Kitabı oku: «Der Mächtige Strom», sayfa 14

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Ausgerechnet an diesem Tag kam Zhang Dafei, der inzwischen ein ausgebildeter Pilot der Luftwaffe geworden war, nach Chongqing, um uns zu besuchen. Wie es der Zufall wollte, führte ihn sein Weg ausgerechnet an meiner Schule vorbei, und nachdem er bei uns zu Hause angekommen war, sagte er zu meiner Mutter: „Ich dachte, ich traue meinen Augen nicht, aber vorhin habe ich Pang-Yuan gesehen. Die haben sie als Torwache vor der Schule postiert. Ihr Oberarm ist genauso dünn wie der Kommandostab, den sie neben sich führt.“

Mir war es gleichgültig, da sowieso alle meinten, ich wäre zu dünn. Ich wiederum empfand dicke Menschen irgendwie als unfein. Und in Anbetracht der allgemeinen Kriegsnot beinahe als vulgär. Aber von Schönheit verstand ich damals sowieso nichts. Ich hatte einen Jungenhaarschnitt und kam gar nicht auf die Idee, mich in einem Spiegel zu betrachten. Ich hatte auch nicht einmal über den Unterschied zwischen Mädchen und Jungen nachgedacht, da das Thema Geschlechter mich bis dato nicht die Bohne interessiert hatte. Ganz im Gegenteil zu meiner Kusine Baogang, die bereits die zweite Klasse der Oberstufe an der Zhongshan-Schule besuchte. Sie war bildhübsch und galt an ihrer Schule als „Die Schönheit“. Da wir damals alle zusammen in dem Haus in Shapingba lebten, verbrachten wir die Schulferien meistens gemeinsam. Ich sah, wie sie sich ständig in irgendeinem Spiegel betrachtete. Als sie meinen Blick bemerkte, gab sie mir zu verstehen, dass sie die Gleichgültigkeit, die ich meinem Äußeren entgegenbrachte, einfach unerträglich fand: „Ej, wieso dauert deine Kindheit immer noch so ewig lang?“

Ich gebe zu, dass der Punkt damals eindeutig an sie ging. Es stimmte, dass ich die gesamte Zeit in der Unterstufe unbewusst als Verlängerung meiner Kindheit empfand, dementsprechend wirkte auch mein Äußeres. Nach all den Jahren voller Umbrüche und Schulwechsel befand ich mich in Chongqing zum ersten Mal für längere Zeit in einem relativ stabilen Umfeld, in dem sich auch meine Persönlichkeit beständig entwickeln und entfalten konnte. Ich denke, dass auch die kameradschaftliche Atmosphäre an der Nankai das ihrige dazu beigetragen hat. Vor allem war es jedoch der Geist, der das Fundament dieser Schule bildete, die Entwicklung der Schüler auf allen Ebenen zu fördern: das Wissen genauso wie den Intellekt, und körperliche Fähigkeiten ebenso wie charakterliche Größe.

Weil ich nach den Sommerferien in die Oberstufe gehen würde, sortierte ich meine Pfadfinderuniform nun aus; Mutter ließ, vor Beginn des Semesters, länger geschnittene blaue Schulkleider in hell- und dunkelblauen Farben für mich anfertigen. Diese einteiligen Qipao-Kleider waren seit der republikanischen „Bewegung des Neuen Lebens“ in Mode gekommen und meine Mutter war eine starke Befürworterin des neuen Frauenbildes. Der neuartige Stoff, aus dem die republikanischen Bekleidungsträume gewebt waren, wurde als Yin-dan-shi-lin bu bezeichnet und hatte den großen Vorteil, dass die frische Indigo-Farbe auch nach häufigem Waschen nicht verblasste. All das interessierte mich damals nicht weiter, aber die hellblaue Farbe gefiel mir sehr gut. Eines Morgens verließ ich, nun mit meiner nagelneuen kurzärmligen Uniform bekleidet, das Haus und lief auf einem schmalen Pfad den kleinen Hang bis zu den Reisfeldern hinunter. Dort wagte ich mich dann auf einen der schmalen Erdwälle, die die Reisfelder voneinander trennten. Es bedurfte durchaus einer gewissen Geschicklichkeit, um auf so einem schmalen grasbewachsenen Lehm-Grat nicht die Balance zu verlieren, vor allem weil die Felder durch heftigen Regen voller Wasser standen. Als ich vorsichtig hinunterschaute, sah ich auf der Wasseroberfläche die Reflektion eines Mädchens, das mit seitlich ausgestreckten Armen vor einem blauen Himmel mit dahinziehenden weißen Wolken zu fliegen schien. Das Gesicht des Mädchens zeigte Glückseligkeit und Konzentration. Das war also ich mit meinem neuen Schulkleid, 16 Jahre alt, und zum ersten Mal in meinem Leben sah ich mich bewusst in einem Spiegel an – in diesem riesigen Spiegel zwischen Himmel und Erde!

Und immer noch wütete der Krieg mit unverminderter Grausamkeit. Der dumpfe Widerhall von explodierenden Bomben vermischte sich mit dem Klang des lauten Buchlesens im Klassenraum. Wir vergruben uns in unseren Büchern und lernten sehr fleißig, wenn uns die Sirenen nicht aufscheuchten und wir die Flucht ergreifen mussten. Wenn Prüfungen anstanden, dann schnappten wir uns bei Fliegeralarm schnell noch ein paar Bücher, die wir für unsere Vorbereitungen benötigten, denn niemand konnte sagen, wie lange wir in unseren Sandlöchern festsitzen würden. Wir hatten uns mit der Zeit im Kriegsalltag eingerichtet. Verglichen mit der heutigen Jugend, die das Privileg besitzt, in einem friedvollen Umfeld aufzuwachsen, lernten wir damals schon sehr früh das menschengemachte Elend und schlimmste Seelenpein kennen. Den Geist betreffend mochte dies einen gewissen Vorteil mit sich bringen, da man schneller erwachsen wurde, also verständiger und reifer im Denken. Doch unsere kindlichen Seelen alterten weit vor der Zeit, viel zu früh hatten wir die Leichtigkeit der Jugend verloren.

Wie oft fühlten wir uns müde, erschöpft und antriebslos, was eine Folge der schwierigen Umstände war: Versorgungsengpässe bewirkten, dass wir uns meist einseitig und bisweilen nicht ausreichend ernährten. Unsere Bekleidung war meist schlicht, während der kalten Jahreszeit nicht ausreichend warm. Doch am schlimmsten war der permanente Mangel an Schlaf, verursacht von einem Heer blutdurstiger Bettwanzen, gegen die wir uns nicht zu wehren vermochten. Und in mondhellen Nächten, wenn die feindlichen Bomber uns aus den Betten jagten und wir um unser Leben rennen mussten. Auch unsere schulischen Leistungen wurden dadurch beeinträchtigt, vor allem als die Japaner begannen, uns fast täglich zu bombardieren. Umso kostbarer wurde uns die verbleibende Zeit, die uns so spärlich zur Verfügung stand. Augenblicke der Ruhe, des Friedens und ohne das Gefühl der Todesangst, so unsagbar wertvoll waren diese in jenen Tagen, dass wir jede einzelne Sekunde genossen. „Wer sich nicht anstrengt, der fällt durch!“, schärften uns unsere Lehrer immer wieder ein, was in unseren Ohren ebenso bedrohlich klang wie: „Wer keine gute Deckung hat, wird von den Bomben in Stücke gerissen!“

Viele ausgesprochen ermutigende Worte begleiteten uns vom täglichen Morgenappell bis zum Silentium am frühen Abend und prägten sich tief in unsere Seele hinein. Wir hatten in dieser Schule, abseits des flammenden Infernos und der Wirren des Krieges, über Jahre hinweg ein stabiles Umfeld gefunden, in dem Lehrer und Schüler fleißig und unbeirrt zusammenarbeiteten, und dieser Nachwuchs konnte vergleichsweise normal aufwachsen. Bis heute weiß niemand genau, wie hoch die Zahl der Jugendlichen war, denen ein solches Glück verwehrt blieb und die wir heute zu einer verlorenen Generation zählen. Unser Schuldirektor, Zhang Boling, pflegte immer zu betonen: „Selbst wenn ihr kein Schulabzeichen tragt, müssen die Leute da draußen erkennen, dass ihr Schüler von der Nankai seid.“

6 - Literaturgenuss im Bombenhagel

Während der Sommerferien im Jahre 1940 erfuhr ich durch den Roten Aushang der Schulverwaltung, dass ich von der Unterstufe in die Oberstufe aufgestiegen war. Mir fiel ein riesiger Stein vom Herzen und ich war überglücklich, dass ich den Sprung trotz aller Widrigkeiten geschafft hatte. Es bedeutete auch, dass ich für eine ganze Weile von jeglichem Prüfungsstress befreit war. Ich genoss die langen Sommertage ohne schulischen Leistungsdruck in vollen Zügen, und so oft ich konnte, schlenderte ich durch den friedlichen Campus der Zentralen National-Universität bis zum Ufer des Jialing-Flusses. Mein Lieblingsplatz war eine kleine felsige Ecke, in der ich bequem sitzen und ungestört die frische Luft schnuppern konnte. Nachdem ich eine Weile die herrliche Aussicht betrachtet hatte, las ich gern in einem meiner Bücher. Zu meinen Füßen glucksten kleine Wellen und das klare, leicht grünliche Wasser rauschte friedlich an mir vorbei in die Ferne. Es gab keinen richtigen Pfad, der zu meinem Lieblingsplatz führte, und so kam es mir vor, als sei dieser einsame Ort nur für mich geschaffen worden – mein ganz persönliches, kleines Eiland.

In diesen Ferien las ich etliche der klassischen chinesischen Romane, besser gesagt verschlang ich sie wie eine gefräßige Raupe: „Die Räuber vom Liangshan-Moor“ las ich gleich zweimal, den „Traum der Roten Kammer“ sogar sechsmal. An diesen beiden Büchern konnte ich mich einfach nicht sattlesen. Vor allem von dem zweiten Roman konnte ich nicht genug bekommen, so spannend erschienen mir die Geschichten, und jede der Romanfiguren war auf ihre eigene Weise schön und liebenswert. Die Welt dieser Protagonisten stand im krassen Gegensatz zu meiner eigenen, viel zu realen Welt aus Krieg und Flucht. Allzu gern ließ ich mich in eine Traumwelt entführen, wo das Nichtsein zum Sein wurde und das Sein ohne Bedeutung war. Natürlich las ich auch den Klassiker „Die Reise nach Westen“, doch die Akteure erschienen mir, ästhetisch betrachtet, allesamt als hässlich, und vom moralischen Standpunkt aus vollkommen ungenießbar. Zwischendurch hatte ich mich auch durch den historischen Roman „Die Geschichte der Drei Reiche“ gequält, aber die vielen Episoden waren derart verworren und umständlich erzählt, dass ich am Ende alles durcheinanderbrachte. So eine verwickelte Geschichte, dachte ich, könne vermutlich nur mein Vater verstehen.

Wie es die Kleiderordnung der Schule vorsah, packte ich mit Eintritt in die Oberstufe meine Pfadfinderuniform in den Keller und zog mein langes Qipao-Kleid an. Im Frühling und im Sommer waren es die hellblauen, die feiner gewebt waren, und in den kälteren Jahreszeiten waren es die Kleider aus dem dickeren Yindanshilin-Stoff in Dunkelblau. Zuerst bemerkte ich es gar nicht, dass diese neue Kleiderordnung psychologisch gesehen wahre Wunder wirkte. Vom ersten Augenblick an veränderte sich mein Gang, denn ich konnte nicht mehr so weit Ausschreiten wie bisher, und zu laufen wie ein Junge fühlte sich irgendwie unpassend an. Mir wurde nun bewusst, dass ich mit 16 Jahren allmählich zu einem erwachsenen, jungen Fräulein geworden war. Seitdem bedeutete für mich das Lernen in der Schule nicht mehr nur zu pauken und die Hausaufgaben zu machen (außer in Mathematik) – sondern es bedeutete, sich Wissen zu erwerben und auch zu besitzen. Plötzlich begriff ich, welchen Wert echtes Wissen ausmachte, und egal, ob es sich um ein einfaches Thema oder ein tiefgründiges handelte, alles was ich lernte, würde das Fundament für meine Zukunft bilden. Ich hatte schließlich begonnen, bewusst für mein Leben zu lernen.

Für uns Schülerinnen war es ein großes Glück, dass wir auch in der Oberstufe wieder Unterricht bei Frau Wu Zhenzhi hatten. Im Fach „Humangeographie“ lernten wir nicht nur die Welt kennen, sondern auch die unterschiedlichen Völker und deren kulturelle Entwicklungen. Sie begann mit den Ursprüngen der Weltgeschichte und deren Wandel bis zur Gegenwart. Die kulturelle Entwicklung der Völker war ganz eindeutig ihr Steckenpferd, und wie sich verschiedene Gesellschaftsformen bis zu unserer Zeit verändert hatten. Manchmal zeichnete sie im Laufe einer Stunde die ganze Weltkarte an die Tafel: mal war es eine Weltkugel mit Kontinenten, dann wieder das antike Griechenland oder die Grenzen des stetig wachsenden Römischen Reiches, und sogar Karthago, die Hauptstadt des phönizischen Reiches. Sie erzählte uns von Königin Elisabeth I. und den Seeschlachten der Spanischen Armada, sie zeichnete für uns die Routen der Entdeckungsfahrten eines Christoph Kolumbus mit der gleichen Begeisterung, wie sie die ersten Forschungsexpeditionen zum Nordpol und in die Antarktis beschrieb. Befanden wir uns in der einen Woche im exotischen Indien, fanden wir uns während der nächsten in der Welt der Weisheit und Sinnlichkeit des Nahen Ostens wieder, später wiederum in einem bitterarmen, aber zugleich mysteriös anmutenden Afrika. Jede ihrer Unterrichtsstunden schlug uns in einen geheimnisvollen Bann, wie jene Legenden, die sich die Seeleute auf ihren wilden Fahrten über die Weltmeere erzählen. Wir waren gefesselt und fasziniert von den Wundern dieser Erde und unsere jugendliche Fantasie trug die unglaublichsten Bilder hinüber in unsere nächtlichen Träume.

Der Inhalt unseres Lehrbuches war schon ein beachtliches Pensum und unsere eigenen Notizen füllten bereits mehrere Hefte, aber sie ließ es sich nicht nehmen, uns noch die beeindruckenden Bilder und Zeichnungen in den für damalige Verhältnisse ausgesprochen seltenen und kostbaren ausländischen Folianten zu zeigen. Dazu sprach sie mit ihrer tiefen, gefühlvollen Stimme so eindringlich, als hätte sie den Kampf ums Überleben in jeder Phase am eigenen Leib erfahren. Ich spürte einen unaussprechlichen Schmerz, der aus einer weit entfernten Tiefe ihrer Seele nur ganz selten in ihrer Stimme mitschwang. Vielleicht vermochte auch der Rest unserer Mädchenklasse diesen leicht rauen Unterton in der Stimme unserer jungen Lehrerin wahrzunehmen und den Schmerz nachzuempfinden, den sie seit dem Verlust ihres Verlobten in sich trug. Doch ebenso wie ihren Schmerz spürte ich auch ihre Liebe für das Leben und die Offenbarungen dieser Welt. Durch sie wurde meine Neugier für das Unbekannte geweckt und der Wunsch, alle diese fremden Länder zu bereisen. Damals konnte ich nicht ahnen, dass sich dieser Wunsch eines Tages erfüllen und ich die Gelegenheit bekommen sollte, zahlreiche Reisen zu unternehmen. Dank ihrer Erzählung machte ich es mir zur Gewohnheit, jede Reise eingehend vorzubereiten, denn ich wollte die Erkenntnisse aus ihrem Unterricht vertiefen und erweitern. Es genügte mir nie, einen Ort nur halb blind und oberflächlich zu erleben. Es war mir wichtig geworden, das Volk, welches ich besuchte, auch in seinem Wesen zu begreifen.

Ein weiterer Glücksfall war es, dass wir auch wieder Unterricht beim leidenschaftlichen Menzius hatten. Der allseits beliebte Herrn Meng unterrichtete nicht nur Chinesisch, sondern leitete auch einen neuen Kurs für chinesische Lyrik. Ich hatte mich sofort zu Semesterbeginn eingeschrieben und kam denn zu dem Vergnügen, seinen Unterricht sieben Mal in der Woche besuchen zu dürfen, also täglich.

Herr Meng war etwa Anfang 50, was für unsere Begriffe damals schon als steinalt galt. Er trug das ganze Jahr hindurch den traditionellen Changpao, also ein langes Gewand aus einem feinen, hochwertigen Wollstoff in unterschiedlichen Grautönen, das weder modisch noch elegant anmutete. Zur Abwechselung erschien er ab und an im „Sun-Yat-Sen-Look“, das heißt, er trug entweder einen schwarzen oder einen weißen Anzug mit kleinem Stehkragen. Seine Stimme klang eher hölzern, was seinen Tianjin-Dialekt noch unterstrich, und passte eigentlich gar nicht zu ihm, denn dieser Dialekt hatte etwas ausgesprochen Machohaftes an sich, während Herr Meng doch eher ein gefühliger Mensch von sanftem Wesen war. Dennoch gelang es ihm unbewusst, sobald er im Unterricht zu sprechen begann, alle Schüler und Schülerinnen für sich zu gewinnen. Seine Worte plätscherten nicht wie ein Rinnsal vor sich hin, sondern strömten wie ein Fluss aus seinem Munde, mit einer unerwarteten Tiefe und Breite, und seine Geschwindigkeit wurde wie selbstverständlich an die jeweilige Stimmung und Gemütslage eines Gedichtes oder lyrischen Textes angepasst.

Fünfzig Jahre später haben ehemalige Schüler der Nankai-Mittelschule einen Jubiläumsband mit Erinnerungen und Geschichten aus ihrer Schulzeit in Chongqing zusammengestellt. Die meisten Geschichten handelten tatsächlich von Herrn Meng und seinem Chinesischunterricht. In einem Artikel mit dem respektvoll gemeinten Titel „Der leidenschaftliche Lehrer Meng“ stellte der Autor fest, dass das hohe Niveau der Lehrbücher für chinesische Dichtung und ihr landesweiter Erfolg im Wesentlichen der gewissenhaften Redaktion von Herrn Meng, dem Herausgeber, zu verdanken sei. Des Weiteren beschrieb er Mengs Unterricht als: „Leidenschaftlich, herausragend, stets voller Begeisterung und zuweilen ein wenig eigentümlich. Jeder, der seinen Unterricht erleben durfte, wurde unweigerlich in seinen Bann gezogen. Geschickt lenkte er unsere reflektierenden Gefühle zum einen in ungeahnte Höhen und dann wiederum in abgründige Tiefen. Wie hypnotisiert folgten wir ihm taumelnd durch die schillernden Welten der Tang- und Sung-Dichtung, bis das Läuten der Pausenglocke uns wieder in die Realität zurückholte.“ Dann fügte er noch hinzu, dass die Mädchenklassen bedauerlicherweise nicht das Glück gehabt hätten, Herrn Meng während einem seiner überschwänglichen Gefühlsausbrüche zu beobachten, wenn er vor lauter Freude oder Wut geradezu Funken der Leidenschaft versprühte.

Das mag wohl so der Fall gewesen sein, doch der Leidenschaftliche zog auch uns in seinen Bann, und viele seiner Ratschläge hatten Einfluss auf die Art und Weise, wie ich später Literatur betrachtet habe. So war ich damals schon reif genug, um zu begreifen, was er damit meinte, als er uns erklärte: „Wenn man nicht die Zeit hat, das gesamte Werk des Shi Ji und somit alle 130 Kapitel der Aufzeichnungen des Chronisten vom ehrwürdigen Sima Qian zu lesen, aber zumindest die besten Teile davon genießen möchte, dann sollte man sich zuerst mit den Biographien der Glücklosen befassen. So sind zum Beispiel die Annalen von Xiang Yu, dem unglücklichen General, um vieles faszinierender als die Annalen von Liu Bang, dem Gründer und ersten Kaiser der Handynastie.“ Wir spiegeln uns im Scheitern der anderen auf der Suche nach Erkenntnis, denn wir wollen lernen, reflektieren und es besser machen. So waren es auch meine eigenen Erlebnisse auf dem langen Fluchtweg von Nanking bis Chongqing, die mich begreifen ließen, warum Herrn Meng jedes Mal Tränen in die Augen stiegen, wenn er uns die Gedichte des berühmten Dichters Du Fu (712–770) vortrug. Wie kaum ein anderer Dichter hatte Du Fu die Fähigkeit, mit einfachen Worten eindringliche Bilder zu erschaffen. Bilder, die soziale Missstände enthüllten und die wahre Fratze des Krieges für jeden sichtbar machten. Der Leidenschaftliche erfüllte diese Gedichte mit so viel Leben und Gefühl, dass eine Melancholie im Raum entstand, die beinahe greifbar war. Die ganze Klasse vermochte diesen tiefen Kummer zu spüren, und es machte uns auch sehr nachdenklich.

Zwei Jahre lang besuchte ich seinen Kurs über chinesische Lyrik, und während dieser Stunden tauchte ich hinab in eine Welt der schönen Worte und großen Gefühle. Wie berauscht war ich und stürzte mich voller Freude und Begeisterung auf die klassischen Werke, lernte sie kennen und schätzen, denn sie spendeten mir Trost und ließen mich für einen Augenblick die furchtbaren Gräuel des Krieges vergessen. Viele dieser Gedichte kann ich bis heute noch auswendig aufsagen. Ein nützlicher Nebeneffekt war das Memorieren langer Texte, welcher mir etliche Jahre später, als ich an der Wuhan-Universität studierte, gute Dienste leistete. Dort besuchte ich die Vorlesungen von Professor Zhu Guangqian zur englischen Dichtung und war in der glücklichen Lage, an die hundert lyrische Werke auswendig lernen zu können. Während dieser vier Jahre war ich erfüllt von dem Widerhall, den die ausgesuchten chinesischen und englischen Werke in mir hervorriefen: so sehr sie sich auch in Inhalt, Stil und dem Verständnis von Idealen unterschieden, so ähnlich waren sie sich in der Tiefe der Gefühle, der Sinnhaftigkeit und der Bedeutungsschwere ihrer Aussagen. Die Verschmelzung dieser lyrischen Werke aus zwei vollkommen unterschiedlichen Kulturen während der morgendlichen Dämmerung meines Lebens sollte mich für immer prägen: Sie machte aus mir die Persönlichkeit, die ich heute bin! Um es mit einer Zeile aus Qin Zihaos „Die Goldene Maske“ zu beschreiben: „So traurig, so glücklich, so eigentümlich.“

7 - Die Zeitschrift „Zeit und Strömung“

Als ich in die Oberstufe kam, hatte ich auch genug Selbstbewusstsein entwickelt, um die Redaktionsarbeit für unsere Schülerinnen-Zeitung zu übernehmen. Damals gab es noch keine Kopiergeräte und eine Druckerpresse wäre viel zu teuer gewesen, daher bestand unsere Zeitung aus einem länglichen Blatt Papier mit handgeschriebenen Nachrichten, das ans schwarze Brett des Wohnheims geheftet wurde. Einige dieser Kurzartikel schrieb ich selbst mit Pinsel und Tusche, was mit der Zeit dazu führte, dass meine Handschrift zunehmend einer Druckschrift glich. Später dann, als Dozentin für Englisch, hatte ich mir angewöhnt, ausschließlich die ordentliche und gut lesbare „quadratische Tafelschrift“ zu verwenden. Ich denke, das war auch der Grund, warum ich nie die wahre Kunst der traditionellen Kalligraphie zu erlernen vermocht habe. Ein wenig bedaure ich es, dass ich nie den Zauber dieser Kunstform erfahren durfte, diesen Zustand seliger Verzückung, wenn sich im Geiste das Zeichen formt und mit dem Gefühl für die Bedeutung zu einem Bild vereint, welches aus der Hand in einer bewegenden Pinselführung auf das kostbare Papier fließt. Meine Hand schien schlichtweg unfähig zu sein, die ureigenen Charakterzüge unterschiedlicher Stile der chinesischen Schönschrift nachzuvollziehen. So wenig Talent ich auch für die Kunst der Schrift besaß, mein Hunger nach Wissen war dafür umso größer. Unermüdlich sog ich neues Wissen auf, suchte nach Erkenntnis und wollte immerzu alles reflektieren und verstehen. Gepaart mit meinem jüngst erwachten Selbstbewusstsein entdeckte ich eine neue Fähigkeit an mir: Ich konnte debattieren. Es machte mir sogar richtig Spaß, und so meldete ich mich nach einer Weile zu einem Debattier-Wettbewerb an. Themenschwerpunkt war natürlich das aktuelle Zeitgeschehen, also marschierte ich einfach ins Nachbarhaus, wo sich die Redaktion der Zeitschrift „Zeit und Strömung“ befand. Da mein Vater Herausgeber dieser Zeitung war, bekam ich die neuesten Berichte und Abhandlungen aus der ganzen Welt vorgelegt, allesamt von authentischen Quellen und häufig im englischen Original. Ich lernte wie besessen, und als der Tag des Wettbewerbs kam, debattierte ich sämtliche Teilnehmer mit stichhaltigen Argumenten in Grund und Boden.

Die Zeitschrift „Shi Yu Chao“, was so viel wie „Zeit und Strömung“ bedeutet, wurde 1938 in Hankou (Wuhan) gegründet. Eines Tages hatten ein paar junge Intellektuelle aus der Mandschurei, die vor den japanischen Besatzern nach Shanghai geflüchtet und dann im Zuge der Evakuierungen über Nanking bis nach Hankou gelangt waren, den Beschluss gefasst, dass sie nicht mehr untätig herumsitzen wollten, während sie vom Feind umzingelt wurden. So kamen sie auf die Idee, eine Zeitschrift zu gründen, um sich und vor allem die Leser über Neuigkeiten aus aller Welt zu informieren. Sie baten meinen Vater, der sich damals im Auftrag der Regierung um die flüchtenden Landsleute kümmerte, den Posten des Herausgebers zu übernehmen und ihnen bei der Suche nach Sponsoren zu helfen. Gemeinsam trieben sie das Projekt voran und konnten schon bald die erste Ausgabe von „Zeit und Strömung“ veröffentlichen. Die Zeitschrift wurde ein sofortiger Erfolg. Bereits Ende 1938 musste sie jedoch gezwungenermaßen nach Chongqing verlegt werden, als die Japaner kurz davor standen, Hankou einzunehmen. Im Frühjahr 1939 wurde die Arbeit an der Zeitschrift wieder aufgenommen, jedoch nur für einige Wochen, bis das Haus in der Innenstadt von Chongqing, in dem die Druckerei untergebracht war, bei einem Bombenangriff vollkommen zerstört wurde. Mein Vater, der vom Tod einiger Mitarbeiter zutiefst erschüttert war, beschloss daraufhin, sowohl unser Zuhause als auch den Verlag in einen der Randbezirke zu verlegen, die nicht im Fokus der Japaner lagen. Dank seiner Kontakte zur Regierung und der Stadtverwaltung gelang es ihm schon bald, zwei benachbarte Häuser im Bezirk Shapingba zu erwerben. In einem lebten wir zusammen mit einigen Familienangehörigen und im anderen wurde der Verlag eingerichtet. Kurze Zeit später konnte mein Vater sogar noch eine gebrauchte Druckerpresse erwerben, und von da an erschien die Zeitschrift wieder regelmäßig.

Ohne Übertreibung kann man behaupten, dass Chongqing während des Krieges zum kulturellen Zentrum Chinas und der Bezirk Shapingba zur Sammelstelle der geistigen Elite avancierte. Abgesehen von Regierungsbeamten war eine große Mehrheit der Intellektuellen, Wissenschaftler, Studenten und Künstler sowie eine Vielzahl von Wirtschaftsgrößen und Angestellten hierhergekommen. Sie alle weigerten sich beharrlich, unter der diktatorischen Herrschaft der Invasoren zu leben, und waren bereit, bis zum Äußersten zu gehen, um ihren Beitrag zum dauerhaften Widerstand gegen die Japaner zu leisten. Mit ihnen wuchs auch das Bedürfnis nach aktuellen Nachrichten, so dass die Auflage der Zeitschrift sprunghaft anstieg. Mit den Flüchtlingen aus ganz China waren natürlich auch zahlreiche Journalisten nach Chongqing gekommen, die dringend Arbeit benötigten, und so war es für eine renommierte Zeitschrift wie die meines Vaters ein Leichtes, kompetente Mitarbeiter zur Erweiterung der Redaktion zu finden. Zu den von der Nordostchinesischen Gesellschaft empfohlenen Redakteuren der Gründungszeit in Hankou zählten Liu Shengbin und Deng Lianxi, die bereits schriftstellerische Erfahrung besaßen und Fremdsprachen studiert hatten. Später dann, in Shapingba, konnte mein Vater Professor Jia Wu von der Zentralen National-Universität (NCU) als Chefredakteur für die Zeitschrift gewinnen. Die meisten Redakteure und Übersetzer arbeiteten ebenfalls hauptberuflich als Professoren und Dozenten an der NCU oder an der Chongqing-Universität. Nach vier bis fünf Jahren waren die Anforderungen und das Arbeitsaufkommen in den einzelnen Themenressorts derartig gestiegen, dass der Verlag sogar Stellenanzeigen druckte, um besonders qualifizierte neue Mitarbeiter zu finden. Unter den Neuzugängen befanden sich Redakteure und Übersetzer wie He Xin, Wu Xizhen und Wang Yiding, die in späteren Jahren auf Taiwan maßgebliche Beiträge in den Bereichen Pädagogik, Kultur und Wirtschaft leisten sollten. Die Arbeit an der Zeitschrift „Zeit und Strömung“ war jedoch für diese jungen Menschen ihre erste Festanstellung nach ihrem erfolgreichen Hochschulabschluss.

Aktualität lautete das Credo der Zeitschrift, und das bezog sich vor allem auf konkrete Informationen und das frühzeitige Erkennen von Entwicklungen im In- und Ausland. Um die neuesten Informationen aus aller Welt zu erhalten, entsandte die Zeitschrift Herrn Liu Shengbin als Korrespondenten nach London und Herrn Deng Lianxi nach Washington. Ihre Aufgabe bestand darin, wichtige Nachrichten, Analysen und Kommentare dortiger Medien zu sammeln und per Post oder in sehr dringenden Fällen per Telegramm an den Korrespondenten der Zeitschrift, Herrn Shen Yuwen, nach Indien zu schicken. Dieser wiederum schickte die Informationen per Linienflug über den Himalaya nach Chongqing. Es dauerte etwa sieben Tage, bis die Post in der Redaktion ankam. Dann herrschte dort stets hektische Betriebsamkeit, denn das Material musste im Eiltempo übersetzt werden, damit die Journalisten und Autoren damit arbeiten konnten. Dank dieser Strategie gelang es meinem Vater, die Zeitschrift immer auf dem neuesten Wissensstand zu halten und des Öfteren noch vor den großen Tageszeitungen über politische oder gesellschaftliche Tendenzen zu berichten, obwohl seine „Zeit und Strömung“ nur alle zwei Wochen erschien.

Im bergigen Hinterland Chinas war die „Zeit und Strömung“ eine überaus begehrte Zeitschrift, sowohl in Regierungskreisen als auch bei der Bevölkerung. Fast jede Ausgabe war in kürzester Zeit ausverkauft. Viele waren der Ansicht, dass diese Zeitschrift in einem Kriegsgebiet aus Feuer und Asche, welches durch die verschiedenen Frontverläufe quasi zum Gefängnis geworden war, das letzte noch verbliebene Fenster zur Außenwelt war. Kurz vor und insbesondere seit Kriegseintritt der USA erschien die Zeitschrift nicht selten in vier oder fünf Auflagen. Die Druckmaschinen liefen permanent auf Hochtouren, so dass einer der Schriftsetzer irgendwann laut aufstöhnte und dann vor sich hin jammerte, dass er zum Essen gar nicht mehr nach Hause gehen müsse, da er sich seine Spiegeleier auf der überhitzten Druckerpresse braten könne. Die Redakteure wählten die von ihnen verwendeten Informationen mit Scharfsinn und Weitsichtigkeit aus. Der Inhalt sämtlicher Nachrichten und Berichte musste höchsten qualitativen Anforderungen genügen und die Übersetzungen mussten nicht nur akkurat ausgeführt werden, sondern auch einen Textfluss besitzen, der angenehm zu lesen war. Diskussionen und Kommentare hatten stets auf Fakten zu basieren und mussten mit Humor und Weitblick geführt werden. Alle diese Kriterien trugen zu dem hohen Niveau der Zeitschrift bei und machten sie in jener Zeit zu einer konkurrenzlosen Informationsquelle.

Das Verlagsbüro der Zeitschrift war nur 50 Meter von unserem Haus entfernt. Dazwischen lag nur noch ein Reisfeld, weshalb wir abends von zu Hause die hell erleuchteten Räume sehen konnten, wenn kein Fliegeralarm herrschte. Vor jeder Drucklegung las mein Vater sämtliche Manuskripte sorgfältig durch und saß deshalb häufig bis spät in die Nacht in seinem Büro. Manchmal übernachtete er sogar dort, damit er überhaupt noch ein wenig Schlaf bekam, bevor der nächste Arbeitstag wieder in aller Frühe begann. Für uns daheim erschien das nächtliche Licht im Büro mit der Zeit die Anwesenheit unseres Vaters irgendwie zu ersetzen, und so begann meine Mutter, wenn sie ihr eigenes Tagewerk verrichtet hatte und gegenüber die Lichter brannten, damit, sich ans Fenster zu setzen. Dort verbrachte sie dann den restlichen Abend und schaute auf das warme Licht in der Dunkelheit. Vielleicht war es für die Menschen ihrer Generation eine ganz eigene Art, den Gefühlen, die sie füreinander hegten, Ausdruck zu verleihen, da es nicht üblich war, diese offen zu äußern. Meistens saß sie dort bis ein oder zwei Uhr morgens, wenn die Lichter endlich ausgingen.

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