Kitabı oku: «Oliver Twist», sayfa 6
10 – Oliver gewinnt Einblick in die Charaktereigenschaften seiner neuen Kollegen, bezahlt aber seine Erfahrung sehr teuer.
Für viele Tage lang blieb Oliver bei dem Juden und zupfte die Monogramme aus Taschentüchern, die in großer Zahl einliefen, und nahm auch zuweilen an dem bereits erwähnten sonderbaren Spiel, das die beiden Jungen und der Jude Tag für Tag wiederholten, teil. Endlich aber konnte er es vor Sehnsucht nach frischer Luft nicht mehr aushalten und bat den menschenfreundlichen alten Gentleman, ihn doch einmal mit den beiden Jungen ausgehen zu lassen.
Eines Morgens wurde ihm die Erlaubnis dazu erteilt, vermutlich weil keine Taschentücher mehr da waren, an denen er hätte arbeiten können. Überdies waren der Baldowerer und Charley Bates bereits des öfteren abends mit leeren Händen nach Hause gekommen, und das hatte jedes Mal den alten Herrn veranlasst, ihnen mit großem Nachdruck das Verwerfliche eines müßigen Lebenswandels vor Augen zu halten. Gelegentlich ging der Jude sogar so weit, die beiden so lange durchzuprügeln, bis sie wieder die Treppe hinunterflohen.
Oliver machte sich also mit seinen beiden Gefährten auf den Weg. Der Baldowerer hatte die Rockärmel wieder aufgekrempelt und balanzierte, wie es seine Gewohnheit war, seinen Hut auf dem Kopf, während Charley Bates, die Hände in den Taschen, langsam mitschlenderte, sodass Oliver zu der Ansicht neigte, die beiden müssten den gütigen alten Herrn offenbar hintergehen und sich von der Arbeit drücken. Überdies hatte der Baldowerer die garstige Angewohnheit, kleinen Jungen die Mützen vom Kopf zu reißen oder sie in den Rinnstein zu stoßen, und auch Charley Bates benahm sich sehr sonderbar und schien besonders sehr eigentümliche Begriffe von Mein und Dein zu haben, denn wo er nur konnte, stibitzte er Äpfel und Zwiebeln in den Höchlerbuden und ließ sie in seinen geräumigen Taschen verschwinden. Das alles missfiel Oliver derart, dass er den beiden schon sagen wollte, es wäre wohl das beste, er ginge wieder allein nach Hause, als er in seinem Vorhaben durch eine plötzliche geheimnisvolle Wandlung, die im Benehmen des Baldowerers vor sich ging, abgelenkt wurde.
Sie traten eben aus einem sehr engen Hof in Clerkenwell, der noch heutzutage seltsamerweise die grüne Wiese heißt, als der Baldowerer plötzlich stehen blieb, den Finger auf die Lippen legte und seine beiden Gefährten vorsichtig zurückdrängte.
»Was gibt es denn?« fragte Oliver.
»Still«, flüsterte der Baldowerer. »Siehst du den alten Schöpfen drüben an der Bücherbude, Charley?«
»Den alten Herrn drüben?« fragte Oliver. »Ja, den sehe ich.«
»Das ist was für uns«, sagte der Baldowerer.
»Das ist der Richtige, prima primissima«, rief Master Charley Bates.
Oliver machte ein verwundertes Gesicht, konnte aber nicht weiter fragen, denn die beiden anderen huschten über die Straße und schlichen sich hinter den alten Herrn. Oliver ging unschlüssig ebenfalls hinüber, blieb dann stehen und sah ihnen stumm und verwundert zu.
Der alte Herr sah ungemein ehrwürdig aus, trug eine Perücke, goldene Brille, einen flaschengrünen Rock mit schwarzem Samtkragen, weiße Hosen und ein schickes Bambusstäbchen unter dem Arm. Er hatte gerade ein Buch zur Hand genommen und las eifrig darin. Er schien für nichts anderes einen Blick zu haben und blätterte vertieft in dem Buch. Entsetzt bemerkte Oliver plötzlich, dass der Baldowerer seine Hand in der Tasche des alten Herrn verschwinden ließ und sie gleich darauf mit einem Taschentuch wieder herauszog, das er dann Charley übergab, worauf beide um die Ecke herum Reißaus nahmen. Im Nu war ihm das Geheimnis klar, von wo die Taschentücher, Uhren und Pretiosen des Juden kamen. Eine Sekunde lang stand er wie gelähmt da. Dann lief er erschreckt davon, so schnell ihn seine Füße tragen wollten.
Das alles dauerte kaum eine Minute. Im selben Augenblick, als Oliver zu laufen anfing, griff der alte Herr in seine Tasche und drehte sich, da er sein Schnupftuch vermisste, um. Er sah Oliver davonlaufen, hielt ihn natürlich für den Dieb und schrie: »Haltet den Dieb« und lief ihm mit dem Buch in der Hand nach. Kaum hörten der Baldowerer und Charley Bates seinen Ruf, als auch sie aus ihrer Ecke wieder hervorkamen und, um den Verdacht von sich abzulenken, laut in das bereits allgemein werdende Geschrei der Straße: »Haltet den Dieb« einstimmten. So ein Ruf »Haltet den Dieb, haltet den Dieb« hat eine magische Wirkung. Der Kaufmann springt hinter dem Ladentisch hervor, der Fuhrmann vom Wagen herunter, der Fleischer wirft seine Mulde weg und der Bäcker seinen Brotkorb, der Milchmann lässt seinen Eimer stehen, der Laufbursche verliert sein Paket. Jeder wirft weg, was ihn am Laufen hindert. Der Schuljunge seine Marmeln, der Maurer seine Kelle, das Kind seinen Gummiball, und tobend, kreischend und brüllend geht die wilde Jagd um die Ecke. Die Hunde bellen und jagen einher und verscheuchen die Hühner, und Straßen und Plätze und Höfe widerhallen von dem Ruf: »Haltet den Dieb, haltet den Dieb.« Bei jeder Straßenbiegung wächst die Menge an. Dahin laufen sie und patschen durch Pfützen und Rinnsteine. Fenster fliegen auf, und vorwärts, immer vorwärts stürzt der Knäuel. Alles kreischt vor Freude: »Haltet den Dieb.« Wenn sie den Armen endlich haben, zu Boden geworfen liegt er da, und die Menge umdrängt ihn. Und jeder trachtet, ihm noch einen Hieb zu versetzen. Weg da, Platz da! Wo ist der Herr? Da kommt er jetzt die Straße herunter, Platz für den Herrn. »Ist das der Dieb, Sir?«
»Ja.«
Von Schmutz bedeckt und blutüberströmt lag Oliver da und starrte in den Haufen der ihn umringenden Gesichter. Da drängte man den alten Herrn vor ihn hin.
»Ja«, sagte der Herr, »ich fürchte, es ist der Junge.«
»Warum denn – fürchten«, murmelten einige. »Um den ist nicht schade.«
»Armer Junge«, sagte der Herr, »er hat sich wohl weh getan?«
»Ich hab’ ihm eine versetzt«, meldete sich ein baumlanger Strolch, »i bin ihm mit der Faust übers Maul g’fahren; i war’s, der wo ihn aufg’halten hat, Herr.«
Und grinsend griff der Lümmel an seinen Hut, ein Trinkgeld erwartend. Aber der alte Herr warf ihm nur einen bitterbösen Blick zu und sah sich ängstlich um, als liefe er selbst am liebsten davon, und er würde es wahrscheinlich auch getan und dadurch eine neue Hetzjagd veranlasst haben, wenn sich nicht ein Polizeimann – wie immer in solchen Fällen – als allerletzter eingefunden und Oliver am Kragen gepackt hätte.
»Heda, aufgestanden«, sagte der Polizist grob.
»Ich bin es doch nicht gewesen, Sir; wirklich, ich war es nicht. Es waren zwei andere Jungens«, rief Oliver entsetzt, die Hände faltend und verstört um sich blickend. »Irgendwo hier herum müssen sie sich versteckt haben.«
»Na, hier herum g’wiss nicht«, sagte der Polizeimann, und wenn er seine Worte auch ironisch meinte, so hatte er doch im Allgemeinen recht, denn der Baldowerer sowie Charley Bates hatten sich längst absentiert. »Aufgestanden jetzt!«
»Tun Sie ihm nichts zu leide«, sagte der alte Herr mitleidig.
»Na na, davon kann ka Red sein«, antwortete der Polizeimann und riss Oliver fast die Jacke vom Leib. »Marsch vorwärts, dich kenn’ ich schon. Wirst gleich aufstehen, Diebslümmel.«
Mühsam erhob sich Oliver vom Boden und wurde am Kragen im schnellsten Tempo durch die Straße geschleift. Der alte Herr ging neben dem Polizisten her, und jubelnd begleitete sie die Gassenjugend zum Kommissariat.
11 – Der Polizeikommissär Mr. Fang zeigt sich als außerordentlich tüchtiger Justizbeamter.
Als der Zug auf der Wache anlangte, wurde Oliver vorläufig in eine Art Keller eingesperrt, der nur so starrte vor Schmutz. Ein vierschrötiger Kerl mit einem Backenbart und einem Bündel Schlüssel in der Hand trat vor. »Was gibt’s denn schon wieder?« fragte er mürrisch.
»Ein junger Taschendieb«, antwortete der Polizist, der Oliver am Kragen hielt.
»Sind Sie der Bestohlene, Sir?« fragte der Mann mit den Schlüsseln.
»Ja«, sagte der alte Herr. »Aber ich kann nicht genau angeben, ob es auch wirklich der Junge war, der mir das Taschentuch gestohlen hat. Ich – hm – möchte am liebsten den Fall nicht weiter verfolgen.«
»Dös müssen S’ dem Herrn Kommissär sagen«, brummte der Mann. »Der Herr Kommissär wird gleich frei sein. Na, kumm amal her, kleiner Galgenvogel.«
Damit packte der Mann Oliver am Kragen und sperrte ihn in den erwähnten Keller. Es war dies eine Art Schacht, der nur so strotzte von Unrat und Schmutz.
Der alte Herr sah ebenso bekümmert aus wie Oliver selbst, als der Schlüssel im Schlosse kreischte, und warf mit einem Seufzer einen Blick auf das Buch, das die unschuldige Veranlassung zu dem ganzen Unheil gewesen war.
»Es liegt etwas in dem Gesicht des Jungen«, murmelte der alte Herr und rieb sich nachdenklich mit dem Buchdeckel das Kinn, »etwas, was mich tief ergreift und rührt. Er ist vielleicht ganz unschuldig. Aussehen tut er danach. – Übrigens«, rief der alte Herr plötzlich und sah nachdenklich zum Himmel empor, »an wen erinnern mich doch nur seine Züge?«
Eine Berührung an der Schulter weckte ihn aus seinen Betrachtungen. Gleich darauf ersuchte ihn der Mann mit den Schlüsseln ihm in die Wachtstube zu folgen. Hastig klappte der alte Herr das Buch zu und stand in der nächsten Minute vor dem berühmten Polizeikommissär Mr. Fang. »Hier mein Name und meine Adresse, Sir«, sagte er, verbeugte sich höflich und überreichte dem Gewaltigen seine Karte. Ärgerlich über die Störung blickte Mr. Fang, der soeben eine Zeitung studiert hatte, auf und fragte: »Wer sind Sie?«
Einigermaßen überrascht deutete der alte Herr auf seine Karte.
Verächtlich stieß der Kommissär die Karte zurück. »Gerichtsdiener, lesen Sie, wer dieser Mensch ist.«
»Ich heiße Brownlow«, fiel der alte Herr mit einer Höflichkeit, die stark von der Grobheit des Polizeibeamten abstach, ein, »Sie werden wohl gestatten, dass ich mich nach dem Namen des Gerichtsbeamten erkundige, der einem achtbaren Bürger ohne jede Veranlassung in diesem Lokal Beleidigungen ins Gesicht wirft.«
»Gerichtsdiener«, rief Mr. Fang und legte seine Zeitung weg, »was liegt gegen den Menschen vor?«
»Gegen ihn nichts, Euer Gnaden«, erwiderte der Diener. »Er ist der Ankläger dieses Jungen.«
»So, dieses Jungen, so«, sagte Mr. Fang und musterte Mr. Brownlow von Kopf bis zu Füßen verächtlich. »Beeidigen Sie ihn.«
»Ehe man mich vereidigt, muss ich bitten, die Sache erklären zu dürfen«, protestierte Mr. Brownlow. »Ich würde niemals geglaubt haben, wenn es mir nicht selbst widerfahren wäre, dass -«
»Halten Sie den Mund«, rief Mr. Fang gebieterisch.
»Das werde ich nicht tun, Sir«, opponierte der alte Herr.
»Sie schweigen augenblicklich, oder ich lasse Sie hinauswerfen«, schrie Mr. Fang. »Sie sind ein unverschämter frecher Kerl. Wie können Sie sich erdreisten, in dieser Weise mit mir zu sprechen!«
»Was!« rief der alte Herr, vor Zorn errötend.
»Vereidigen Sie den Kerl!« befahl Mr. Fang. »Ich will weiter nichts hören.«
Mr. Brownlow war aufs äußerste entrüstet, überlegte sich aber, dass er Oliver nur schaden müsse, wenn er weiter so energisch auftrete, unterdrückte daher seinen Ärger und ließ sich ruhig vereidigen.
»Nun«, fragte Mr. Fang, »was liegt gegen den Burschen vor? Was haben Sie vorzubringen, Sir?«
»Ich stand vor einem Bücherladen«, begann Mr. Brownlow.
»Halten Sie den Mund«, rief Mr. Fang. »Wo ist der Wachmann? So. Hier. Beeidigen Sie den Wachmann. Also, Wachmann, was hat’s gegeben?«
Der Polizeimann berichtete mit gebührender Unterwürfigkeit, wie er Oliver verhaftet, durchsucht, aber nichts bei ihm gefunden habe, und wie alles weiter gekommen sei.
»Sind Zeugen da?« fragte Mr. Fang.
»Nein, Euer Gnaden.«
Einige Minuten saß der Kommissär schweigend da, dann wandte er sich zu Mr. Brownlow und sagte mit steigendem Ärger:
»Wollen Sie jetzt hier aussagen, was Sie gegen den Jungen vorzubringen haben, oder wollen Sie es nicht? Man hat Sie vereidigt. Wenn Sie Ihre Aussage verweigern sollten, lasse ich Sie wegen Irreführung der Behörden bestrafen, verlassen Sie sich darauf – ich schwör’s bei -«
Bei was oder bei wem er es beschwören wollte, kam nicht heraus, denn im richtigen Moment husteten der Schreiber und Schließer so laut sie konnten, und außerdem ließ ersterer ein schweres Buch zu Boden fallen und verhinderte, dass man den Fluch verstehen konnte.
Des öfteren unterbrochen und wiederholt beschimpft, konnte Mr. Brownlow endlich die nötigen Angaben machen und schloss mit dem Bemerken, er sei im ersten Augenblick dem Jungen nachgelaufen, nur weil er ihn habe fliehen sehen. Dann gab er der Hoffnung Ausdruck, man möge mit Oliver so gelinde verfahren, wie es das Gesetz nur irgend zuließe, falls es sich herausstellte, dass Oliver nicht selbst der Dieb sei, sondern nur mit Dieben in Verbindung stünde.
»Er hat sich bereits ernstlich beschädigt«, schloss der alte Herr, »und ich fürchte, glauben zu dürfen, dass ihm nicht sehr wohl zumute ist.«
»Das können Sie freilich glauben«, rief Mr. Fang grinsend. »Hallo, lass jetzt den Firlefanz, Bursche, es nützt dir hier nichts. Wie heißt du?«
Oliver wollte antworten, aber die Kehle war ihm wie zugeschnürt. Er war leichenblass, und alles drehte sich um ihn.
»Wie heißt du, Schuft, erbärmlicher?« fragte Mr. Fang. »Polizeidiener, wie heißt der Bursche?«
Der Angeredete, ein dicker alter Mann mit einer gestreiften Weste, beugte sich über Oliver und wiederholte die Frage. Da er aber merkte, dass der arme Junge vor Entsetzen die Frage kaum verstand, und er fürchtete, der Kommissär würde nur umso wütender werden, wenn er nicht bald eine Antwort bekäme, erging er sich in allerlei Mutmaßungen.
»Er sagt, er heiße Tom White, Euer Gnaden«, sagte er endlich.
»Er kann wohl nicht deutlich genug sprechen, dass man’s hören kann, was?« rief Mr. Fang. »Also gut, wo wohnt er?«
»Wo er gerade kann, Euer Gnaden«, antwortete der Diener, trotzdem Oliver kein Wort gesprochen hatte.
»Hat er Eltern?«
»Er sagt, sie wären gestorben, wie er noch klein war, Euer Gnaden«, antwortete der Mann mit der gestreiften Weste, indem er sich auch diese Worte wieder erfand.
Als das Verhör einen Moment stockte, hob Oliver mit flehendem Blick den Kopf und bat matt um einen Schluck Wasser.
»Unsinn«, rief Mr. Fang. »Dass du dich nicht etwa unterstehst, mir da Lügen vorzureden.«
»Ich glaube wirklich, er ist krank, Euer Gnaden«, wendete der Gerichtsdiener ein.
»Das weiß ich besser, schweigen Sie«, sagte Mr. Fang.
»Geben Sie acht auf ihn, Gerichtsdiener«, warnte der alte Herr, »er wird gleich umfallen.«
»Weg da, Gerichtsdiener«, schrie der Kommissär. »Soll der Bursche nur umfallen, wenn’s ihm Spaß macht.«
Oliver jedoch machte von dieser freundlichen Erlaubnis wirklich Gebrauch und fiel sofort ohnmächtig zu Boden. Die in der Amtsstube befindlichen Unterbeamten sahen einander an, aber keiner wagte die Hand zu rühren.
»Ich habs gleich gesehen, dass er sich verstellt«, triumphierte der Kommissär, als ob er jetzt einen unbestreitbaren Beweis in der Hand hätte. »Lasst ihn nur liegen, er wirds schon satt kriegen.«
»Wie gedenken Sie in diesem Fall zu verfahren?« fragte der Schreiber mit leiser Stimme.
»Summarisch, ganz summarisch«, entgegnete der Kommissär. »Drei Monate Zwangsarbeit. Hinaus mit ihm.«
Die Türe wurde geöffnet, und man schickte sich bereits an, den bewusstlosen Oliver in seine Zelle zu tragen, als ein ältlicher Herr von anständigem, wenn auch ärmlichem Äußern in einem abgenützten schwarzen Anzug hastig in die Polizeistube stürzte und zum Pult des Kommissärs eilte.
»Warten Sie, bitte, warten Sie, führen Sie ihn nicht ab, um Gottes willen, warten Sie einen Augenblick«, rief der neuangekommene Herr vor Eile noch ganz atemlos.
Der Kommissär war nicht wenig empört, schon wieder einen ungebetenen Gast und noch dazu in so unehrerbietiger Weise eintreten zu sehen.
»Was soll das heißen?« rief er. »Werft den Kerl hinaus. Ich will hier meine Ruhe haben.«
»Ich will aber sprechen«, rief der Mann, »und lasse mich nicht abweisen. Ich habe alles mitangesehen. Ich bin der Besitzer des Buchladens. Ich bitte mich zu vereidigen. Ich muss hier sprechen. Mr. Fang, Sie müssen mich anhören. Sie dürfen mir die Aussage nicht verweigern, Mr. Fang.«
Der Buchhändler war vollständig im Recht, und sein Begehren konnte nicht abgeschlagen werden. Die Sache fing an, zu ernsthaft zu scheinen, um einfach übers Knie gebrochen zu werden.
»Also vereidigen Sie den Menschen«, brummte der Kommissär ungnädig. »Nun, was haben Sie vorzubringen?«
»Folgendes«, begann der Buchhändler. »Also ich sah drei Jungen, zwei andere und diesen hier, und sie schlenderten meinem Laden gegenüber auf der anderen Seite der Straße entlang, während dieser Gentleman hier ein Buch durchblätterte. Die beiden anderen Burschen haben den Diebstahl begangen. Ich habe gesehen, wie sie ihn ausführten, und habe auch bemerkt, dass dieser Junge hier darüber ganz entsetzt war.«
»Warum sind Sie nicht früher hergekommen?« fragte der Kommissär nach einer Pause.
»Ich hatte niemand, der inzwischen auf meinen Laden aufgepasst hätte«, entschuldigte sich der Buchhändler. »Alle Leute sind doch wie besessen diesem Jungen hier nachgelaufen, um ihn einzufangen. Erst vor fünf Minuten konnt ich jemand auftreiben, und den ganzen Weg bis hierher bin ich in einemfort gelaufen.«
»Dieser Herr hier las in einem Buch, nicht wahr?« fragte Mr. Fang nach einer zweiten Pause.
»Ja«, erwiderte der Buchhändler, »in demselben, das er jetzt hier in der Hand hat.«
»Was? In dem Buch?« fragte der Kommissär. »Ist das Buch schon bezahlt?«
»Nein, noch nicht«, antwortete der Buchhändler lächelnd.
»O Gott, das hab ich ja ganz und gar vergessen«, rief der alte Herr harmlos.
»Ein netter Mensch, der einen armen Jungen des Diebstahls anklagt«, sagte Mr. Fang und bemühte sich, höhnisch ein menschenfreundliches Gesicht aufzusetzen. »Ich neige der Ansicht zu, Sir, Sie haben unter höchst verdächtigen Umständen sich dieses Buch angeeignet. Seien Sie froh, dass der Eigentümer desselben nicht gegen Sie Anklage erhebt. Schreiben Sie sich das hinter die Ohren, mein Lieber, sonst kanns Ihnen das nächste Mal schlimm gehen. Der Junge ist freigesprochen. Gerichtsdiener, räumen Sie die Kanzlei.«
»Ja zum Teufel noch mal«, rief der alte Herr, dessen lang unterdrückter Zorn jetzt hervorbrach. »Donner und Doria, ich will Ihnen -«
»Räumen Sie die Kanzlei«, rief der Kommissär. »Gerichtsdiener, die Kanzlei geräumt.«
Ehe noch Mr. Brownlow etwas sagen konnte, wurde er, das Buch in der einen, das Bambusstöckchen in der anderen Hand und ganz außer sich vor Empörung, hinausgeschoben. Draußen im Hof jedoch verflog sein Zorn im Nu: der kleine Oliver Twist lag mit dem Rücken auf dem Pflaster, man hatte ihm das Hemd aufgeknöpft und beide Schläfen mit Wasser begossen. Sein Gesicht war totenblass, und ein kalter Schauder schüttelte seinen ganzen Körper.
»Armer Junge, armer Junge«, rief Mr. Brownlow und neigte sich über ihn. »Bitte, holen Sie doch eine Droschke, bitte, bitte gleich.«
Im Augenblick fuhr ein Wagen vor, und nachdem man Oliver sorgsam auf den Rücksitz gelegt, stieg der alte Herr ein und setzte sich ihm gegenüber.
»Darf ich Sie begleiten?« fragte der Buchhändler mit einem Blick in den Wagen.
»Selbstverständlich, lieber Herr«, sagte Mr. Brownlow. »Ich habe ganz auf Sie vergessen. O Gott, o Gott, immer noch habe ich das unglückselige Buch in der Hand. So steigen Sie doch ein! Der arme Junge, der arme Junge, wir dürfen keine Zeit verlieren.«
Der Buchhändler stieg in den Wagen, und die Droschke fuhr davon.