sowerberry! Sehr feine Bedingungen!« dabei deutete Mr. Bumble mit seinem Stock auf den Zettel, der auf dem Tor klebte, und führte drei nachdrückliche Schläge gegen die Worte »fünf Pfund«, die dort mit großen Lettern zu lesen waren.
»Saperment, Saperment«, rief der Leichenbestatter und fasste Mr. Bumble an einem seiner goldnen Knöpfe. »Darüber wollte ich gerade mit Ihnen sprechen. Übrigens alle Achtung, was für ein eleganter Knopf ist das, Mr. Bumble. Den habe ich ja noch nie an Ihnen gesehen.«
»Ja, ja, er ist ganz hübsch«, sagte der Kirchspieldiener und blickte mit Stolz auf seine großen Metallknöpfe. »Und das Wappen des Kirchspiels ist drauf. Sie sehen: der barmherzige Samariter, wie er sich des Kranken annimmt. Die Herren Vorstände verliehen mir das Wappen an jenem Morgen, Mr. Sowerberry, als ein Arbeiter damals infolge Übernachtens in einem Torwege erfroren war.«
»Ja, ja, ich erinnere mich«, sagte der Leichenbestatter. »Die Leichenbeschaukommission fällte damals den Spruch: gestorben infolge Erfrierens und aus Mangel an den gewöhnlichsten Lebensbedürfnissen. Wars nich so?«
Mr. Bumble nickte. »Ja, ja, die Leichenbeschauer«, sagte er und fasste seinen Stock fester, – was er immer tat, wenn er ärgerlich wurde. »Unsre Leichenbeschauer sind ein ganz ungebildetes dummes Pack.«
»Ja, das stimmt«, erwiderte Sowerberry.
Mr. Bumble nahm seinen Dreispitz ab, nahm das darin befindliche Taschentuch und wischte sich den Schweiß von der Stirn, den der Ärger seinem Haupte entlockt, und setzte den Hut wieder auf. Dann wandte er sich mit verändertem Ton an den Leichenbestatter.
»Na also, wie ist’s, was solls mit dem Jungen?«
»Nun, Sie wissen«, erwiderte der Leichenbestatter. »Sie wissen, Mr. Bumble, ich trache eine hübsche Summe mit zu den Armensteuern bei.«
»Hem«, hüstelte Mr. Bumble. »Na und?«
»Na und da dachte ich«, fuhr Sowerberry fort, »wenn ich schon so viel zahle, habe ich vielleicht auch ein Recht, es anderweits irchendwo wieder hereinzubringen, Mr. Bumble. Na und da dachte ich, ich könnte den Jungen vielleicht nehmen.«
Mr. Bumble ergriff ihn am Arm und führte ihn sofort ins Haus. Dann schloss er sich fünf Minuten mit ihm ein, und es wurde zwischen ihnen vereinbart, dass Oliver noch heute Abend zu Mr. Sowerberry kommen sollte – vorderhand nur zur Probe – eine Phrase, die, auf einen Kirchspielwaisenknaben angewendet, weiter nichts zu bedeuten hatte, als dass der Lehrmeister berechtigt war, wenn er nach einer kurzen Probezeit bemerkte, dass der Junge mehr zu arbeiten imstande war, als er Essen brauchte, mit diesem eine bestimmte Zahl von Jahren verfahren konnte, wie es ihm beliebte.
Als der kleine Oliver noch am selben Abend den Herren Vorständen vorgeführt wurde und erfuhr, er solle sogleich zu einem Sargtischler als Laufbursche in die Lehre gegeben oder zur See geschickt werden, falls er sich unterfangen sollte aufzumucken, da legte Oliver so wenig Erregung an den Tag und blieb so stumpf allem gegenüber, was er anhören musste, dass man ihn einstimmig als einen der verstocktesten jungen Galgenvögel erklärte; Mr. Bumble bedeutete ihm, sofort mitzukommen.
Wenn es auch weiter nicht zu verwundern war, dass die Herren Gemeindevorstände darüber in Entrüstung gerieten, dass sich ein junger Mensch, der ihrer Fürsorge anvertraut war, in einem solchen Falle gänzlich empfindungslos zeigte, so beurteilten sie dennoch den Fall ganz falsch. Die Sache lag einfach so, dass Oliver nicht nur nicht empfindungslos war, sondern vielmehr infolge der schlechten Behandlung, die er erfahren, sich auf dem besten Wege befand, für sein ganzes Leben in einen Zustand tierischer Stumpfheit und geistiger Umnachtung zu versinken. Unbeweglich und stumm hörte er die an ihn gerichteten Worte an, scheinbar vollständig gleichgültig gegenüber seinem weiteren Schicksal. Nachdem man ihm sein Bündel, bestehend aus einem kleinen Paket, in die Hand gedrückt, zog er seine Mütze über die Augen und ließ sich widerstandslos von Mr. Bumble hinausführen. Eine Zeit lang schleifte ihn der Kirchspieldiener hinter sich her, ohne ihn eines Blickes oder Wortes zu würdigen. Es war ein windiger Tag, und wenn der Luftzug Mr. Bumbles Rockschöße aufwehte, wobei die langzipflige Kirchspieldienerweste und die Kniehosen aus gelbem Samt sich den Blicken enthüllten, verschwand der kleine Oliver fast ganz hinter den flatternden Kleidungsstücken. Als sie sich knapp vor ihrem Ziel befanden, hielt es Mr. Bumble für an der Zeit, seinen Blick zu senken und sich zu überzeugen, ob der Junge soweit präsentabel sei, um das Wohlgefallen seines neuen Meisters und Herrn erwecken zu können.
»Oliver!« sagte er.
»Ja, Sir?« erwiderte Oliver mit bebender Stimme.
»Schieb dir die Mütze aus der Stirn, Junge, und halte dich gerade.«
Trotzdem Oliver augenblicklich gehorchte und sich mit dem Handrücken über die feuchten Augen fuhr, schimmerte doch noch eine Träne darin, und wie Mr. Bumble mit Strenge auf ihn herniederblickte, rollte ihm die Träne die Wange hinunter. Eine zweite Träne folgte und noch eine dritte. Der Kleine gab sich alle Mühe, aber es half nichts. Er zog die andere Hand aus Mr. Bumbles Hand, bedeckte sein Gesicht und weinte, bis ihm die Tränen über das Kinn herabtropften und zwischen den magern Fingern hervorquollen.
»Da hört sich doch alles auf«, rief Mr. Bumble, blieb stehen und runzelte wütend die Augenbrauen. »Von all den undankbarsten verdorbensten Waisenbuben, Oliver, die mir je untergekommen sind, bist du doch der schlimmste.«
»Nein, nein, Sir«, schluchzte Oliver und klammerte sich wieder an die Hand, die den wohlbekannten Stock hielt. »Nein, nein, Sir, ich will ja brav sein, wirklich, ich will es. Ich bin ja noch so klein, Sir, und so – so -«
»Was denn – so?« forschte Mr. Bumble erstaunt.
»So einsam und verlassen, Sir, so schrecklich einsam«, schluchzte der Kleine. »Niemand kann mich leiden. Bitte, seien Sie nicht auch noch böse auf mich.«
Dabei drückte er die Hand aufs Herz und blickte seinem Begleiter ins Gesicht, während Tränen tiefsten Schmerzes seine Augen füllten.
Ein paar Sekunden lang betrachtete Mr. Bumble Olivers hilfeflehendes Gesicht voll Erstaunen, dann hüstelte er ein paarmal verlegen, murmelte ein paar Worte über das dumme Wetter und ermahnte ihn, ein guter Junge zu sein. Dann fasste er ihn wieder bei der Hand und ging schweigend mit ihm weiter.
Der Leichenbestatter hatte eben seinen Laden geschlossen und machte gerade beim Schimmer einer Talgkerze ein paar Eintragungen in sein Kontobuch, als Mr. Bumble eintrat.
»Aha«, rief er und blickte von dem Buche auf. »Sie sind es, Bumble.«
»Jawohl, ich bins«, erwiderte der Kirchspieldiener. »Hier ist er. Ich habe Ihnen den Jungen mitgebracht.«
Oliver machte einen Kratzfuß.
»Also das ist der Junge, was?« fragte der Leichenbestatter und hielt die Kerze in die Höhe, um den Kleinen besser besichtigen zu können. »Liebe Frau, sei einmal so gut und komm einen Augenblick her.«
Mrs. Sowerberry tauchte aus einem kleinen Zimmer hinter dem Laden auf, und auf den ersten Blick konnte man erkennen, dass sie eine kleine hagere Person mit zänkischem Gesichtsausdruck war.
»Liebe Frau«, begann Mr. Sowerberry betreten, »das ist der Junge aus dem Armenhaus, von dem ich dir erzählt habe.« – Oliver machte abermals einen Kratzfuß.
»Gott im Himmel«, rief die Frau, »ist der aber klein!«
»Freilich, ein wenig klein ist er«, gab Mr. Bumble zu und sah Oliver mit einem strafenden Blick an, als ob dieser die Schuld daran trage, dass er nicht größer geworden sei. – »Klein ist er, das lässt sich nicht bestreiten. Aber er wird schon noch wachsen, Mrs. Sowerberry.«
»Ja, ja, auf unsre Kosten!« zankte die Frau verdrießlich. »Und bei dem, was bei uns auf den Tisch kommt. Ich kenne schon die Armenhauskinder, die fressen immer mehr, als sie wert sind. Aber die Männer wissen natürlich immer alles am besten. Marsch, die Treppe hinunter, du Häufchen Unglück!« Mit diesen Worten öffnete Mrs. Sowerberry eine kleine Tür und drängte Oliver eine steile Treppe hinab in einen feuchten finstern Keller, der den Vorraum zum Kohlenkeller bildete und die Bezeichnung Küche trug. Dort saß ein schlumpiges Dienstmädchen mit Schuhen mit schiefen Absätzen und blauen Strümpfen voll großer Löcher, die offenbar schon seit langem auf Reparatur warteten.
»Hier, Charlotte«, sagte Mrs. Sowerberry, »gib dem Jungen ein paar von den Resten, die für Trip aufgehoben worden sind. Seit morgens streunt das Biest auf der Gasse herum, da soll es sich mal hungrig zu Bett legen. Hoffentlich ist der Bursche da nicht zu heikel. He, Junge, was sagst du dazu?«
Oliver, dessen Augen, als von Essen die Rede war, aufgeleuchtet hatten, zitterte förmlich vor Gier und beteuerte, dass er durchaus nicht heikel sei; und daraufhin wurde ihm eine Schüssel Speisenabfälle vorgesetzt.
Wenn da nur so ein gewisser sattgefressener Theoretiker mit einem Herzen von Stein zugesehen hätte, wie sich Oliver Twist über das Futter hermachte, das für den Hund bestimmt war, und die Gier, mit der er die Bissen auseinanderriss – halbohnmächtig von Hunger. Noch besser, wenn ein solcher Theoretiker selbst einmal gezwungen wäre, sich über eine derartige Sorte Futter herzumachen …
»Na?« fragte die Frau Leichenbestatterin, als Oliver mit allem gründlich aufgeräumt hatte, stumm vor Entsetzen und böser Ahnung, wie das mit dem Appetit des Lehrjungen in Hinkunft weitergehen würde. »Na, bist du jetzt fertig?«
Da nichts Essbares mehr vorhanden war, antwortete Oliver mit »Ja«.
»Also, dann komm mit«, brummte Mrs. Sowerberry, nahm eine trübbrennende schmutzige Lampe und ging ihm die Treppe voraus hinauf. »Da hier unter dem Ladentisch ist ein Bett. Hoffentlich machst du dir nichts daraus in den Särgen zu schlafen, was? Aber mir kanns gleichgültig sein, ob dir’s etwas ausmacht oder nicht. Kurz und gut: hier ist dein Bett. So, jetzt mach dich fertig, ich hab’ keine Lust, die ganze Nacht hier zu stehen.«
Schüchtern und schweigend gehorchte Oliver.
5 – Oliver bekommt einen neuen Horizont und wohnt zum ersten Mal einem Leichenbegängnis bei.
In der Werkstätte des Sargtischlers sich selbst überlassen, setzte Oliver seine Lampe auf eine Werkbank, von Furcht und Grauen durchschauert. Ein fertiger Sarg auf einem schwarzen Gestell mitten im Laden erinnerte ihn so sehr an den Tod, dass ihn ein kalter Schauer überlief, so oft sich sein Blick hinverirrte, und zuweilen kam es ihm so vor, als müsse jeden Augenblick eine entsetzliche Gestalt langsam ihre Hand erheben und ihn aus dem Sarge heraus anstarren, bis er wahnsinnig vor Furcht würde. Die Wand entlang in regelmäßigen Reihen stand eine Menge Bretter aus Ulmenholz, alle ebenfalls zu Särgen bestimmt. Bei dem trüben Licht sahen sie wie hochschultrige Gespenster aus, die die Hände in die Hosentaschen gesteckt hatten. Sargplatten, Holzspäne, langköpfige Nägel und Stücke Trauerflor lagen auf dem Boden umher. Die Wand hinter dem Ladentisch war mit einem Bild geschmückt, das zwei Leichendiener mit steifen Kragen, die vor dem Portal eines Privathauses ihr Amt versahen, darstellte, während ein Leichenwagen, von vier schwarzen Pferden gezogen, aus der Ferne herangefahren kam. Der Laden war eng und heiß und die ganze Luft gesättigt von dem Geruch von Särgen. Der Verschlag unter dem Ladentisch, wo für Oliver eine Wollmatratze ausgebreitet lag, sah aus wie ein Grab.
Oliver fühlte sich trostlos allein und verlassen, und wenn er auch keinen Schmerz über Trennung von Freunden oder Angehörigen empfand, so war ihm doch das Herz unsäglich schwer. Und wie er in sein enges Bett hineinkroch, wünschte er sich, es möchte sein Sarg sein und man trüge ihn hinaus auf den Kirchhof, wo das hohe stille Gras über ihm im Winde säuselte und das Läuten der alten Kirchturmglocken ihn träumen machte in süßem Schlummer.
Am nächsten Morgen erweckten ihn laute Fußtritte gegen die Außenseite der Werkstättentüre. Er sprang auf und begann die Vorhängkette zu lösen; da erst ließen die Füße von ihren Tritten ab und eine Stimme rief: »Mach’ die Tür auf, na, wird’s bald!« »Sofort, Sir«, erwiderte Oliver, machte die Kette gänzlich los und drehte den Schlüssel um.
»Du bist wohl der neue Lehrbursch, was?« fragte die Stimme durch das Schlüsselloch.
»Ja, Sir«, antwortete Oliver.
»Wie alt bist du denn?« fragte die Stimme weiter.
»Zehn Jahre, Sir.«
»Dann werd’ ich dich durchprügeln, wenn ich hineinkomme«, prophezeite die Stimme. »Gib nur acht, wenn ich erst drin bin, du Zuchthäusler.«
Nach diesem liebenswürdigen Versprechen schwieg der unsichtbare Mund und begann zu pfeifen.
Oliver hatte schon zu oft das angedrohte Schicksal über sich ergehen lassen, um noch den leisesten Zweifel zu hegen, dass der Besitzer der Stimme, wer er auch sein möge, sein Versprechen halten werde. Mit zitternder Hand schob er den Riegel zurück und öffnete die Türe.
Ein paar Sekunden lang blickte er die Straße auf und ab, im Glauben, der Unbekannte, der ihn durch das Schlüsselloch angeredet, sei ein paar Schritte weitergegangen, um sich zu erwärmen, aber er erblickte niemand als einen Waisenjungen aus dem städtischen Armenhaus, der auf einem Pfosten vor dem Hause saß und ein Butterbrot verzehrte.
»Entschuldigen Sie, Sir«, sagte Oliver schließlich, da er niemand anders sehen konnte, »haben Sie vielleicht geklopft?«
»Ja, mit die Fieß an die Tür g’stoßen hab i«, erwiderte der fremde Waisenknabe.
»Wünschen Sie vielleicht einen Sarg?« fragte Oliver unschuldig.
»Du wirst bald selber einen brauchen«, war die zornige Antwort, »wenn du dir solche Frechheiten mit deinem Vorgesetzten herausnimmst. Du weißt viel leicht gar nicht, wer ich bin«, fuhr der Waisenknabe fort und erhob sich würdevoll von seinem Sitz.
»Nein, Sir«, gab Oliver zu.
»Ich bin Mr. Noah Claypole«, sagte der Waisenjunge, »und du bist mein Untergebener. Mach’ die Fensterläden auf, junger Hund!« Bei diesen Worten versetzte »Mr.« Claypole Oliver einen Tritt und schritt mit würdevoller Miene in die Werkstätte. Für einen jungen Herrn mit großem Schädel und kleinen Mausaugen, von schlottriger Gestalt und einem Breigesicht ist es nicht leicht, sich ein würdevolles Air zu geben. Aber ganz besonders schwierig ist es, wenn zu diesen persönlichen Vorzügen noch eine rote Nase und gelbe Kniehosen hinzukommen.
Nachdem Oliver die Fensterläden entfernt und bei seinem Bemühen, sie beiseite zu stellen, eine Fensterscheibe zerbrochen hatte, wurde er beim Wegschleppen der übrigen Vorfenster gnädigst von Mr. Noah unterstützt, der ihm dabei als Trost die Versicherung gab, er würde es »mordsmäßig erwischen«. Bald darauf kam Mr. Sowerberry herunter und sogleich erschien auch Mrs. Sowerberry. Und richtig ging Mr. Noahs Prophezeiung in Erfüllung, d.h. Oliver kriegte es wirklich und folgte dann seinem jugendlichen Amtsgenossen die Treppe hinunter zum Frühstück.
»Komm näher zum Feuer«, sagte Charlotte. »Ich hab’ dir ein Stückel Speck aufg’hoben von dem Herrn seinem Frühstück, Oliver, mach’ die Tür zu hinter Mr. Noah und nimm dir die Reste, die ich dir dorthin gestellt hab’. Da hast deinen Tee, nimm dir ihn und scher dich zu der Kisten dort und trink ihn – aber a bissel rasch gefälligst. Du musst nachher auf den Laden achtgeben, verstanden?«
»Verstanden, Zuchthäusler?« wiederholte Noah Claypole.
»Jessas, Jessas, Noah!« rief Charlotte. »Bist du aber heut lustig; lass doch den Bengel in Ruh.«
»In Ruh lassen?« sagte Noah. »Der wird schon sowieso g’nug in Ruh g’lassen. Den lassen sein Vater und seine Mutter schon sowieso in Ruh. Seine ganze Verwandtschaft lasst ihn schon in Ruh. Was, Charlotte? Hihihi!«
Charlotte konnte sich gar nicht halten vor Gelächter, in das Noah kräftig mit einstimmte. Dann setzten sie sich zusammen und warfen von Zeit zu Zeit dem armen Oliver verächtliche Blicke zu, wie er vor Kälte schaudernd auf seiner Kiste im Winkel saß und die schäbigen Reste verzehrte, die für ihn aufgehoben waren.
Noah war ein Zögling aus dem Waisenstift und nicht etwa eine Waise aus dem Arbeits- oder Armenhaus. Er war auch kein Findling und konnte seinen Stammbaum schnurgerade bis zu seinen Eltern hinauf, die dicht daneben wohnten, herleiten. Seine Mutter war eine Waschfrau und sein Vater ein versoffener Soldat mit einem Stelzfuß und einer Tagespension von zweieinhalb Pence. Die Laufburschen in der Nachbarschaft pflegten Noah mit dem Spitznamen »Waisenstiftler« oder »Lederbüchse« zu belegen, und Noah hatte es stillschweigend ertragen müssen. Aber jetzt warf ihm das Schicksal durch einen glücklichen Zufall einen Waisenknaben ohne Namen in den Weg, auf den selbst das verworfenste Geschöpf spöttisch mit dem Finger deuten durfte; an ihm gedachte er jetzt seine ganze lang aufgespeicherte Wut auszulassen. Es bestand derselbe Unterschied zwischen Oliver und ihm wie zwischen einem hochgeborenen Lord und einem schmutzigen Straßenjungen.
Ungefähr drei bis vier Wochen war Oliver bei dem Leichenbestatter gewesen, als Mr. Sowerberry eines Tages seiner Ehehälfte gegenüber auf ihn zu sprechen kam. »Der Junge sieht jetzt prächtig aus, meine Liebe«, sagte er.
»Na, essen tut er wahrhaftig g’nug«, knurrte Mrs. Sowerberry.
»Es liegt ein Ausdruck von Melancholie in seinem Gesicht, meine Liebe, sodass ich glaube, er würde sich vortrefflich als Kerzenträger bei einem Leichenbegängnis eignen.«
Mrs. Sowerberry blickte verwundert auf, und ihr Gatte fuhr eifrig fort:
»Ich meine nicht, wenn ein Erwachsener begraben wird, sondern bei Kinderbestattungen. Es wäre eine ganz neue Idee, und ich glaube, sie müsste sich ganz vortrefflich durchführen lassen.«
Mrs. Sowerberry, die in geschäftlichen Dingen einen großen Scharfblick besaß, erkannte sofort, dass der Gedanke ebenso vorzüglich wie neu war. Da sie sich aber in ihrer Würde nichts vergeben wollte, fragte sie nur spitz, weshalb denn ihr Herr Gemahl eine so naheliegende Idee nicht schon längst gehabt habe. Mr. Sowerberry, der dies ganz richtig als eine Zustimmung zu seinem Vorschlag deutete, ordnete demgemäß an, dass Oliver unverzüglich in die Mysterien des Leichenbestattergeschäfts einzuweihen sei und bereits bei der nächsten Gelegenheit einem Begräbnis beizuwohnen habe.
Die Gelegenheit ließ nicht lange auf sich warten. Bereits am nächsten Morgen, ungefähr eine halbe Stunde nach dem Frühstück, erschien Mr. Bumble im Laden, lehnte seinen Stock gegen die Werkbank, zog ein großes ledernes Notizbuch aus der Tasche, entnahm diesem einen kleinen Zettel und überreichte ihn Mr. Sowerberry.
»Aha«, sagte der Sargtischler mit freudiger Miene. »Eine Bestellung für Särge, wie?«
»Vorläufig nur für einen Sarg«, bestätigte Mr. Bumble, »und außerdem für ein Gemeindebegräbnis.«
»Baiton?« las der Leichenbestatter von dem Zettel ab und blickte Mr. Bumble fragend an. »Den Namen habe ich früher noch niemals gehört.«
Mr. Bumble nickte. »Eine widerspenstige Bande, Mr. Sowerberry, eine sehr widerspenstige Bande. Hochfahrend sag’ ich Ihnen, nicht zu glauben.«
»Hochfahrend, wie?« rief Mr. Sowerberry und grinste. »Aber hören Sie, das ist wirklich stark.«
»Die Gelbsucht könnte man bekommen vor Wut«, rief der Kirchspieldiener, »amoniakalisch kann ich Ihnen sagen, Mr. Sowerberry.«
»Stimmt, stimmt«, pflichtete der Leichenbestatter bei.
»Wir haben erst vorgestern Abend von der Familie erfahren«, berichtete Mr. Bumble, »und auch das nur, weil eine Frau, die mit ihnen im selben Hause wohnte, beim Herrn Vorstand bitten kam, man möge den Armenarzt hinschicken, um nach einer Kranken zu sehen, mit der es sehr schlecht stehe. Der Herr Doktor war gerade beim Mittagessen, aber sein Assistent – ein verdammt schneidiger Bursche, sage ich Ihnen – hat sogleich ein Flasche voll Medizin hingeschickt.«
»Das nenn’ ich mir gewissenhaft im Dienst«, rief der Leichenbestatter bewundernd.
»Ja ja, ist’s auch«, versetzte der Kirchspieldiener. »Aber was glauben Sie, war die Folge? Frech ist die Bande auch noch geworden. Der wertgeschätzte Herr Gemahl von der Kranken hat sagen lassen, die Arzenei passt nicht für seine Frau, und er gibt nicht zu, dass sie so was einnimmt. Ich sag’ Ihnen, eine feine kräftige Medizin, die erst acht Tage vorher zwei irische Taglöhner und ein Kohlenträger mit bestem Erfolg eingenommen haben – und noch dazu in einer Wichsflasche, und der Kerl lässt sagen: seine Frau nimmt so was nicht.« Empört ließ Mr. Bumble seinen Stock auf den Ladentisch niedersausen und wurde rot im Gesicht wie ein Truthahn.
»Nein so was«, rief der Leichenbestatter.
»Jawohl, so was«, schrie Mr. Bumble. »Aber jetzt ist das Frauenzimmer tot, und da heißt’s, sie unter die Erde bringen; und darum handelt sich’s jetzt. Je schneller die Sache in Ordnung ist, desto besser.« Dabei setzte Mr. Bumble seinen Dreispitz fiebernd vor Erregung wieder auf, anfangs verkehrt und erst beim zweiten Male richtig, und stürmte aus dem Laden.
»Er hat sich so gegiftet, Oliver, dass er ganz vergessen hat, nach dir zu fragen«, sagte Mr. Sowerberry und blickte dem Kirchspieldiener nach, wie er die Straße hinunterstampfte.
Dann setzte er seinen Hut auf und brummte: »Je schneller wir das Geschäft abmachen, umso besser. Noah, pass unterdessen auf den Laden auf. Oliver, nimm deine Mütze und komm mit.« Oliver Twist gehorchte und folgte stumm seinem Herrn.
Eine Zeit lang schritten sie durch den belebtesten und bevölkertsten Teil der Stadt. Dann bogen sie in eine enge Gasse ein, die von Schmutz nur so starrte, und blieben stehen, um sich nach dem bezeichneten Hause umzusehen. Die Häuser auf beiden Seiten waren hoch und massig, aber sehr alt, und wurden nur von den allerärmsten Leuten bewohnt, wie man zwar nicht aus ihrem vernachlässigten Aussehen erkannte, wohl aber aus dem schmierigen Äußern der paar Männer und Frauen, die gelegentlich die Mauern entlang schlichen. Ein großer Teil der Häuser hatte Läden nach vorne heraus, aber diese Läden waren fest verschlossen und hingen nur so in den Angeln. Offenbar waren bloß die oberen Stockwerke bewohnt. Bei einzelnen der Bauten, die infolge ihres Alters und ihrer Morschheit gänzlich zu zerfallen drohten, war dem völligen Einsturz durch mächtige gegen die Mauern gelehnte Balken, die fest in den Boden gerammt waren, gewehrt. Aber selbst diese Ruinen schienen von obdachlosem Gesindel als Schlupfwinkel auserlesen zu sein, wie man daraus ersehen konnte, dass viele der Bretter, die die Stelle von Türen und Fenstern vertraten, so auseinandergerissen waren, dass sich ein Zugang bildete, durch den ein Mensch nötigenfalls hindurchschlüpfen konnte. Die Rinnsteine waren verstopft und voll Kot; – selbst die Ratten, die tot in dem Unrat verwesten, machten den Eindruck, als ob sie Hungers gestorben seien.
An der offenen Türe, an der Oliver und sein Herr halt machten, war weder ein Klopfer, noch ein Klingelgriff zu sehen. Vorsichtig tappten sie sich einen dunklen Gang entlang und stiegen zum ersten Stock empor. Oliver ging dabei immer hinter Mr. Sowerberry her, der ihm zuredete, sich nicht zu fürchten, bis er endlich im Gang gegen eine Türe stolperte und anklopfte.
Ein junges Mädchen, ungefähr dreizehn oder vierzehn Jahre alt, öffnete ihnen. Für den Leichenbestatter genügte ein Blick in das Zimmer, um zu wissen, wohin er sich zu begeben habe. Er trat ein, und Oliver folgte ihm.
Vor einem mit kalter Asche gefüllten Kamin kauerte ein Mann, und ein altes Weib hatte auf einem Schemel neben ihm Platz genommen. In einem anderen Winkel hockten ein paar in Lumpen gehüllte Kinder herum, und in einem kleinen Bretterverschlag der Eingangstüre gegenüber lag etwas auf dem Boden, über das ein altes Tuch geworfen war. Oliver schreckte zusammen, als er die Augen dorthin wandte, und unwillkürlich fühlte er, dass das, was unter dem Tuch lag, eine Leiche sein müsste.
Das Gesicht des Mannes am Kamin sah eingefallen und totenblass aus. Bart und Haupthaar waren ergraut und seine Augen blutunterlaufen. Das alte Weib hatte ein Gesicht voll Runzeln, die beiden Zähne, die sie noch besaß, ragten über ihre Unterlippe hervor, aber ihre Augen strahlten hell und durchdringend. Oliver konnte es kaum über sich gewinnen, sie oder den Mann anzublicken, denn beide sahen den toten Ratten, die er draußen bemerkt, grauenhaft ähnlich.
»Niemand soll ihr nahekommen«, rief der Mann und sprang wütend auf, als sich der Leichenbestatter dem Holzverschlag näherte. »Zurück da. Gott verdammt. Zurück da, oder -«