Erst um die Mittagsstunde machte Oliver auf seiner Wanderung bei einem Meilenstein Halt, auf dem die Entfernung von der Hauptstadt angegeben war.
In London konnte man Oliver nicht finden. Oft hatte er im Arbeitshaus sagen hören: in London brauche niemand, der nur ein bisschen Grütze habe, zu hungern, und in dieser ungeheueren Stadt könne man leben auf eine Weise, von der sich Leute, die auf dem Lande aufgewachsen seien, gar keinen Begriff machten. Es musste der rechte Platz für einen heimatlosen Jungen sein, sagte sich Oliver. Damit sprang er wieder auf die Füße und schritt, so schnell er konnte, vorwärts.
Alles, was er mit hatte, beschränkte sich auf eine Brotrinde, ein grobes Hemd und zwei Paar Strümpfe in seinem Bündel, außerdem auf einen Penny – ein Trinkgeld, das ihm Mr. Sowerberry einmal dafür gegeben hatte, weil er sich bei einem Begräbnis besonders feierlich benommen.
Fast zwanzig Meilen legte Oliver an diesem Tag zurück. Die ganze Zeit kam nichts über seine Lippen als die Brotrinde und ein paar Schluck Wasser. Am Abend legte er sich in einen Heuhaufen schlafen und wanderte am anderen Tag abermals zwölf Meilen, wobei er seinen Penny für Brot ausgab, und übernachtete wieder im Freien, sodass er am dritten Morgen, vor Kälte fast erstarrt, sich kaum von der Stelle bewegen konnte. Am Fuß eines steilen Hügels wartete er, bis die Postkutsche vorbei kam, und sprach die Passagiere, als sie einen Moment ausstiegen, um eine Gabe an. Niemand hörte auf ihn, nur einer der Herren sagte ihm, er wolle ihm einen halben Penny geben, wenn er eine Strecke weit neben dem Wagen mitlaufen würde. Als Oliver bald infolge seiner Ermüdung hinter der Postkutsche zurückblieb, steckte der Gentleman seine Geldmünze wieder ein und erklärte, da sehe man wieder, dass das arme Volk viel zu faul sei, sich einmal etwas zu verdienen.
Und der Wagen rasselte davon und ließ nichts weiter zurück als eine Wolke Staub. Vor manchen Dörfern standen Tafeln errichtet, auf denen jedem Bettler mit der strengsten Strafe gedroht wurde, und furchtsam eilte Oliver weiter, wenn er so etwas las. Wenn er einmal vor einem Gasthaus mit hungrigen Blicken stillstand, befahl man ihm, sich aus dem Staub zu machen, wenn er nicht wolle, dass man die Hunde auf ihn loslasse.
Es würde ihm wohl so ergangen sein wie einst seiner unglücklichen Mutter, hätte sich seiner nicht schließlich ein menschenfreundlicher Schlagbaumwächter und dessen Frau angenommen und ihn mit einem Stück Brot und Käse gelabt. Am siebenten Morgen nach Sonnenaufgang erreichte Oliver endlich mit wunden Füßen die kleine Stadt Varnet. Überall waren noch die Fensterladen geschlossen, und nicht eine Seele ließ sich auf den verödeten Straßen blicken. In ihrer ganzen strahlenden Schönheit ging die Sonne auf, aber ihr Licht führte Oliver nur so recht zu Gemüte, wie elend und verlassen er war. Staubbedeckt kauerte er sich an einer Türschwelle nieder. Allmählich öffneten sich die Laden und überall wurden die Jalousien in die Höhe gezogen und die Menschen begannen hin und her zu gehen. Einige standen still und sahen Oliver ein paar Sekunden lang an und wandten nach ihm den Kopf, und einige nahmen sich sogar die Mühe zu fragen, wie er hierher gekommen sei. Er getraute sich aber nicht sie anzubetteln, sondern blieb still sitzen.
Eine Zeit lang hatte er so auf der Stufe gekauert und sich über die große Anzahl von Wirtshäusern gewundert, denn jedes zweite Gebäude in Varnet war eine Schenke, bald groß, bald klein, als er sich plötzlich bewusst wurde, dass ein junger Bursche, der einige Minuten vorher achtlos an ihm vorübergegangen, zurückgekehrt war und ihn von der anderen Straßenseite drüben unverwandt anstarrte. Zuerst kümmerte er sich nicht darum. Als aber der andere keinen Blick von ihm wandte, hob er schließlich den Kopf und blickte scharf hinüber. Darauf kam der Junge über die Straße, trat dicht an ihn heran und sagte:
»Hallo, Spatz! Auf der Walze?«
Der Junge, der diese Frage stellte, mochte ungefähr im selben Alter sein wie Oliver. Er war ein höchst sonderbarer Kauz, wie Oliver nie einen gesehen, mit einer Stumpfnase und platter Stirn. Er sah höchst ordinär und schmutzig aus, aber seine ganze Haltung und Benehmen glichen denen eines Erwachsenen. Ziemlich klein für sein Alter, hatte er höchst kuriose Beine und kleine scharfblickende Rattenaugen. Der Hut saß ihm so lose auf dem Kopf, dass er jede Minute herunterzufallen drohte, wohl auch schon des öfteren heruntergefallen wäre, wenn sein Herr es nicht vortrefflich verstanden hätte, ihn, wenn er rutschte, mit einem geschickten Ruck mit dem Kopf wieder in die richtige Lage zu bringen. Der Bursche trug einen Rock, der für einen Erwachsenen groß genug gewesen wäre und ihm fast bis an die Knöchel reichte. Die Ärmel trug er bis zur Hälfte aufgekrempelt, um die Hände frei zu haben. Kurz und gut, der Junge sah so seltsam und windig aus, wie wohl je nur ein Bürschchen von vier Fuß, sechs Zoll oder noch weniger in Stulpenstiefeln aussehen konnte.
»Hallo, Spatz, auf der Walze?« fragte der seltsame junge Gentleman Oliver abermals.
»Ich bin furchtbar hungrig und müde«, antwortete Oliver, während ihm die Tränen in die Augen traten. »Ich habe einen langen Marsch hinter mir, einen Marsch von sieben Tagen.«
»Was? Sieben Tag auf der Walze?« rief der junge Gentleman. »Aha, weiß schon. Wir haben was gerochen auf der Polizei, was? Der Balhochem hat was gerochen. Du weißt wohl nich, was ’n Balhochem is, was, du Greenhorn?« setzte er hinzu, als er Olivers verwunderten Blick bemerkte. Oliver verneinte.
»Na ja, du Greenhorn«, rief der junge Gentleman, »’n Balhochem ist doch ’n Poliziste. Mir scheint, du bist noch nie in der Mühle gewesen.«
»In was für einer Mühle?« fragte Oliver.
»In was für ner Mühle? Na, die Mühle, in der die Leute umsonst arbeiten – na, das Gefängnis mein’ ich.« Als er bemerkte, dass Oliver nicht verstand, fuhr er fort: »Aber mir scheint, du hast Hunger, Mesinung hab’ ich zwar selber keins, aber wir werd’ns schon machen. Steh auf und komm.« Hierauf brachte der wackre junge Herr Oliver, nachdem er ihm hatte aufstehen helfen, vor einen Krämerladen, in dem er Brot und Schinken kaufte und Oliver davon essen ließ.
»Nach London?« fragte er, nachdem Oliver sich ein wenig gesättigt.
»Ja.«
»Hast du eine Stranzen?«
»Was ist das?«
»Na, ne Wohnung.«
»Nein.«
»Mesummes?«
Oliver machte ein fragendes Gesicht.
»Geld mein’ ich.«
»Nein.«
Der junge Gentleman versenkte seine Hände in seine Taschen und pfiff durch die Zähne.
»Wohnen Sie in London«, fragte Oliver.
»Ja, wenn ich daheim bin. Aber mir scheint, du weißt gar nicht, wo du heut nacht schlafen willst.«
»Nein«, gab Oliver zu. »Ich hab’ schon seit sieben Nächten kein Dach über dem Kopf gehabt.«
»Mach’ dir keine Sorgen deshalb«, tröstete ihn der junge Herr. »Ich geh’ heut abend auch nach London. Ich kenn’ da einen ehrbaren alten Herrn, der wird dir bald ne gute Stelle verschaffen, – das heißt natürlich, wenn dich ’n Schentlman, wo ihn kennt, einführt bei ihm. Auf mir hält er große Stücke«, setzte der junge Gentleman lächelnd hinzu.
Das Anerbieten war so verlockend, dass Oliver keinen Augenblick zögerte, einzuschlagen. Er wurde bald zutraulicher und erfuhr, dass sein neuer Freund Jack Dawkins heiße und der ausgesprochene Liebling des erwähnten alten Gentlemans sei. Jacks Äußeres freilich sprach nicht zugunsten der Lieblinge des erwähnten alten Ehrenmannes, aber da er sehr großmäulig tat und selbst von sich behauptete, man kenne ihn weit und breit als einen »verdammt gerissenen Baldowerer«, schloss Oliver, der alte Herr spräche in diesem Falle wohl gute Ratschläge in den Wind. Unter diesem Eindruck fasste er heimlich den Entschluss, sich bei dem alten Philantropen so bald wie möglich in ein besseres Licht zu setzen und, falls Jack Dawkins, wie er befürchtete, einer Besserung nicht zugänglich sein sollte, auf die Ehre weiterer Bekanntschaft mit ihm zu verzichten.
Da Jack sich unbedingt weigerte, London vor Einbruch der Nacht zu betreten, schlug es elf Uhr, als sie den Schlagbaum von Islington erreichten. Vom »Engel« aus gingen sie nach St. Jones Road, die kleine Gasse, die bei Sadlers Walls Theater endigt, hinab und gelangten durch Exmouth Street und Coppile Row in den kleinen Hof neben dem Arbeitshaus. Dann schritten sie über den klassischen Grund und Boden, der einstmals den Namen Hockley-in-the-Hole führte, und gelangten nach Little und Great Saffron Hill, von wo aus der kuriose junge Gentleman sich in einen Galopp versetzte, wobei Oliver ihm auf den Fersen folgen musste.
Von dem ungewohnten Anblick einer großen Stadt ganz und gar in Anspruch genommen, musste Oliver sein Möglichstes tun, um seinen Führer nicht aus dem Gesicht zu verlieren. Einen schmutzigeren und verkommeneren Platz hatte Oliver noch nie gesehen. Die Straße war eng und voll Schmutz und die Luft gesättigt von den widerlichsten Gerüchen. Kleine Laden gab es hier in Menge, aber ganze Haufen von Kindern, die jetzt selbst zur Nachtzeit noch bei den Türen aus- und einkrochen oder drinnen in den Häusern quiekten und schrien, schienen der einzige Inhalt der Geschäfte zu sein. Die einzigen Unternehmungen, die wirklich zu gedeihen schienen, waren die Schenken, denn dort prügelte sich irischer Pöbel, was das Zeug halten wollte. Gedeckte Torwege und Höfe, die da und dort von den Hauptstraßen abzweigten, ließen Knäuel von Häusern sehen, wo sich betrunkene Männer und Frauen nur so wälzten. Aus den Torwegen kamen scheublickende Individuen herausgeschlichen und verloren sich gleich darauf wieder im Dunkel. Eben überlegte Oliver noch, ob es nicht am besten sei, wegzulaufen, da gelangte er mit seinem Begleiter vor einer Anhöhe an und wurde von ihm am Ärmel gefasst. Dann stieß Jack eine Haustüre auf, nicht weit von Field Lane, zog Oliver in einen Korridor und schloss gleich darauf das Tor wieder hinter sich zu.
»Wer da?« rief eine Stimme von unten als Antwort auf einen Pfiff, den der junge Herr hatte ertönen lassen.
»Reiner Wind«, war die Antwort. Es schien das eine Art Losungswort zu sein, dass die Luft rein sei. Gleich darauf warf das Licht einer kleinen Kerze seinen Schein auf die Mauer vom rückwärtigen Ende des Ganges aus, und das Gesicht eines Mannes lugte durch eine Spalte einer alten Türe hervor, aus der ein Teil der Füllung herausgebrochen war.
»Da sind ja zwei«, sagte der Mann und beschattete das Licht mit der Hand, um besser sehen zu können. »Wer ist der andere?«
»Ein junges Beindl«, antwortete Jack Dawkins und zeigte auf Oliver.
»Woher?«
»’n Greenhorn. Ist Fagin oben?«
»Sortiert die Riegenlappen. Marsch rauf mit euch.«
Die Kerze erlosch, und das Gesicht verschwand.
Oliver tastete, sich mit einer Hand am Ärmel seines Gefährten haltend, die Wand entlang. Sie stiegen eine dunkle morsche Stiege hinauf, die Jack offenbar genau kannte. Dann öffnete sich eine Tür, und Oliver trat ein.
Wände und Decke der kleinen Stube waren von Alter und Schmutz fast schwarz. Ein Tisch aus Fichtenholz stand vor dem Ofen und darauf eine Kerze, die im Hals einer Bierflasche stak, und daneben ein paar Zinnkrüge, Brot, Butter und ein Teller. In einer Bratpfanne, die mit einem Strick an den Sims des Kamins gebunden über dem Feuer hing, lagen ein paar Würste, und darüber gelehnt, eine große Gabel in der Hand, stand ein uralter vertrockneter Jude, sein schurkisches Gesicht mit den abstoßendsten Zügen von der Welt von rotem Kraushaar beschattet. Der Mann war in einen schmutzigen Flanellkittel gehüllt, der nur seinen Hals freiließ. Seine Aufmerksamkeit schien zwischen der Bratpfanne und einem Kleidergestell zu schwanken, an dem eine große Anzahl von seidenen Taschentüchern hing. Auf dem Boden lagen nebeneinander ein paar grobe Betten aus alter Sackleinwand, und um den Tisch herum saßen vier bis fünf Jungen, keiner älter als Mr. Dawkins, rauchten aus langen Tonpfeifen oder tranken Schnaps wie Erwachsene. Sie scharten sich sogleich um Jack, der dem alten Juden ein paar Worte ins Ohr flüsterte, sich dann umdrehte und Oliver angrinste.
Auch der Jude warf Oliver einen lauernden Blick zu, ohne dabei die Gabel aus der Hand zu legen.
»Hier, Fagin«, sagte Jack Dawkins, »ist mein Freund Oliver Twist.«
Der Jude grinste, machte Oliver eine tiefe Verbeugung, nahm ihn bei der Hand und gab der Hoffnung Ausdruck, der Ehre seiner näheren Bekanntschaft teilhaftig werden zu dürfen. Darauf stellten sich die Jungen mit ihren Tonpfeifen um Oliver und schüttelten ihm sämtlich die Hände, und zwar besonders eifrig die, in der er sein Bündel trug. Einer der jungen Gentleman war bestrebt, ihm die Mütze vom Kopf zu ziehen, und ein anderer geruhte, ihm die Finger in die Taschen zu stecken, offenbar um ihn der Mühe zu entheben, sie vor dem Schlafengehen selbst auszuleeren. Die Jungen hätten ihre Höflichkeiten wahrscheinlich noch weiter ausgedehnt, würde der Jude nicht seine Gabel des öfteren auf die jungen Herren haben herabsausen lassen.
»Mir freien sich außerordentlich, Ihnen zu sehen, Oliver, ganz außerordentlich«, versicherte der Jude. »Baldowerer! nemm die Würscht vom Feier und setz ä Schüssel für Mr. Oliver an den Herd. Ah, Sie sehen sich die Taschentücherlich an, lieber Freind? Ja ja, es sind ihrer ä ganze Menge. Mir haben se eben sortiert, weil se sollen gewaschen werden; das ist alles, Mr. Oliver, weiter nix, hähä.«
Die Rede des alten lustigen Juden wurde von seinen hoffnungsvollen Zöglingen mit einem wiehernden Gelächter begrüßt, und sich noch schüttelnd vor Lachen; machten sie sich an ihr Abendessen.
Oliver aß, was ihm zugeteilt wurde, und nachher braute ihm der Jude ein Glas heißen Grog, den er auf der Stelle austrinken musste, da noch ein anderer Gentleman das Glas brauche. Oliver tat, wie ihm befohlen wurde, und gleich darauf fühlte er, dass er sanft auf einen Strohsack gelegt wurde. Dann verfiel er in tiefen Schlaf.
Spät am nächsten Morgen erwachte Oliver nach langem, festem Schlummer. Es war niemand im Zimmer als der alte Jude, der Kaffee zum Frühstück in einer Pfanne kochte und leise vor sich hin pfiff, beständig mit dem Blechlöffel in dem Topf herumrührend. Jedes Mal, wenn auch nur ein leises Geräusch von der Straße heraufdrang, hielt der Jude inne, um zu lauschen, beruhigte sich aber jedes Mal wieder und pfiff und rührte weiter. Oliver war zwar aufgewacht, befand sich aber noch in jenem Zustand zwischen Schlafen und Wachen, wo man mit halboffnen Augen daliegt und, obgleich man alles, was um einen ringsum vorgeht, genau wahrnimmt, doch näher dem Traume ist als wirklichem Wachsein. Mit halbgeschlossenen Augen sah er den Juden, hörte sein leises Pfeifen und das Geräusch, wie er mit dem Löffel in der Pfanne herumkratzte. Als der Kaffee fertig war, schob der Jude den Kessel vom Feuer weg, stand eine Weile unschlüssig da, drehte sich dann nach Oliver um und rief ihn an.
Oliver antwortete nicht, sondern schien allem Anschein nach weiterzuschlafen. Hierauf schlich der Jude leise zur Türe und schloss sie ab. Dann zog er aus einer Falltüre im Boden eine kleine Schatulle hervor, setzte sie sorgfältig auf den Tisch, und seine Augen funkelten, wie er den Deckel aufhob und in das Kästchen hineinblickte. Dann rückte er einen alten Stuhl herbei, setzte sich und holte eine prachtvolle goldene Uhr mit Diamanten besetzt hervor.
»Verdammt pfiffige Hunde«, murmelte er vor sich hin, zog die Schultern in die Höhe und verzerrte die Muskeln seines Gesichts zu einem scheußlichen Grinsen. »Verdammt geschmierte Hunde und verbissen bis zum letzten Atemzug. Nix haben sie dem alten Pfaffen verraten, nix haben se veretzt den alten Fagin, hihi. Worüm hätten se auch sollen? Was hätts ihnen auch geholfen? Das Malheur hätten se doch nix abgehalten; nicht um ä Minute. Famose Burschen, feine Burschen.«
Dann legte er die Uhr wieder in das Kästchen zurück, holte noch mehrere andere ähnliche hervor, dann: Ringe, Armbänder und sonstige Pretiosen, alle so wundervoll gearbeitet, dass Oliver förmlich geblendet war.
Den Schluss bildete ein Schmuckstück, das so klein war, dass der Jude es ganz in seiner Handfläche verbergen konnte. Es schien sich eine sehr kleine, kaum sichtbare Inschrift darauf zu befinden, denn Mr. Fagin legte das Kunstwerk flach auf den Tisch, hielt die Hand darüber und betrachtete es lange und ganz nah und mit scharfem Blick. Dann legte er es, offenbar nicht imstande, die Inschrift zu entziffern, wieder weg, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und murmelte:
»Ist doch ä feine Sache das Hinrichten. Ä Toter bereit nix mehr. Ä Toter kann nix mehr verraten. Haast ä Geschäft. Fünfe aufgehängt hinter enander und keiner mehr da, um den reumütigen zu spielen.«
Plötzlich fielen die funkelnden schwarzen Augen des Juden, der bisher gedankenverloren vor sich hingestarrt, auf Olivers Gesicht und begegneten dessen Blicken, die mit stummer Neugier auf ihn gerichtet waren. Heftig schlug er die Schatulle zu, ergriff das Brotmesser, das auf dem Tische lag, und sprang wütend auf. Er zitterte vor Entsetzen, denn das Messer, das er in der Hand hielt, zuckte in der Luft heftig hin und her, wie Oliver deutlich bemerken konnte.
»Was soll das?« rief der Jude. »Was spionierst de da? Warum bist de plötzlich wach? Was hast de gesehen? Sprich, sag ich dir, wenn dir dein Leben lieb ist.«
»Ich konnte nicht mehr schlafen, Sir«, erwiderte Oliver demütig. »Verzeihen Sie, wenn ich Sie gestört habe, Sir?«
»Du bist nicht wach gewesen vor einer Stunde?« rief der Jude mit wilden Blicken.
»Nein, wirklich nicht«, beteuerte Oliver.
»Ist das auch sicher wahr?« rief der Jude drohend.
»Ganz gewiss, Sir. Ich bin eben erst aufgewacht.«
»Schon gut, schon gut«, murmelte der Jude, nahm plötzlich sein altes Wesen wieder an und spielte mit dem Messer, um Oliver glauben zu machen, er habe es nur im Scherz genommen. »Ich weiß doch, kleiner Freund, ich hab doch nur gemacht e Scherz, du bist e braver Bursch, e braves Bürschchen, Oliver, hihi.«
Dabei rieb er sich kichernd die Hände, blickte aber immer noch scheu und unsicher auf die Schatulle.
»Hast du gesehen die schönen Sachen drin, Oliver?« fragte er nach einer Pause und legte die Hand auf das Kästchen.
»Ja, Sir.«
»Also, also doch gesehen?« rief der Jude und wurde bleich. »Nu, ja, das ist halt mei kleines Eigentum. Alles, wovon ich hab zu leben auf meine alten Tage. Die Leunte sagen, ich bin e Geizhals, aber lass se reden. Was liegt weiter daran.«
Oliver kam zu dem Schluss, der alte Gentleman müsse offenbar ein schrecklicher Geizhals sein, dass er so viel Taschenuhren besäße und trotzdem in einer so schmutzigen Kammer wohne. Aber er nahm an, dass vielleicht seine Vorliebe für den Baldowerer – den jungen Dawkins – und die anderen Jungen ihn ein hübsches Stück Geld koste, und dass er immerhin ein großer Menschenfreund sein müsse. Er blickte ihn daher nur achtungsvoll an und fragte, ob er aufstehn dürfe.
»Natierlich, mei Junge, natierlich«, erwiderte der alte Herr. »Aber wart mal, dort in der Ecke neben der Tür steht ein Topp mit Wasser. Bring ihn heriwer. Ich will dir geben e Schüssel, dass de dir kannst waschen, Kleiner.«
Oliver stand auf, ging durch die Stube und bückte sich einen Augenblick, um den Krug aufzuheben. Als er sich wieder umdrehte, war die Kassette verschwunden.
Er hatte sich kaum gewaschen und alles wieder in Ordnung gebracht, dem Befehl des Juden gemäß das Waschbecken ausgeschüttet und an seinen Ort zurückgestellt, als der »Baldowerer« – Mr. Dawkins – in Begleitung eines sehr lustigen Jungen, eines von denen, die Oliver am vergangenen Abend hatte rauchen sehen, und der ihm jetzt in aller Form als Charley Bates vorgestellt wurde, eintrat. Und alle vier setzten sich hierauf zum Frühstück, das aus Kaffee und ein paar mit Schinken belegten Brötchen bestand, die der Baldowerer in seinem Hut mitgebracht hatte.
»Na«, sagte der Jude zu dem Baldowerer gewendet und warf dabei einen lustigen Blick auf Oliver. »Was is? Ihr seid doch hoffentlich gewesen heinte frih schon bei der Arbeit, Jungens?«
»Es war eine schwere Arbeit«, murrte der Baldowerer.
»Verdammt hart«, setzte Charley Bates hinzu.
»Brave Burschen, brave Burschen«, lobte der Jude. »Was hast de mitgebracht, Baldowerer?«
»Zwei Taschentücher«, erwiderte der wackre junge Mann.
»Gestickte?« fragte der Jude gierig.
»Na, macht sich«, erwiderte der Baldowerer und zog zwei Taschentücher hervor, ein grünes und ein rotes.
»Nicht so wie mer’s hätt wünschen sollen«, sagte der Jude, nachdem er die entfalteten Tücher sorgfältig geprüft hatte. »Aber e feine Arbeit. E geschickte Hand muss das gewesen sein, was meinen Sie, Oliver?«
»Wahrhaftig, ja«, gab Oliver zu, worauf Charley Bates in ein wieherndes Gelächter ausbrach – zu seiner größten Verwunderung, denn er konnte bei all dem nicht den geringsten Grund zum Lachen sehen.
»Und was hast du mitgebracht, Kleiner?« fragte Fagin Charley Bates.
»Auch Riegerlappen«, erwiderte Master Bates und brachte vier Taschentücher zum Vorschein.
»Hem«, murmelte der Jude und besichtigte sie bei Licht. »Güt, sehr güt, – aber du hast se nicht gut gezeichnet, Charley, mir wollen herauszupfen die Monogramme mit der Nadel und wollen zeigen dem kleinen Oliver, wie er es machen soll. Was meinen Sie, Oliver, was?«
»Wenn Sie die Güte haben wollen«, erwiderte Oliver.
»Du möchtest wohl auch gerne machen können Taschentücher so leicht wie Charley Bates, nicht wahr Kleiner?« fragte der Jude.
»O gewiss, von Herzen gern, wenn Sie es mich lehren wollen, Sir«, bat Oliver.
Charley brach in ein schallendes Gelächter aus, dass er darüber beinahe erstickte. »Gott, ist das ein Greenhorn«, rief er endlich, offenbar, um sich der Gesellschaft gegenüber wegen seines unmanierlichen Betragens zu entschuldigen.
Der Baldowerer sagte nichts, sondern strich Oliver das Haar über die Augen und meinte dann grinsend, er würde es mit der Zeit schon lernen. Der Jude unterbrach ihn, da er sah, dass Oliver blutrot wurde, indem er die Frage stellte ob heute Morgen bei der Hinrichtung viele Leute zugegen gewesen wären. Die beiden Jungen erwiderten, sie seien selbst dort gewesen, und Oliver wunderte sich, woher sie dann in aller Frühe so viel Zeit gehabt haben könnten, noch außerdem Taschentücher zu sticken.
Als das Frühstück abgeräumt war, unterhielten sich der lustige alte Herr und die beiden Jungen mit einem höchst seltsamen und ungewöhnlichen Spiel. Der lustige alte Herr schob nämlich eine Schnupftabaksdose in eine Hosentasche, eine zweite nebst einem Notizbuch in die andere, steckte eine Uhr in die Westentasche, befestigte sich die Kette im Knopfloch, schmückte seine Krawatte mit einer falschen Brillantnadel, knöpfte sich den Rock fest zu und spazierte dann mit dem Stock in der Hand, in der Art, wie alte Herren sich zu allen Tagesstunden auf der Straße zu ergehen pflegen, im Zimmer hin und her. Zuweilen blieb er beim Herde stehen und dann wieder an der Türe und tat, als betrachte er ein Schaufenster. Dabei blickte er sich aber beständig um wie aus Angst vor Taschendieben und betastete immerwährend seine Kleider ob man ihn auch nicht bestohlen habe. Er benahm sich dabei so ungeheuer komisch, dass Olivern vor Lachen die Tränen über die Backen liefen. Die ganze Zeit über blieben die beiden Jungen dem Juden dicht auf den Fersen und entschlüpften ihm, wenn er sich umdrehte, so geschickt, dass es ihm geradezu unmöglich war, sie genau ins Auge zu fassen. Schließlich trat ihm der Baldowerer auf die Zehen oder stolperte ihm scheinbar aus Zufall über die Füße, während Charley Bates sich von hinten an ihn herandrängte und ihm mit außerordentlicher Geschwindigkeit Tabaksdose, Brieftasche, Uhr, Kette, Busennadel und Taschentuch, ja sogar das Brillenfutteral stahl. Dann fing das Spiel von Neuem an.
So hatten sie es ein paarmal getrieben, da traten ein paar junge Damen ein, die die beiden jungen Herren zu sprechen wünschten. Die eine hieß Bet, die andere Nancy. Sie hatten beide sehr reiches Haar, das hinten nicht gerade sehr sorgfältig in einen Knoten gewickelt war, und Schuhe und Strümpfe an, die ebenfalls nicht sehr proper aussahen. Immerhin waren sie recht hübsch, lebhaft gefärbt und drall. Da sie in ihrem Benehmen sehr ungezwungen und freundlich waren, hielt sie Oliver für sehr nette liebenswürdige Mädchen. Was sie ohne Zweifel auch waren.
Ihr Besuch dauerte ziemlich lange. Und als eine der jungen Damen über Kälte klagte, wurde sogleich Schnaps geholt, und die Unterhaltung nahm einen recht angeregten Verlauf. Schließlich sagte Charley Bates, es sei höchste Zeit, sich auf die Socken zu machen. Gleich darauf gingen der Baldowerer, er und die beiden jungen Damen weg, nachdem sie vorher von dem liebenswürdigen alten Juden reichlich mit Kleingeld versehen worden waren, das sie offenbar ganz nach Belieben ausgeben durften.
»Da siehste, mei Jung«, sagte Fagin, »lebt sichs nicht fein bei mir? Den ganzen übrigen Tag haben sie jetzt frei.«
»Sind sie denn schon fertig mit der Arbeit, Sir?« fragte Oliver.
»Gewiss«, sagte der Jude, »das heißt: falls sie nicht zufällig etwas erwischen können. Aber dann werdens sie sichs schon nehmen, Kleiner, verlass dich drauf. Nimm se dir zum Vorbild, mei Jung, nimm se dir zum Vorbild«, wiederholte er gütig und klopfte, um seinen Worten den gehörigen Nachdruck zu geben, mit der Kohlenschaufel auf den Herd. »Tu alles, was se dir raten, und folg ihnen in allen Dingen – besonders, wenn der Baldowerer dir en Rat gibt. Ich sag dir, er wird noch eines Tages ä großer Mann sein und wird auch aus dir en großen Mann machen, wenn de dir an ihm e Beispiel nimmst; – sag mal, hängt mir nich mei Taschentuch zur Tasche eraus, mei Jung?« fragte er, plötzlich das Thema wechselnd.
»Ja, Sir«, erwiderte Oliver.
»Versuch mal, ob de es mir kannst erausziehen, ohne das ich was merk. Du weißt: so wie wir vorhin gespielt haben zusammen.«
Oliver hielt, wie er es vorhin vom Baldowerer gesehen, die Tasche mit der einen Hand fest und zog mit der anderen leise das Taschentuch heraus.
»Ist es schon draußen?« fragte der Jude.
»Hier, Sir«, sagte Oliver und hielt ihm das Tuch hin.
»Gott über de Welt! E so e geschickter kleiner Jung!« sagte der spaßhafte alte Herr und tätschelte Oliver beifällig auf den Kopf. »Noch nie hab ich gesehen e so en geschickten kleinen Jungen. Da is e Shillin für dich. Wenn de ä so weiter machst, wirst de noch der größte Mann deiner Zeit werden. Aber jetzt komm emol her. Ich will dir zeigen, wie mer erausmacht die Monogrammerlich aus den Taschentüchern.«
Oliver zerbrach sich nicht wenig den Kopf, wieso er bloß deswegen, weil es ihm gelungen, einem alten Herrn ein Tuch aus der Tasche zu ziehen, Aussichten haben sollte, der größte Mann seiner Zeit zu werden, aber er nahm an, der Jude müsse, wo er ihm so bedeutend an Jahren überlegen sei, derlei wohl am besten wissen. Er folgte ihm daher an den Arbeitstisch und war bald eifrig in seine neue Beschäftigung vertieft.