Kitabı oku: «Der Mächtige Strom», sayfa 13

Yazı tipi:

Im Kampf gegen Wanzen mussten wir damals alle drei bis vier Wochen die hölzerne Auflage unseres Bettes abmontieren und eigenhändig zum „Dampfmaschinenraum“ tragen. Dieser Raum war eigentlich ein Anbau, der zum Wohnheim der Jungen gehörte, und dort befand sich die Dampfmaschine, die unsere Schule mit Strom versorgte. Der heiße Dampf sollte den Viechern den Garaus machen! Tatsächlich wurden die meisten Wanzen durch die Hitze getötet, aber es half nicht wirklich, um der Invasion langfristig beizukommen, da sich diese Plagegeister auch in den Ritzen zwischen den Holzdielen und an der Zimmerdecke versteckten. Um sie endgültig loszuwerden, hätte man den gesamten Schlafsaal in die Dampfkammer schleppen müssen – ein Ding der Unmöglichkeit. Kurz vor den Semesterprüfungen wurde der Strom erst spät in der Nacht abgestellt, damit wir länger für unsere Prüfungen lernen konnten. Während wir versuchten, uns den Lehrstoff einzupauken, wurden wir immer wieder unfreiwillig Zeugen von Horrorszenen, wie eine Kolonne von Wanzen in Reih und Glied am Kabel der Deckenlampe entlangmarschierte. Damals gehörten Lampenschirme noch nicht zur Standardeinrichtung von Wohnhäusern, und so krabbelten sie über die blanke Glühbirne über unseren Köpfen. Am untersten Ende der Glühbirne kam es dann zum Stau und dann ließen sie sich einfach fallen. Währenddessen machten sich die Bodentruppen auf den Weg. Sie krochen aus den Ritzen und marschierten entweder an den Bettgestellen hinauf oder okkupierten unsere Hausschuhe. Was konnten wir da noch tun? Wir gewöhnten uns einfach daran, sie wegzuflitschen, wenn sie uns an den Beinen hochkrabbelten. Lagen wir in unseren Betten, dann gab es nur eine Möglichkeit: Kratzen, ignorieren und weiterschlafen! Niemand in den Wohnheimen der Nankai vermochte dieser Erfahrung zu entgehen, und niemand würde diese jemals wieder vergessen!

Im Krieg gegen die Wanzen hatten wir Menschen keine Chance. Auch die Schulleitung vermochte nichts gegen sie auszurichten, denn es gab keine Mittel, um unsere Schlafsäle zu entseuchen. Während des Krieges war es unmöglich, an DDT oder andere wirksame Insektizide zu gelangen, wenn jemand doch einmal eine Sprühdose von zuhause mitbrachte, dann war es wie ein Wunder und die Person wurde wie ein Held gefeiert. Bis zu unserem Schulabschluss lebten wir mit der allgegenwärtigen Bedrohung durch die Wanzen, ganz zu schweigen von den unzähligen Moskitos, Flöhen und jeglichem Fliegengetier. Es war ein Albtraum für uns, beständig aus allen Richtungen von diesen attackiert zu werden, genauso wie jener von den ebenso verhassten Japanern, die uns mit ihren Kampfflugzeugen von allen Seiten bombardierten und nichts als Tod und Zerstörung brachten. Ach, ich mag gar nicht weiter davon schreiben, denn ich fürchte, dass ich zu diesem Thema ganze Romane verfassen könnte! Ich möchte auch nicht ungerecht erscheinen, denn immerhin war Nankai eine Art Luxusschule und die hygienischen Verhältnisse waren ansonsten sehr gut. So wurden beispielsweise in unserem Speisesaal sämtliche Lebensmittel und Gerichte immer mit Netzhauben geschützt … Also blieben wir weiterhin die bevorzugten Opfer der Wanzen, doch zum Glück hatten wir junge Körper und reichlich frisches Blut. Was uns nicht umbringt, das macht uns eben stärker!

4 - General Li Mis Schlachtross

In den ersten Jahren der Unterstufe war ich noch ein dürres Mädchen von schwächlicher Konstitution. Mit peinlicher Regelmäßigkeit verlor ich während der längeren Ansprachen beim morgendlichen Fahnenappell plötzlich das Bewusstsein und kippte einfach um. Natürlich wurde ich deshalb von meinen Mitschülerinnen ausgelacht und schnell zum Gespött der Schule. Wenn es zu warm oder zu kalt war und die Moralpredigten einfach kein Ende nehmen wollten, dann hörte ich irgendwann immer jemanden hinter mir tuscheln: „Da! Schau mal, die kleine Chi fällt bestimmt gleich wieder um!“ Und zu meiner Schande wurde mir gleich darauf ganz plümerant und ich fiel tatsächlich mal wieder in Ohnmacht. Es war zum Verzweifeln!

Am Ende des ersten Semesters im zweiten Schuljahr gab es einen unerwarteten Temperatursturz. Im Handumdrehen wurde es eiskalt und viele von uns litten unter Frostbeulen an den Füßen und an den Fingern. Trotz der beißenden Kälte hatten wir zum Wochenappell antreten müssen, und so standen wir zitternd und bibbernd, während sich die Zeit wie Kaugummi in die Länge zog. Mir wurde plötzlich ganz flau im Magen und ich fühlte mich zunehmend wackelig auf den Beinen, mir fiel auch das Atmen schwer. Ich versuchte mich aufrecht zu halten und rang zitternd nach Luft, als mir das Mädchen, das links neben mir stand, hektisch zuflüsterte: „Schnell, gib mir deine Hand!“ Es war meine Klassenkameradin Li Xin’e. Sie nahm meine Hand und kniff mich an verschiedenen Stellen ins Handgelenk. Dann fasste sie mich am Kopf und drückte kurz und heftig auf eine Stelle an meiner linken Stirnseite. Es tat höllisch weh, aber ich merkte sofort, dass ein Gefühl von Erleichterung durch meinen Körper strömte, und ich war auch wieder bei vollem Bewusstsein. Sogar das Atmen fiel mir wieder ganz leicht. Es war kaum zu glauben! Zurück im Klassenzimmer gab sie mir noch ein paar kleine Pillen aus einer Dose. Obwohl mein Vater mich immer ermahnt hatte, niemals irgendwelche Arzneimittel zu mir zu nehmen, die nicht von einem richtigen Arzt verschrieben worden waren, schluckte ich die Pillen, ohne zu zögern. Den ganzen restlichen Tag fühlte ich mich großartig.

Li Xin’e war eine sogenannte Quereinsteigerin, weil sie erst zwei Monate nach Beginn des zweiten Schuljahres zu uns gekommen war. Damals war es ganz normal, dass auch mitten im Halbjahr neue Schüler aufgenommen wurden, denn die Flüchtlingsströme kamen während des Krieges immer in Wellen nach Chongqing, wenn die Japaner wieder einen erfolgreichen Vorstoß für sich verbuchen konnten. Um das hohe Leistungsniveau halten zu können, hatte die Schulleitung angeordnet, dass alle Schüler, die ein Drittel der Fächer nicht bestanden, die Klasse wiederholen mussten. Diejenigen, die in der Hälfte aller Fächer durchgefallen waren, mussten ausnahmslos die Schule verlassen, selbst wenn sie Kinder prominenter Eltern waren. Nach den Sommerferien wurde eine Liste mit den Noten aller Schüler am Schwarzen Brett veröffentlicht, wobei ungenügende Leistungen in roten Ziffern geschrieben waren. Deshalb hieß diese Liste bei uns nur „Der rote Aushang“, und sie ließ jeden von uns erzittern. Ich erinnere mich noch an ein Jahr, als der Andrang vor dem Roten Aushang derart chaotisch ausartete, dass die Holzdielen unter den drängelnden und schiebenden Schülermassen nachzugeben anfingen und auch zerbrachen. Der Fußboden war danach vollkommen ruiniert und musste neu verlegt werden.

An Lis erstem Schultag wurde sie von unserem Klassenlehrer bis zur Tür begleitet: „Das ist Li Xin’e, eure neue Mitschülerin. Bitte heißt sie alle gemeinsam willkommen“, sagte er laut und mit einem gewissen Nachdruck. Li war von zierlicher Gestalt und wurde, nachdem wir sie folgsam begrüßt hatten, neben mich, die ich ja auch klein und dünn war, in die erste Reihe platziert. Man konnte ihr ansehen, dass sie verunsichert, ängstlich und schüchtern war, als sie so vor der gesamten Klasse stand, und ich, die ich vor meiner Zeit an der Nankai schon sechs Mal als Quereinsteigerin an einer Schule die Neue gewesen war, kannte dieses Gefühl nur allzu gut. Sie war nicht nur meine Sitznachbarin, sondern stand auch beim Morgenappell und während der Gymnastikstunde neben mir. Ich half ihr, so gut ich konnte, sich einzugewöhnen: Nachdem ich sie auf den neuesten Stand gebracht hatte, welche Themen wir gerade in den verschiedenen Unterrichtsfächern behandelten und welche Schulaufgaben wir in den kommenden Tagen abzuliefern hatten, führte ich sie über das Schulgelände und erklärte ihr, wofür die einzelnen Gebäude genutzt wurden. Während der ganzen Zeit sagte sie kaum etwas, lächelte nur ab und an und nickte immerzu mit dem Kopf, dass sie alles verstanden hatte. „Na, das kann ja was werden“, dachte ich insgeheim.

Jeden Tag wurde eine „Schülerin vom Dienst“ bestimmt, deren Aufgabe es war, nach Unterrichtsschluss das Klassenzimmer aufzuräumen. An einem Samstagnachmittag kurz vor Neujahr, als die Reihe mal wieder an mir gewesen war, ging ich anschließend zurück in den Schlafsaal, um meine Wochenend-Tasche zu holen. Zu meiner Überraschung fand ich Xin’e im Nebenraum mutterseelenallein auf der Bettkante hockend. Auf ihrem feinen Gesichtchen glänzten Spuren von Tränen. Da ich selbst dieses Gefühl von Verlorenheit auch gut kannte, fasste ich mir ein Herz, nahm ihre Hand und lud sie kurz entschlossen ein, mit zu mir nach Hause zu kommen.

Damals lebten meine Eltern bereits seit ein paar Jahren in einem Haus im Bezirk Shapingba. Mein älterer Bruder hatte mittlerweile schon ein Medizinstudium an der Zentralen National-Universität begonnen, dieses jedoch wieder abgebrochen, um an der Zentralen Politischen Hochschule zu studieren. Dort, an der Zhongyang Zhengzhi Daxue, schrieb er sich für den Studiengang „Internationale Angelegenheiten“ ein, um nach Abschluss eine Karriere zum Berufsdiplomaten einzuschlagen. Meine Mutter ermutigte ihn stets, so wie sie es schon früher in Nanking getan hatte, Kommilitonen, die kein Zuhause in der Nähe hatten, an den Wochenenden zum Abendessen bei uns einzuladen. Für sie war der Gedanke, dass es heimatlose Kinder gab, die weder Geborgenheit in der Familie noch ausreichend zu essen hatten, einfach unerträglich.

Li Xin’e war der erste Gast, den ich mit nach Hause brachte. Obwohl meine Mutter ziemlich überrascht wurde, empfing sie meine neue Freundin voller Herzlichkeit. Allein der Anblick genügte, um bei meiner Mutter größtes Mitgefühl und Fürsorge auszulösen, denn sie war genauso mager und schwächlich wie ich. Wie so viele der Kriegskinder, die Schreckliches erlebt hatten, erzählte sie anfangs nicht viel von sich. Wir erfuhren lediglich, dass sie aus Yunnan stammte, einer Provinz im Süden von China, und dass ihr Vater, ein Berufssoldat, nach Chongqing versetzt worden war, weshalb sie nun die Nankai-Schule besuchte. Warum ihr Vater nur sie mitgenommen hatte und die Mutter in der Heimat geblieben war, fanden wir nicht heraus. Seit jenem Tag nahm ich sie fast jedes Wochenende mit zu mir nach Hause. Als meine Mutter irgendwann herausfand, dass Xin’e bereits seit längerem an Malaria erkrankt war, die unter anderem ihr körperliches Wachstum stark beeinträchtigte, überschüttete sie das Mädchen mit liebevoller Besorgnis, ganz so, als wäre es ihre eigene Tochter gewesen. Fortan kochte sie für Xin’e und mich immer besonders nahrhafte Gerichte, die wir uns so richtig gut schmecken ließen.

Im Spätfrühling des Jahres 1939 überzogen die Japaner den Osten Chinas mit massiven Bombenangriffen. Auch die Zahl der Angriffe auf Chongqing nahm drastisch zu. Die Stadt wurde mittlerweile täglich, und wenn der Mond schien auch des Nachts, bombardiert. Allein an Tagen, an denen starker Regen fiel und eine dichte Wolkendecke tief über der Region hing, war uns eine Verschnaufpause vergönnt. Die von der Bevölkerung hastig errichteten Schutzbunker boten meist nur Schutz vor den Bombensplittern, konnten jedoch keinesfalls einem Direkttreffer standhalten. Rings um Chongqing herum wurden auf allen Anhöhen Frühwarnstellen postiert. Außer Sirenen wurden auch rote Laternen als Warnsignale errichtet. Wenn auf einer der hohen Stangen eine Laterne gehisst wurde und zur gleichen Zeit die Sirenen in der Abfolge „lang – kurz – lang – kurz“ heulten, dann bedeutete dies „Vorwarnstufe Fliegeralarm“. Wurde anschließend eine zweite Laterne hochgezogen und die Sirenen gingen über zu einer schneller an- und abschwellenden Tonfolge, dann wussten wir, dass die feindlichen Bomber im unmittelbaren Anflug waren. Das schrille Jaulen der Sirenen schallte von den Bergen herab und erfüllte jeden Winkel der Senke mit dieser Stimme des nahenden Todes, so dass sich Angst und Panik ausbreiteten. Besonders schlimm war es nachts, wenn der Alarm ausgelöst wurde und man durch das Heulen der Sirenen aus dem Tiefschlaf gerissen wurde. Man sprang auf, zog sich schleunigst etwas über und dann rannte man. Das Heulen der Sirenen sollte während der nächsten Jahre unser täglicher Begleiter sein, und uns blieb nichts anderes übrig, als irgendwie mit unserer Angst und Wut fertigzuwerden. Auch wenn es nach außen hin scheinen mochte, als wäre ich mit der Zeit abgestumpft, tief in meinem Innern entstand eine Wunde, die mit jedem Bombeneinschlag größer und größer wurde, bis heute ist sie nicht verheilt!

In unserer Schule gab es weder Luftschutzbunker noch Kellerräume. Bei Fliegeralarm rannten alle in ihren jeweiligen Schlafsaal, rafften einige Kleidungsstücke zusammen und sammelten sich im Eingangsbereich. Man hatte uns in Dreiergruppen eingeteilt, und sobald wir vollzählig waren, rannten wir zusammen ins Freie, um von den gut sichtbaren Gebäuden wegzukommen und irgendwo im Gelände eine geeignete Stelle zu finden, die uns ausreichend Deckung bot. Jeden Morgen beim Appell mussten wir den Notfallplan in Form eines Gedichtes mit den Zahlen eins bis vier rezitieren:

Einmal heult die Sirene durchs Land,

zwei Teile Kleidung nimm zur Hand,

drei Personen fliehen gemeinsam im Verband,

vier Richtungen überwachend, bis die Gefahr gebannt!

Unweit hinter dem Gebäudetrakt, in dem die Klassenzimmer für Mädchen lagen, befand sich ein spärlich gewachsenes Wäldchen. Zwischen den Bäumchen gab es zahlreiche Sandhaufen, so ähnlich wie bei einem Fuchsbau, die uns etwas Schutz boten. Mussten wir flüchten, so liefen wir zu dritt zu einem dieser Hügelchen und kauerten uns, so tief es ging, in eine solche Mulde hinein. Bei klarem Wetter konnte man die japanischen Bomber ganz deutlich beobachten. Auf den Unterseiten der Tragflächen prangte ihr Hoheitszeichen, die rote Sonne, und wir konnten erkennen, wie sich die Klappen der Bäuche öffneten und ihr tödlicher Inhalt herausglitt: die Bomben. Eine nach der anderen fiel heraus, so viele, dass wir sie nicht mehr zählen konnten, und sie glänzten silbern in der Sonne. Manchmal sahen wir auch die eigenen Jagdflieger im Einsatz und hörten in der Ferne das Rattern der Bordgeschütze. Wir konnten sogar richtig sehen, wie abgeschossene Flugzeuge eine schwarze Rauchschwade hinter sich herziehend oder wie ein brennender Feuerball vom Himmel stürzten. In diesen Augenblicken loderte unser Innerstetes aus Hass gegen die Japaner wie ein solcher Feuerball!

All das ließ sich nicht mehr ungeschehen machen und ich konnte es auch nicht mehr vergessen. Acht lange Jahre voller Angst und Verlust, acht lange Jahre voller Schmerz und ohne jegliches Gefühl von Sicherheit! Überall herrschte die Gewalt des Krieges, ja, sogar am blauen Himmel herrschte er, der doch eigentlich den Vögeln gehörte und nicht den Menschen. Wie sollte ich all das je vergessen können?

Im Juni desselben Jahres ordnete die Regierung an, dass sämtliche Lehrer, Schüler, Frauen und Kinder sowie die Alten und Schwachen bis Juli zu evakuieren seien, um die zivilen Verluste möglichst zu mindern. Sie sollten in die bewaldeten Regionen außerhalb der Stadt gebracht werden, wo sie vor den japanischen Bombenangriffen in Sicherheit wären. Am darauffolgenden Wochenende war meine Freundin Li Xin’e bei uns zu Hause und sagte meinen Eltern, dass ihr Vater uns an einen sicheren Ort in der Gemeinde Huangjueya einladen würde, wo er selbst stationiert sei. Nach den Sommerferien könnten wir voraussichtlich wieder in die Stadt zurückkehren. Mein Vater wusste, dass ein einfacher Soldat eine solche Einladung nicht hätte aussprechen können, und fragte sie deshalb nach dem Namen ihres Vaters. Es stellte sich heraus, dass ihr Vater der angesehene General Li Mi war, seines Zeichens ein hochrangiger Divisionskommandeur der Yunnan-Armee.

Dann begannen die Sommerferien und wir hatten alles Nötige gepackt für unseren Aufenthalt in den Bergen südwestlich von Chongqing. Wir, das waren Mutter, meine zwei jüngeren Schwestern und ich. Um nach Huangjueya zu gelangen, mussten wir zuerst einmal den Jangtse überqueren. Während der Überfahrt schrie der Steuermann plötzlich: „Dat Lateern gaht up! Dat Lateern gaht up! Gao! Furts an’t Euber! Galopp, Galopp!“ Mit einem waghalsigen Manöver legte die Fähre am anderen Ufer an und die Besatzung scheuchte uns eilig von Bord, damit wir uns im Schatten der Bäume verstecken konnten. Dort wartete auch schon ein Militärwagen, der uns zur provisorisch errichteten Kaserne fuhr, die ungefähr 15 Kilometer entfernt, außerhalb eines kleinen Städtchens, lag, welches sich kaum sichtbar in den dicht bewaldeten Ausläufern der Berge befand. In Uniform wartete Li Xin’es Vater bereits vor dem Divisionshauptquartier, um uns willkommen zu heißen. Zu meinem großen Erstaunen musste ich feststellen, dass der Vater der kleinen Xin’e ein hochgewachsener, eleganter und höchst eindrucksvoller Mann war. Wir verbrachten nicht viel Zeit mit ihm, da er sehr beschäftigt war und am dritten Tag nach unserer Ankunft die Garnison verließ, da man ihn zu einem anderen Verteidigungsposten bestellt hatte.

In einer Militärkaserne zu leben war sehr ungewohnt und irgendwie auch aufregend. Eine Erfahrung, die ich dort machen durfte, erfüllt mich bis heute mit ganz besonderem Stolz. Am Morgen des dritten Tages, kurz nachdem ihr Vater mit seinen Leuten abgereist war, ging Xin’e mit mir zu den Ställen und erklärte, dass sie mir das Reiten beibringen wolle. Oh, das war wirklich eine schöne Überraschung, denn ich erinnerte mich noch gut daran, dass die meisten Männer meiner Heimat reiten konnten. Auch mein Großvater besaß ein Reitpferd, aber für mich sollte das Reiten ein unerfüllbarer Traum bleiben, da ich noch zu klein und schwächlich war. Bis zu jenem Tag zumindest. Der Offiziersbursche von Xin’es Vater führte zwei große Pferde aus ihren Verschlägen und stellte sie vor uns hin. Selbst die Rücken dieser Tiere waren so hoch, dass wir Mädchen nicht darüber hinwegschauen konnten. Oje, plötzlich war ich mir gar nicht mehr so sicher, ob ich das Reiten lernen wollte. Während der Bursche uns erklärte, dass die Pferde jeden Morgen ausgeritten werden müssten, bemerkte er wohl meine Verunsicherung. Mit einem Augenzwinkern fügte er hinzu: „Keine Sorge, wenn so kleine Mädels wie ihr auf den Pferden sitzen, dann merken die nicht einmal, dass sie etwas auf dem Rücken haben!“

Li Xin’e war offensichtlich eine erfahrene Reiterin. Mit einem Schwung war sie bereits im Sattel. Ich hingegen stand erst mal wie angewurzelt da. Ich starrte das riesige Pferd des Divisionskommandeurs an und war einfach nur fassungslos. Ich wagte nicht einmal mehr, mich zu bewegen, obwohl ich insgeheim daran dachte, ganz schnell wegzulaufen. Der Offiziersbursche lächelte mir aufmunternd zu, dann packte er mich mit beiden Händen an der Taille, hob mich hoch, und „schwupps“, da saß ich auch schon im Sattel. Zuerst erklärte er mir, wie ich die Zügel zu halten hatte, dann steckte er meine Füße in die Steigbügel und los ging’s. Unter seiner Führung lernte ich erst mal im Schritt und dann im Trab zu reiten. Nach einigen Tagen konnte ich sogar schon allein mit dem Pferd im Galopp reiten. Was für ein herrliches Gefühl – so wild, so schnell, und ich fühlte mich so unglaublich lebendig. Während Chongqing in einer Entfernung von gerade einmal 15 Kilometern Tag und Nacht von den teuflischen Japanern bombardiert wurde, ritt ich jeden Morgen im Schutze der Kaserne durch den sommerlichen Wald. Der kühle Morgenwind wehte durch meine kurzen Haare und zum ersten Mal seit sehr langer Zeit fühlte ich mich wieder sicher und frei. So frei wie ich mich noch nie zuvor gefühlt hatte!

Es war ein traumhaftes und zugleich auch zwiespältiges Gefühl für mich, die ich das unglaubliche Glück hatte, das Schlachtross des Generals reiten zu dürfen. Im Sattel wirkte Li Xin’e selbstbewusst und sicher, ganz anders als in der Schule. Sie erzählte mir, dass sie schon als kleines Mädchen zusammen mit ihrem Vater die heimatliche Provinz Yunnan erkundet hatte. Manchmal waren sie wochenlang unterwegs in abgelegenen Regionen, wo es keinerlei befestigte Wege gab, und so war es eine absolute Notwendigkeit, dass sie das Reiten erlernte. Ihre Erzählungen von den hohen Bergen mit ihren schneebedeckten Gipfeln, den steilen Karsthängen, die nur schwer zu erklimmen waren, von den tiefen Schluchten mit den rauschenden Wasserfällen und den mächtigen Strömen, die das Land durchziehen – all das weckte in mir die aufregendsten Fantasien – wie oft wünschte ich mir seit jenen Tagen und in den darauffolgenden Jahren, dass ich als Junge auf die Welt gekommen wäre. Dann hätte ich mich freiwillig zur Armee gemeldet und in der Kavallerie gekämpft, so wie die Soldaten der „ Breitschwerterhaufen“ des 29. Korps, die die Große Mauer von Xifengkou bis Nantianmen verteidigt hatten. Aber noch lieber wollte ich wie die mongolischen Vorfahren meiner Großmutter sein, die sich in den Sattel geschwungen und zehntausende Kilometer im Ritt bezwungen hatten. Das waren wirklich tapfere Krieger, und lieber wollte ich wie ein Kämpfer sterben, als mich feige vor den japanischen Bombern mit ihren Zwerg-Piraten hinter einem Sandhügel zu ducken.

Zwei Mädchen, das eine aus dem nördlichsten Teil Chinas und das andere aus dem äußersten Südwesten, verbunden durch eine Freundschaft, die während der feindlichen Luftangriffe begann und mit jedem Tag wuchs. Im Guten wie im Schlechten teilten sie das gleiche Schicksal. Eine so enge freundschaftliche Bindung, der dieses Gefühl von tiefer Verbundenheit zugrunde lag, vermag niemand wirklich nachzuempfinden, der in Zeiten des Friedens aufgewachsen ist. Insbesondere während der nächtlichen Bombardements, wenn die Sirenen heulten und diese zwei Mädchen Hand in Hand ins Freie liefen, jede den Namen der anderen rufend, aus Angst sich zu verlieren. Gemeinsam rannten sie um ihre jungen Leben und suchten im kalten Schein des Mondes nach einem Sandhügel, der ihnen ein wenig Schutz gewähren würde. Dann lagen sie keuchend und dicht aneinandergedrängt in der kleinen Mulde, wartend und lauschend. Sie lauschten den Detonationen in der Ferne, deren Echo weithin zu hören war, bis die Einschläge immer näher kamen und sie sich noch tiefer in den Sand drückten. Erst nachdem das letzte Echo verklungen war, wagten sie es vorsichtig, ihre Köpfe zu heben, und sahen den hellen Schein der Feuer, die dem Himmel über der 15 Kilometer entfernten Stadt eine orangerote Färbung verliehen. Diese zwei 15-jährigen Mädchen teilten jede einzelne Sekunde, die mit grauenvollem Schrecken und Todesangst gefüllt war, bis die Sirenen endlich das Zeichen zur Entwarnung gaben. Meistens endete der Spuk irgendwann zwischen zwei und drei Uhr morgens. Tiefe Seufzer der Erleichterung waren von allen Seiten zu hören, wenn einige hundert Steine von einigen hundert Herzen fielen. Hunderte von Überlebenden beglückwünschten sich gegenseitig, dass sie noch lebten, und trotteten dann völlig übermüdet zurück in ihre Wohnheime. Kaum jemand verspürte die geringste Lust, den nächtlichen Himmel zu betrachten, der kurz zuvor noch eine tödliche Bedrohung gebracht hatte und im nächsten Augenblick wieder friedlich über uns schwebte. Der helle Mond näherte sich bereits dem Horizont, und fröhlich blinkten zahllose Sterne im schwarzblauen Samt des Universums, aber auch ich vermochte nichts Schönes darin zu sehen …

Nach Abschluss der Unterstufe musste Li Xin’e zusammen mit ihrem Vater nach Yunnan zurück. Die Japaner hatten ihre Bemühungen intensiviert, China von Nachschublieferungen aus dem südasiatischen Ausland abzuschneiden, und besetzten inzwischen weite Teile der südlichen Küstenregion. Unaufhaltsam rückte der Krieg weiter in den Südwesten des Landes vor. Um neue Transportwege für Lieferungen aus dem Ausland zu schaffen, bauten die Chinesen mittlerweile an der Grenze zwischen Yunnan und Burma eine Verbindungsstraße, und diese musste nun militärisch geschützt werden. Als Xin’e sich von uns verabschiedete, gab sie meiner Mutter einen kleinen Schmuckbeutel aus gefütterter und bestickter Seide. In diesem befand sich ein Armreif aus Jade, den meine Mutter für sie aufbewahren sollte. „Das ist ein Andenken an meine Mama“, erklärte sie uns, „aber die ist ja nicht mehr da.“ Xin’e hatte nur sehr selten über ihre Familie gesprochen, und ihre Mutter hatte sie überhaupt nicht erwähnt, daher konnten wir nicht wissen, was sie damit tatsächlich meinte, aber ich ahnte, dass es etwas sehr Trauriges sein musste. Jetzt fiel mir der Abschied noch schwerer, doch wir versprachen einander, immer in Kontakt zu bleiben.

Sie schrieb mir nur ein einziges Mal, nachdem sie in Yunnan angekommen war. Als der Krieg endlich vorbei war, dauerte es nicht lange und auch wir mussten Chongqing für immer verlassen. Seitdem hatten wir uns endgültig aus den Augen verloren. Zehn Jahre später, als wir bereits seit einigen Jahren auf Taiwan lebten, erfuhren wir aus Zeitungsberichten, dass sich auch die letzten Verteidiger der chinesischen Nationalregierung auf dem Festland endgültig geschlagen gegeben hatten und vor den Kommunisten auf der Flucht waren. General Li Mi, der noch während der vergangenen Jahre von seiner Militärbasis in Burma aus Angriffe geführt hatte, war es gelungen, sich und seine Truppen im letzten Moment ausfliegen zu lassen, und er wurde nach seiner Ankunft auf Taiwan als Held gefeiert. Mein Vater, der zu jener Zeit noch Parlamentsabgeordneter war, sprach mit ihm anlässlich einer Ehrung des Generals durch die Nationalversammlung. Bei dieser Gelegenheit überreichte er ihm den Armreif mit der Bitte, diesen seiner Tochter Xin’e zu überbringen. Als General Li den Armreif sah, war er so überrascht, dass es ihm für einen Moment die Sprache verschlug. Später erzählte er meinem Vater, dass Xin’e bereits vor einiger Zeit im Ausland geheiratet hatte. Die beiden Männer sprachen über die Kriegszeit in Chongqing, als man noch voller Zuversicht gewesen war und auch noch eine unerschütterliche Kampfmoral geherrscht hatte, wohingegen man über die Gegenwart nur fassungslos den Kopf schütteln konnte.

5 - „Jeden Tag eine gute Tat“

Zu den glücklichsten Erinnerungen an meine Zeit in der Unterstufe zählt die Ausbildung zur Pfadfinderin. In Zeiten des Krieges sind die Jugendlichen mutiger, und damit meine ich nicht das pubertäre Draufgängertum. Vielmehr ist es ihre wahrhafte Unschuld, die so ein starkes Gefühlserlebnis befördert: In den Herzen der Kriegsjugend loderte die Flamme des Patriotismus besonders hell, und sie brannte darauf, für ihre Heimat zu kämpfen!

Nach einem der heftigsten Bombenangriffe, den die Japaner während des Krieges auf Chongqing verübt hatten, tobte in weiten Teilen ein Flammeninferno. Tausende waren zu Tode gekommen und unzählige Menschen waren in Bunkern und Gebäudetrümmern verschüttet. Nachdem die schlimmsten Brände unter Kontrolle gebracht worden waren, schickte unsere Schule eine Gruppe von Pfadfindern in die Stadt, um einen Beitrag zur Rettung unserer Nation zu leisten und den Opfern des Angriffs zu helfen. Schon bald fuhren die ersten Leichentransporte an uns vorbei, die ihre grauenhafte Fracht aus der Stadt schaffen sollten, um eine Ausbreitung von Seuchen zu verhindern. Kaum hatten wir die Hälfte des Weges zurückgelegt, sahen wir überall Soldaten, die die verkohlten Leichen aus zum Teil noch brennenden Trümmern und Ruinen herauszogen. Ein kaum zu ertragender Gestank, gemischt mit dem Qualm der schwelenden Brände, machte das Atmen beinahe unmöglich. Je weiter wir liefen, desto höher wuchsen die Leichenberge. Irgendwann wurde der Anführer einer Bergungstruppe auf uns aufmerksam und kam auf uns zugerannt. Er packte unseren Lehrer am Ärmel und schrie ihn an: „Aia! Du Dösbaddel! Wat moken düsse Kinners hier? Bring se bloot wedder nahuus, sünst gifft dat wat achter de Riestüten!“

Vor lauter Entsetzen und Hilflosigkeit hatten wir begonnen, unter Tränen unsere Pfadfinder-Hymne zu singen. Da standen wir klägliche Gestalten am Straßenrand und schluchzten mehr, als dass wir sangen: „Wir, wir sind die kleinen Soldaten des chinesischen Volkes, und sind wir auch noch so unbedeutend, umso größer ist unser Bestreben …“ Es wurde gemunkelt, dass der Lehrer nach unserer Rückkehr zur Schule einen mächtigen Tadel erhalten hätte. Am schlimmsten waren jedoch die kilometerlangen Reihen schwarz verkohlter Leichen, deren Anblick mich noch den größten Teil meines Lebens in grauenhaften Albträumen verfolgen sollte.

Ich nahm unser damaliges Motto, „jeden Tag eine gute Tat“, sehr ernst. Unter der Woche in der Schule war das kein Problem, da gab es immer jemanden, der Hilfe gebrauchen konnte, aber an den Wochenenden wurde es schon schwieriger. Immer wenn ich mich auf dem Heimweg nach Shapingba befand, hoffte ich auf eine Gelegenheit, jemandem helfen zu können, und so hielt ich mit Adleraugen Ausschau nach verzweifelten Hilfsbedürftigen. Zu jener Zeit hatte sich der Bezirk Shapingba bereits zu einem Kulturzentrum gemausert, mit einer entsprechend bürgerlichen Einwohnerschaft: zehntausende Schüler, Studenten und Lehrkräfte von der Zentralen National-Universität, der Chongqing-Universität und der Nankai-Schule sowie Angestellte der Regierung und bedeutender Unternehmen. Für uns Pfadfinder gab es da enttäuschend wenig zu tun, wo wir doch so gern gezeigt hätten, dass wir es richtig draufhaben.

Kurz nach Beginn des dritten Schuljahres wurde uns hochrangiger Besuch aus dem Ausland angekündigt, und der erste offizielle Termin sollte bei uns in der Schule stattfinden. Für jenen Tag wurden eine Mitschülerin und ich als Torwache eingeteilt. Was für eine Ehre! Ich, die frisch zur Rädelsführerin befördert worden war, durfte die Schule und zugleich unsere Pfadfinder-Gruppe repräsentieren. Endlich war es so weit, und nach dem morgendlichen Appell zog ich meine neue Festtagsuniform an, mit aufgesticktem Verbands- und Schulabzeichen und einer Fangschnur an der rechten Schulterklappe. Dazu trug ich mein lila-weiß gestreiftes Halstuch und führte meinen handgeschnitzten Kommandostab, den ich als Gruppenleiterin bekommen hatte. Derart ausstaffiert stolzierte ich also mit stoischer Miene vor dem Schultor auf und ab. Ich fühlte mich ungemein wichtig.

₺710,39

Türler ve etiketler

Yaş sınırı:
0+
Hacim:
1156 s. 78 illüstrasyon
ISBN:
9783903861114
Telif hakkı:
Bookwire
İndirme biçimi:
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre